Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Debatten über die soziale Frage.

Dinge doch nicht besser. Durch Begünstigung der Auswanderung ließe sich
dieses Übel mildern. Aber dein Kardinalübel steht man doch ratlos gegenüber.
Als dieses Kardinalübel bezeichnete Hitze die Expropriation der Arbeit durch
die Maschine und die Expropriation der Mittelklassen durch deu Zwischenhandel.
Hier kommt eine inhaltsschwere Frage: Ist die Maschine wirklich ein Segen
für unsre Zeit? Der Sozialpolitiker kann es kaum noch bejahen. Ist doch die
Arbeit nicht mehr produktiv; sie deckt nicht mehr die Kosten der Erziehung und
den Ausfall an Krankheiten. Überall sind darum die Armenbudgets überlastet.

Gewiß ist es recht gut, was der katholische Sozialpolitik^ vorschlug, aus
der Not herauszukommen: gesetzlichen Schutz der Arbeiter gegen persönliche Aus¬
beutung; "man soll ihm seine Arbeit ablaufen können, aber seine Person muß
frei bleiben"; den Eltern sollen die Kinder nicht vorzeitig entzogen werden
dürfen; der Normalnrbeitstag muß erstrebt werden.

Ob aber, wie behauptet wurde, der "Kulturkampf" die Ursache ist, daß
alle Bestrebungen nach dieser Richtung stocken, möchten wir doch ernstlich be¬
zweifeln. Hier liegt vielmehr abermals ein Privatinteresse anch der katholischen
Arbeitgeber vor, welches dem Gemeininteresse schroff gegenübersteht. Ohne
Zweisel ist der Normalarbeitstag zunächst ein Hauptmittel, um die Arbeit wieder
produktiv zu machen. Allein welche Jnteressensumme auf feiten der Arbeitgeber
steht seiner Einführung gegenüber!

Aber uicht uur der Normalarbeitstag, anch die Frnuenfrage ist hier von
höchster Bedeutung; auch darüber sind sich die katholischen Sozialpolitiker klar,
und Pater Weiß aus Grnz äußerte sich über diesen Punkt mit ganz besondrer
Feinheit. Er ging zwar ans von der allgemein notwendigen Umkehr; aber seine
geistreiche und wahrhaft populäre Motivirung kauu man sich schon gefallen lassen.
Indeß anch seine Ausführungen tränkten an dem Fehler, daß sie erst erziehen
wollen -- jetzt, wo die Dinge bereits in reißenden Fluß sind und der energischen
und umfassenden Einwirkung dringend bedürfen. Auch Nur stimmen überein mit
der Wahrheit des Spruchs der "alten Väter": Schneckeulebeu ist das beste
Leben. Aber wenn nun das Leben selbst mit tnnsend Ketten hinauszieht, wenn
alle Verhältnisse ans dem Hause hinausdrängen, wie dies thatsächlich ist? Da
hilft selbst die Erziehung nicht mehr, die ja ohnehin eine langwierige sein würde.
Da muß einfach der praktische Sozialpolitiker sich hineinfinden als in ein Ge¬
gebenes, das er nicht überwinden kann. Er muß es seinerseits benutzen. Über¬
haupt ist wohl zu bedenken, daß dieses Streben aus dem Hause hinaus ein
Symptom der ganzen sozialen Bewegung ist. Neue feste Verhältnisse, die
sich sicher auch aus der gegenwärtigen Bewegung herausgestalten werden, werden
anch uach dieser Richtung hin wieder festigend und reinigend wirken. Sehr richtig
bemerkt Pater Weiß, daß die Schärfe der sozialem Frage aus der Auflösung
der Ordnung und ans der Überwuchernng der sogenannten Autonomie hervor¬
geht. Aber diese Erscheinung ist an sich doch auch uur ein Symptom der Be-


Debatten über die soziale Frage.

