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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

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Der Parlamentarismus, Gambetta und Frankreich.

er neue Abschnitt in der Geschichte der französischen Republik,
den die Wiedereröffnung der Kammern bezeichnet, giebt uns Ver¬
anlassung, an einem Rückblick ans die zwölf Jahre des Lebens
dieser Republik zu zeigen, ob der Parlamentarismus und ob demo¬
kratische Regierungsgrundsätze sich für Frankreich eignen, und da
Gambetta in diesen Fragen eine Hauptrolle gespielt hat, so wird auch auf ihn
weiteres Licht fallen als in unsrer letzten Besprechung der Angelegenheit. An
die Spitze stellen wir die Behauptung: der Parlamentarismus taugt, wie für
keinen festländischen Großstaat, so auch uicht für Frankreich. Er hat Frankreich im
Innern haltlos und wenig fruchtbar an Reformen, nach anßen hin unzuverlässig
und mehr oder minder einflußlos gemacht, indem die Parteien zur Begründung
dauernder ministerieller Kammermehrheiten unfähig waren und blieben; die demo¬
kratischen Regierungsgrundsätze aber schwachem die Staatsgewalt und führten,
indem sie kein Gegengewicht gegen das immer weiter Nachlinksgleiten der
Gesetzgebung boten, zu Zuständen, in denen man über kurz oder laug vor die Wahl
zwischen dem Chaos der Anarchie und der Diktatur gestellt sein wird, die sich
vermutlich bald in Monarchie verwandeln würde. Als Beweis für die erste
dieser Behauptungen könnte die einfache Thatsache genügen, daß "das erste der
drei seit der Septemberkatastrophe von 1870 gewühlten französischen Parlamente
im Vorsitz des Ministeriums acht, das zweite fünf und das dritte binnen zehn
Monaten drei Veründernngen herbeigeführt hat, daß binnen zwölf Jahren zwei
ultramontane und drei republikanische Perioden über Fraukreich hinweggegangen
sind, daß während des auf den Kommuneausstand folgenden Jahrzehnts kein
einziges sozialreformatorisches Gesetz zustande gekommen ist, daß ferner alle Ver¬
suche zum Abschlüsse vou Allianzen und zur Wiederherstellung von Frankreichs


Grcnzlwten IV. 1882. 53


Der Parlamentarismus, Gambetta und Frankreich.

er neue Abschnitt in der Geschichte der französischen Republik,
den die Wiedereröffnung der Kammern bezeichnet, giebt uns Ver¬
anlassung, an einem Rückblick ans die zwölf Jahre des Lebens
dieser Republik zu zeigen, ob der Parlamentarismus und ob demo¬
kratische Regierungsgrundsätze sich für Frankreich eignen, und da
Gambetta in diesen Fragen eine Hauptrolle gespielt hat, so wird auch auf ihn
weiteres Licht fallen als in unsrer letzten Besprechung der Angelegenheit. An
die Spitze stellen wir die Behauptung: der Parlamentarismus taugt, wie für
keinen festländischen Großstaat, so auch uicht für Frankreich. Er hat Frankreich im
Innern haltlos und wenig fruchtbar an Reformen, nach anßen hin unzuverlässig
und mehr oder minder einflußlos gemacht, indem die Parteien zur Begründung
dauernder ministerieller Kammermehrheiten unfähig waren und blieben; die demo¬
kratischen Regierungsgrundsätze aber schwachem die Staatsgewalt und führten,
indem sie kein Gegengewicht gegen das immer weiter Nachlinksgleiten der
Gesetzgebung boten, zu Zuständen, in denen man über kurz oder laug vor die Wahl
zwischen dem Chaos der Anarchie und der Diktatur gestellt sein wird, die sich
vermutlich bald in Monarchie verwandeln würde. Als Beweis für die erste
dieser Behauptungen könnte die einfache Thatsache genügen, daß „das erste der
drei seit der Septemberkatastrophe von 1870 gewühlten französischen Parlamente
im Vorsitz des Ministeriums acht, das zweite fünf und das dritte binnen zehn
Monaten drei Veründernngen herbeigeführt hat, daß binnen zwölf Jahren zwei
ultramontane und drei republikanische Perioden über Fraukreich hinweggegangen
sind, daß während des auf den Kommuneausstand folgenden Jahrzehnts kein
einziges sozialreformatorisches Gesetz zustande gekommen ist, daß ferner alle Ver¬
suche zum Abschlüsse vou Allianzen und zur Wiederherstellung von Frankreichs


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[0421] [Abbildung] Der Parlamentarismus, Gambetta und Frankreich. er neue Abschnitt in der Geschichte der französischen Republik, den die Wiedereröffnung der Kammern bezeichnet, giebt uns Ver¬ anlassung, an einem Rückblick ans die zwölf Jahre des Lebens dieser Republik zu zeigen, ob der Parlamentarismus und ob demo¬ kratische Regierungsgrundsätze sich für Frankreich eignen, und da Gambetta in diesen Fragen eine Hauptrolle gespielt hat, so wird auch auf ihn weiteres Licht fallen als in unsrer letzten Besprechung der Angelegenheit. An die Spitze stellen wir die Behauptung: der Parlamentarismus taugt, wie für keinen festländischen Großstaat, so auch uicht für Frankreich. Er hat Frankreich im Innern haltlos und wenig fruchtbar an Reformen, nach anßen hin unzuverlässig und mehr oder minder einflußlos gemacht, indem die Parteien zur Begründung dauernder ministerieller Kammermehrheiten unfähig waren und blieben; die demo¬ kratischen Regierungsgrundsätze aber schwachem die Staatsgewalt und führten, indem sie kein Gegengewicht gegen das immer weiter Nachlinksgleiten der Gesetzgebung boten, zu Zuständen, in denen man über kurz oder laug vor die Wahl zwischen dem Chaos der Anarchie und der Diktatur gestellt sein wird, die sich vermutlich bald in Monarchie verwandeln würde. Als Beweis für die erste dieser Behauptungen könnte die einfache Thatsache genügen, daß „das erste der drei seit der Septemberkatastrophe von 1870 gewühlten französischen Parlamente im Vorsitz des Ministeriums acht, das zweite fünf und das dritte binnen zehn Monaten drei Veründernngen herbeigeführt hat, daß binnen zwölf Jahren zwei ultramontane und drei republikanische Perioden über Fraukreich hinweggegangen sind, daß während des auf den Kommuneausstand folgenden Jahrzehnts kein einziges sozialreformatorisches Gesetz zustande gekommen ist, daß ferner alle Ver¬ suche zum Abschlüsse vou Allianzen und zur Wiederherstellung von Frankreichs Grcnzlwten IV. 1882. 53

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/421>, abgerufen am 28.09.2024.