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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

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Debatten über die soziale Frage.

solche Einsicht gegründete theoretische und praktische Thätigkeit ist solcher Er¬
scheinung gegenüber für den Gesammtverlauf der Dinge aussichtslos.

Vortrefflich war unbedingt, was der Kaplan Hitze über die gegenwärtige
UnProduktivität der Industrie, über die sozialzerrüttende Einwirkung der Maschine
sagte. Unbedingt richtig war es, als er sagte, daß die Lösung der sozialen
Frage die Aufgabe der nächsten Zukunft sei. Schars und richtig war auch die
Charakteristik des Verhältnisses des Arbeiters, der als Mensch nichts gelte und
nnr das Ansehen der Waare genieße; er ist ein Objekt des Marktes. Nicht
minder scharf, und deu Bestrebungen Hitzes selbst entsprechend, war die Ver¬
urteilung der Aufhebung aller persönlichen Beziehungen zwischen Arbeitgeber
und Arbeiter. Hier berührte Hitze auch ein Moment, das er selbst in seinen
praktischen Bestrebungen noch vernachlässigt zu bilden scheint. Er sagte nämlich:
Obgleich der Arbeiter und seine Arbeit nur als Waare betrachtet und behandelt
wird, so sind beide von letzterer doch unendlich verschieden, schon deshalb, weil
man die überflüssige Arbeit in schlechten Zeiten nicht für die guten Zeiten auf¬
speichern kann.

In der That dürsten hier jene oben bezeichneten Bestrebungen des Ver¬
bandes "Arbeiterwohl" ihre Hauptlücke haben. Deal alles, was dort vorgesorgt
ist für den Arbeiter, der eine Stellung hat, Einfluß sogar auf die Fabrik¬
leitung, was nützt das dem, der in schlechten Zeiten, wo alles stockt, entlassen
wird? Er liegt eben auf der Straße. Darin liegt aber weit mehr als in
allen sonstigen Punkten der Arbeiterverhältnisse das Furchtbare der sozialen
Frage. Selbst schlechte und ärmliche Verhältnisse lassen sich lange ertragen und
selbst überwinden, wenn wenigstens etwas erworben wird; aber die Unsicherheit
der Verhältnisse einer so großen Menge von Menschen, eines großen Prozent¬
satzes der Nation -- das ist die eigentliche Achillesferse unsers sozialen Be¬
standes. Kann aber dagegen ein einzelner Fabrikbesitzer etwas thun? Er selbst
hängt ja ab von der Konkurrenz und Konjunktur; gelingt es ihm, trotz der
erstern noch die bei ihm thätigen Arbeiter ans eine bessere soziale Stufe zu
heben, gegenüber der Konjunktur, die hervorgerufen ist durch Handelsstockung
und Überproduktion, ist er sicher ohnmächtig. Er wird, um sich nicht selbst zu
schädigen, Arbeiter entlassen müssen, und für die Entlassener hört umsomehr
alles, was in dem engen Kreise des Fabrikvcrbandes Gutes für sie geschaffen
wurde, ans. Die soziale Not wird für sie also umso härter. Da mag dann
freilich die christliche Cnritas ein wenig lindern. Aber wenig hilft nicht viel.
Auf diesen Punkt käme es also bei ernsthafter Thätigkeit zur Linderung der
sozialen Not vor allem an.

Ohne Zweifel ist dies auch den katholischen Sozialpolitikern nicht entgangen.
Hitze sprach es ja auch ans, daß der Arbeitsmarkt zur Überproduktion neige;
er bezeichnete die Volksvermehrung als zu stark. Aber in Frankreich, wo die
Volksvermehrung weit hinter dem deutschen Verhältnis zurückbleibt, sind die


Debatten über die soziale Frage.

solche Einsicht gegründete theoretische und praktische Thätigkeit ist solcher Er¬
scheinung gegenüber für den Gesammtverlauf der Dinge aussichtslos.

Vortrefflich war unbedingt, was der Kaplan Hitze über die gegenwärtige
UnProduktivität der Industrie, über die sozialzerrüttende Einwirkung der Maschine
sagte. Unbedingt richtig war es, als er sagte, daß die Lösung der sozialen
Frage die Aufgabe der nächsten Zukunft sei. Schars und richtig war auch die
Charakteristik des Verhältnisses des Arbeiters, der als Mensch nichts gelte und
nnr das Ansehen der Waare genieße; er ist ein Objekt des Marktes. Nicht
minder scharf, und deu Bestrebungen Hitzes selbst entsprechend, war die Ver¬
urteilung der Aufhebung aller persönlichen Beziehungen zwischen Arbeitgeber
und Arbeiter. Hier berührte Hitze auch ein Moment, das er selbst in seinen
praktischen Bestrebungen noch vernachlässigt zu bilden scheint. Er sagte nämlich:
Obgleich der Arbeiter und seine Arbeit nur als Waare betrachtet und behandelt
wird, so sind beide von letzterer doch unendlich verschieden, schon deshalb, weil
man die überflüssige Arbeit in schlechten Zeiten nicht für die guten Zeiten auf¬
speichern kann.