Dinge doch nicht besser. Durch Begünstigung der Auswanderung ließe sich
dieses Übel mildern. Aber dein Kardinalübel steht man doch ratlos gegenüber.
Als dieses Kardinalübel bezeichnete Hitze die Expropriation der Arbeit durch
die Maschine und die Expropriation der Mittelklassen durch deu Zwischenhandel.
Hier kommt eine inhaltsschwere Frage: Ist die Maschine wirklich ein Segen
für unsre Zeit? Der Sozialpolitiker kann es kaum noch bejahen. Ist doch die
Arbeit nicht mehr produktiv; sie deckt nicht mehr die Kosten der Erziehung und
den Ausfall an Krankheiten. Überall sind darum die Armenbudgets überlastet.

Gewiß ist es recht gut, was der katholische Sozialpolitik^ vorschlug, aus
der Not herauszukommen: gesetzlichen Schutz der Arbeiter gegen persönliche Aus¬
beutung; „man soll ihm seine Arbeit ablaufen können, aber seine Person muß
frei bleiben"; den Eltern sollen die Kinder nicht vorzeitig entzogen werden
dürfen; der Normalnrbeitstag muß erstrebt werden.

Ob aber, wie behauptet wurde, der „Kulturkampf" die Ursache ist, daß
alle Bestrebungen nach dieser Richtung stocken, möchten wir doch ernstlich be¬
zweifeln. Hier liegt vielmehr abermals ein Privatinteresse anch der katholischen
Arbeitgeber vor, welches dem Gemeininteresse schroff gegenübersteht. Ohne
Zweisel ist der Normalarbeitstag zunächst ein Hauptmittel, um die Arbeit wieder
produktiv zu machen. Allein welche Jnteressensumme auf feiten der Arbeitgeber
steht seiner Einführung gegenüber!