In der That dürsten hier jene oben bezeichneten Bestrebungen des Ver¬
bandes „Arbeiterwohl" ihre Hauptlücke haben. Deal alles, was dort vorgesorgt
ist für den Arbeiter, der eine Stellung hat, Einfluß sogar auf die Fabrik¬
leitung, was nützt das dem, der in schlechten Zeiten, wo alles stockt, entlassen
wird? Er liegt eben auf der Straße. Darin liegt aber weit mehr als in
allen sonstigen Punkten der Arbeiterverhältnisse das Furchtbare der sozialen
Frage. Selbst schlechte und ärmliche Verhältnisse lassen sich lange ertragen und
selbst überwinden, wenn wenigstens etwas erworben wird; aber die Unsicherheit
der Verhältnisse einer so großen Menge von Menschen, eines großen Prozent¬
satzes der Nation — das ist die eigentliche Achillesferse unsers sozialen Be¬
standes. Kann aber dagegen ein einzelner Fabrikbesitzer etwas thun? Er selbst
hängt ja ab von der Konkurrenz und Konjunktur; gelingt es ihm, trotz der
erstern noch die bei ihm thätigen Arbeiter ans eine bessere soziale Stufe zu
heben, gegenüber der Konjunktur, die hervorgerufen ist durch Handelsstockung
und Überproduktion, ist er sicher ohnmächtig. Er wird, um sich nicht selbst zu
schädigen, Arbeiter entlassen müssen, und für die Entlassener hört umsomehr
alles, was in dem engen Kreise des Fabrikvcrbandes Gutes für sie geschaffen
wurde, ans. Die soziale Not wird für sie also umso härter. Da mag dann
freilich die christliche Cnritas ein wenig lindern. Aber wenig hilft nicht viel.
Auf diesen Punkt käme es also bei ernsthafter Thätigkeit zur Linderung der
sozialen Not vor allem an.

Ohne Zweifel ist dies auch den katholischen Sozialpolitikern nicht entgangen.
Hitze sprach es ja auch ans, daß der Arbeitsmarkt zur Überproduktion neige;
er bezeichnete die Volksvermehrung als zu stark. Aber in Frankreich, wo die
Volksvermehrung weit hinter dem deutschen Verhältnis zurückbleibt, sind die


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[0439] Debatten über die soziale Frage. solche Einsicht gegründete theoretische und praktische Thätigkeit ist solcher Er¬ scheinung gegenüber für den Gesammtverlauf der Dinge aussichtslos. Vortrefflich war unbedingt, was der Kaplan Hitze über die gegenwärtige UnProduktivität der Industrie, über die sozialzerrüttende Einwirkung der Maschine sagte. Unbedingt richtig war es, als er sagte, daß die Lösung der sozialen Frage die Aufgabe der nächsten Zukunft sei. Schars und richtig war auch die Charakteristik des Verhältnisses des Arbeiters, der als Mensch nichts gelte und nnr das Ansehen der Waare genieße; er ist ein Objekt des Marktes. Nicht minder scharf, und deu Bestrebungen Hitzes selbst entsprechend, war die Ver¬ urteilung der Aufhebung aller persönlichen Beziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeiter. Hier berührte Hitze auch ein Moment, das er selbst in seinen praktischen Bestrebungen noch vernachlässigt zu bilden scheint. Er sagte nämlich: Obgleich der Arbeiter und seine Arbeit nur als Waare betrachtet und behandelt wird, so sind beide von letzterer doch unendlich verschieden, schon deshalb, weil man die überflüssige Arbeit in schlechten Zeiten nicht für die guten Zeiten auf¬ speichern kann. In der That dürsten hier jene oben bezeichneten Bestrebungen des Ver¬ bandes „Arbeiterwohl" ihre Hauptlücke haben. Deal alles, was dort vorgesorgt ist für den Arbeiter, der eine Stellung hat, Einfluß sogar auf die Fabrik¬ leitung, was nützt das dem, der in schlechten Zeiten, wo alles stockt, entlassen wird? Er liegt eben auf der Straße. Darin liegt aber weit mehr als in allen sonstigen Punkten der Arbeiterverhältnisse das Furchtbare der sozialen Frage. Selbst schlechte und ärmliche Verhältnisse lassen sich lange ertragen und selbst überwinden, wenn wenigstens etwas erworben wird; aber die Unsicherheit der Verhältnisse einer so großen Menge von Menschen, eines großen Prozent¬ satzes der Nation — das ist die eigentliche Achillesferse unsers sozialen Be¬ standes. Kann aber dagegen ein einzelner Fabrikbesitzer etwas thun? Er selbst hängt ja ab von der Konkurrenz und Konjunktur; gelingt es ihm, trotz der erstern noch die bei ihm thätigen Arbeiter ans eine bessere soziale Stufe zu heben, gegenüber der Konjunktur, die hervorgerufen ist durch Handelsstockung und Überproduktion, ist er sicher ohnmächtig. Er wird, um sich nicht selbst zu schädigen, Arbeiter entlassen müssen, und für die Entlassener hört umsomehr alles, was in dem engen Kreise des Fabrikvcrbandes Gutes für sie geschaffen wurde, ans. Die soziale Not wird für sie also umso härter. Da mag dann freilich die christliche Cnritas ein wenig lindern. Aber wenig hilft nicht viel. Auf diesen Punkt käme es also bei ernsthafter Thätigkeit zur Linderung der sozialen Not vor allem an. Ohne Zweifel ist dies auch den katholischen Sozialpolitikern nicht entgangen. Hitze sprach es ja auch ans, daß der Arbeitsmarkt zur Überproduktion neige; er bezeichnete die Volksvermehrung als zu stark. Aber in Frankreich, wo die Volksvermehrung weit hinter dem deutschen Verhältnis zurückbleibt, sind die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/439>, abgerufen am 28.09.2024.