Aber uicht uur der Normalarbeitstag, anch die Frnuenfrage ist hier von
höchster Bedeutung; auch darüber sind sich die katholischen Sozialpolitiker klar,
und Pater Weiß aus Grnz äußerte sich über diesen Punkt mit ganz besondrer
Feinheit. Er ging zwar ans von der allgemein notwendigen Umkehr; aber seine
geistreiche und wahrhaft populäre Motivirung kauu man sich schon gefallen lassen.
Indeß anch seine Ausführungen tränkten an dem Fehler, daß sie erst erziehen
wollen — jetzt, wo die Dinge bereits in reißenden Fluß sind und der energischen
und umfassenden Einwirkung dringend bedürfen. Auch Nur stimmen überein mit
der Wahrheit des Spruchs der „alten Väter": Schneckeulebeu ist das beste
Leben. Aber wenn nun das Leben selbst mit tnnsend Ketten hinauszieht, wenn
alle Verhältnisse ans dem Hause hinausdrängen, wie dies thatsächlich ist? Da
hilft selbst die Erziehung nicht mehr, die ja ohnehin eine langwierige sein würde.
Da muß einfach der praktische Sozialpolitiker sich hineinfinden als in ein Ge¬
gebenes, das er nicht überwinden kann. Er muß es seinerseits benutzen. Über¬
haupt ist wohl zu bedenken, daß dieses Streben aus dem Hause hinaus ein
Symptom der ganzen sozialen Bewegung ist. Neue feste Verhältnisse, die
sich sicher auch aus der gegenwärtigen Bewegung herausgestalten werden, werden
anch uach dieser Richtung hin wieder festigend und reinigend wirken. Sehr richtig
bemerkt Pater Weiß, daß die Schärfe der sozialem Frage aus der Auflösung
der Ordnung und ans der Überwuchernng der sogenannten Autonomie hervor¬
geht. Aber diese Erscheinung ist an sich doch auch uur ein Symptom der Be-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0440" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/194418"/>
          <fw type="header" place="top"> Debatten über die soziale Frage.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1630" prev="#ID_1629"> Dinge doch nicht besser. Durch Begünstigung der Auswanderung ließe sich<lb/>
dieses Übel mildern. Aber dein Kardinalübel steht man doch ratlos gegenüber.<lb/>
Als dieses Kardinalübel bezeichnete Hitze die Expropriation der Arbeit durch<lb/>
die Maschine und die Expropriation der Mittelklassen durch deu Zwischenhandel.<lb/>
Hier kommt eine inhaltsschwere Frage: Ist die Maschine wirklich ein Segen<lb/>
für unsre Zeit? Der Sozialpolitiker kann es kaum noch bejahen. Ist doch die<lb/>
Arbeit nicht mehr produktiv; sie deckt nicht mehr die Kosten der Erziehung und<lb/>
den Ausfall an Krankheiten. Überall sind darum die Armenbudgets überlastet.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1631"> Gewiß ist es recht gut, was der katholische Sozialpolitik^ vorschlug, aus<lb/>
der Not herauszukommen: gesetzlichen Schutz der Arbeiter gegen persönliche Aus¬<lb/>
beutung; &#x201E;man soll ihm seine Arbeit ablaufen können, aber seine Person muß<lb/>
frei bleiben"; den Eltern sollen die Kinder nicht vorzeitig entzogen werden<lb/>
dürfen; der Normalnrbeitstag muß erstrebt werden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1632"> Ob aber, wie behauptet wurde, der &#x201E;Kulturkampf" die Ursache ist, daß<lb/>
alle Bestrebungen nach dieser Richtung stocken, möchten wir doch ernstlich be¬<lb/>
zweifeln. Hier liegt vielmehr abermals ein Privatinteresse anch der katholischen<lb/>
Arbeitgeber vor, welches dem Gemeininteresse schroff gegenübersteht. Ohne<lb/>
Zweisel ist der Normalarbeitstag zunächst ein Hauptmittel, um die Arbeit wieder<lb/>
produktiv zu machen. Allein welche Jnteressensumme auf feiten der Arbeitgeber<lb/>
steht seiner Einführung gegenüber!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1633" next="#ID_1634"> Aber uicht uur der Normalarbeitstag, anch die Frnuenfrage ist hier von<lb/>
höchster Bedeutung; auch darüber sind sich die katholischen Sozialpolitiker klar,<lb/>
und Pater Weiß aus Grnz äußerte sich über diesen Punkt mit ganz besondrer<lb/>
Feinheit. Er ging zwar ans von der allgemein notwendigen Umkehr; aber seine<lb/>
geistreiche und wahrhaft populäre Motivirung kauu man sich schon gefallen lassen.<lb/>
Indeß anch seine Ausführungen tränkten an dem Fehler, daß sie erst erziehen<lb/>
wollen &#x2014; jetzt, wo die Dinge bereits in reißenden Fluß sind und der energischen<lb/>
und umfassenden Einwirkung dringend bedürfen. Auch Nur stimmen überein mit<lb/>
der Wahrheit des Spruchs der &#x201E;alten Väter": Schneckeulebeu ist das beste<lb/>
Leben. Aber wenn nun das Leben selbst mit tnnsend Ketten hinauszieht, wenn<lb/>
alle Verhältnisse ans dem Hause hinausdrängen, wie dies thatsächlich ist? Da<lb/>
hilft selbst die Erziehung nicht mehr, die ja ohnehin eine langwierige sein würde.<lb/>
Da muß einfach der praktische Sozialpolitiker sich hineinfinden als in ein Ge¬<lb/>
gebenes, das er nicht überwinden kann. Er muß es seinerseits benutzen. Über¬<lb/>
haupt ist wohl zu bedenken, daß dieses Streben aus dem Hause hinaus ein<lb/>
Symptom der ganzen sozialen Bewegung ist. Neue feste Verhältnisse, die<lb/>
sich sicher auch aus der gegenwärtigen Bewegung herausgestalten werden, werden<lb/>
anch uach dieser Richtung hin wieder festigend und reinigend wirken. Sehr richtig<lb/>
bemerkt Pater Weiß, daß die Schärfe der sozialem Frage aus der Auflösung<lb/>
der Ordnung und ans der Überwuchernng der sogenannten Autonomie hervor¬<lb/>
geht. Aber diese Erscheinung ist an sich doch auch uur ein Symptom der Be-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0440] Debatten über die soziale Frage. Dinge doch nicht besser. Durch Begünstigung der Auswanderung ließe sich dieses Übel mildern. Aber dein Kardinalübel steht man doch ratlos gegenüber. Als dieses Kardinalübel bezeichnete Hitze die Expropriation der Arbeit durch die Maschine und die Expropriation der Mittelklassen durch deu Zwischenhandel. Hier kommt eine inhaltsschwere Frage: Ist die Maschine wirklich ein Segen für unsre Zeit? Der Sozialpolitiker kann es kaum noch bejahen. Ist doch die Arbeit nicht mehr produktiv; sie deckt nicht mehr die Kosten der Erziehung und den Ausfall an Krankheiten. Überall sind darum die Armenbudgets überlastet. Gewiß ist es recht gut, was der katholische Sozialpolitik^ vorschlug, aus der Not herauszukommen: gesetzlichen Schutz der Arbeiter gegen persönliche Aus¬ beutung; „man soll ihm seine Arbeit ablaufen können, aber seine Person muß frei bleiben"; den Eltern sollen die Kinder nicht vorzeitig entzogen werden dürfen; der Normalnrbeitstag muß erstrebt werden. Ob aber, wie behauptet wurde, der „Kulturkampf" die Ursache ist, daß alle Bestrebungen nach dieser Richtung stocken, möchten wir doch ernstlich be¬ zweifeln. Hier liegt vielmehr abermals ein Privatinteresse anch der katholischen Arbeitgeber vor, welches dem Gemeininteresse schroff gegenübersteht. Ohne Zweisel ist der Normalarbeitstag zunächst ein Hauptmittel, um die Arbeit wieder produktiv zu machen. Allein welche Jnteressensumme auf feiten der Arbeitgeber steht seiner Einführung gegenüber! Aber uicht uur der Normalarbeitstag, anch die Frnuenfrage ist hier von höchster Bedeutung; auch darüber sind sich die katholischen Sozialpolitiker klar, und Pater Weiß aus Grnz äußerte sich über diesen Punkt mit ganz besondrer Feinheit. Er ging zwar ans von der allgemein notwendigen Umkehr; aber seine geistreiche und wahrhaft populäre Motivirung kauu man sich schon gefallen lassen. Indeß anch seine Ausführungen tränkten an dem Fehler, daß sie erst erziehen wollen — jetzt, wo die Dinge bereits in reißenden Fluß sind und der energischen und umfassenden Einwirkung dringend bedürfen. Auch Nur stimmen überein mit der Wahrheit des Spruchs der „alten Väter": Schneckeulebeu ist das beste Leben. Aber wenn nun das Leben selbst mit tnnsend Ketten hinauszieht, wenn alle Verhältnisse ans dem Hause hinausdrängen, wie dies thatsächlich ist? Da hilft selbst die Erziehung nicht mehr, die ja ohnehin eine langwierige sein würde. Da muß einfach der praktische Sozialpolitiker sich hineinfinden als in ein Ge¬ gebenes, das er nicht überwinden kann. Er muß es seinerseits benutzen. Über¬ haupt ist wohl zu bedenken, daß dieses Streben aus dem Hause hinaus ein Symptom der ganzen sozialen Bewegung ist. Neue feste Verhältnisse, die sich sicher auch aus der gegenwärtigen Bewegung herausgestalten werden, werden anch uach dieser Richtung hin wieder festigend und reinigend wirken. Sehr richtig bemerkt Pater Weiß, daß die Schärfe der sozialem Frage aus der Auflösung der Ordnung und ans der Überwuchernng der sogenannten Autonomie hervor¬ geht. Aber diese Erscheinung ist an sich doch auch uur ein Symptom der Be-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/440
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/440>, abgerufen am 29.06.2024.