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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

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ist es, wenn von gewisser Seite das Schönste und Beste der deutschen Literatur,
welches die Schule den Mädchen bietet, als tenschheitsverderbend bezeichnet wird.
Der Ernst und der erhabene Zusammenhang, in welchem dort der Begriff der
Liebe erscheint, ist wie weniges geeignet, in den jugendlichen Seelen frühzeitig
einen Damm gegen Gemeinheit wie gegen Überschwänglichleit auszuwerfen. Möge
die Familie vor allem im Vereine mit der Schule, welche bei Anlegung nud Führung
von Schülerinnenbibliotheken die sogenannten Jugendschriften nicht gewissenhaft
genug prüfen kann, die Gesundheit der Privatlektüre der Mädchen sicherstellen!

Praktisch steht der Anmut, welche freilich unwillkürlich sein soll, die beim
weiblichen Geschlechte so ausgebildete Neigung zum Putze nicht fern. Sie ent¬
stammt dem oben erwähnten Wohlgefallen an schönen und harmonischen Ver¬
hältnissen -- wir erinnern nur an Gürtel und Halsschmuck als Mittel der Hervor¬
hebung des "prvportionellen Dreiklangs in der menschlichen Figur" --, dient
indeß vielleicht in mehr Füllen zur Steigerung und Veredlung des eigne": Lebens¬
gefühls als zur Befriedigung der Eitelkeit. Es wäre daher thöricht, diesen Hang
unterdrücken zu wollen. Wie allen sinnlichen Bedürfnissen und Neigungen, so ist
auch dein Pntzeifer ein "liberaler Spielraum," um mit Rümelin zu reden, "offen
zu halten," nur die Ausschreitungen desselben, die Putzsucht in ihrer Mißachtung
des standesgemäßen und die Geschmacklosigkeit im Putz (vgl. das treffliche
Buch von Matthias "Der menschliche Schmuck") sind zu bekämpfen. Mag dann
immerhin noch etwas Wunsch zu gefallen, noch ein bischen Eitelkeit bei aller
Bescheidenheit und Zucht zurückbleiben, so ist das uur die homöopathische Sünden-
dvsis, welche so manchen Tugenden anhaften muß, um sie nach dem bekannten
Winke des Altmeisters Horaz zu menschlichen und dadurch allgemein inter-
essirenden zu machen. Über die Ausbildung der Mädchen in Musik und Zeichnen
hier uur die zwei Worte, daß für die Erziehung der schönen Seele, insbesondre
für die Richtung des Geschmacks, die Art jener Ausbildung von umso weiter
reichender Bedeutung ist, als sie sich ihrer Natur nach der mittelbaren Berechnung
und Bemessung entzieht, sowie daß schlechte Lehrer und tändelnder Betrieb im
Musik- und Zeichenunterricht mehr schaden als in allen andern Gebieten der
Unterweisung.

Dem weichen Golde der Religiosität und Anmut darf der Stahlzusatz des
Wahrhcitssinnes nicht fehlen. Der neugierige Zug der Unterhaltung um der
Unterhaltung willen, welchen die Tochter des Tagelöhners mit der des Universitäts-
prvfesfors teilt, er ist die erste sinnliche Etappe der beim weiblichen Geschlechte
so weitverbreiteten Übelrederei: zunächst nur aus Begierde nach neuem erfindet
so manche weibliche Phantasie Thatsachen betreffs andrer Menschen; auf der
höhern Stufe des Seelenlebens kommt ein Ganzes -- sehr ost in Gestalt des
lieben Ichs oder eines geliebten zweiten Ichs -- in das Mitteltreffeu, zu dessen
Sicherstellung Scheingeplänlel und Lügeuoperationen mit leichtem und schwerem
Geschütz besonnen und unbesonnen ausgeführt werden. Der erste Gesichtspunkt


ist es, wenn von gewisser Seite das Schönste und Beste der deutschen Literatur,
welches die Schule den Mädchen bietet, als tenschheitsverderbend bezeichnet wird.
Der Ernst und der erhabene Zusammenhang, in welchem dort der Begriff der
Liebe erscheint, ist wie weniges geeignet, in den jugendlichen Seelen frühzeitig
einen Damm gegen Gemeinheit wie gegen Überschwänglichleit auszuwerfen. Möge
die Familie vor allem im Vereine mit der Schule, welche bei Anlegung nud Führung
von Schülerinnenbibliotheken die sogenannten Jugendschriften nicht gewissenhaft
genug prüfen kann, die Gesundheit der Privatlektüre der Mädchen sicherstellen!

Praktisch steht der Anmut, welche freilich unwillkürlich sein soll, die beim
weiblichen Geschlechte so ausgebildete Neigung zum Putze nicht fern. Sie ent¬
stammt dem oben erwähnten Wohlgefallen an schönen und harmonischen Ver¬
hältnissen — wir erinnern nur an Gürtel und Halsschmuck als Mittel der Hervor¬
hebung des „prvportionellen Dreiklangs in der menschlichen Figur" —, dient
indeß vielleicht in mehr Füllen zur Steigerung und Veredlung des eigne«: Lebens¬
gefühls als zur Befriedigung der Eitelkeit. Es wäre daher thöricht, diesen Hang
unterdrücken zu wollen. Wie allen sinnlichen Bedürfnissen und Neigungen, so ist
auch dein Pntzeifer ein „liberaler Spielraum," um mit Rümelin zu reden, „offen
zu halten," nur die Ausschreitungen desselben, die Putzsucht in ihrer Mißachtung
des standesgemäßen und die Geschmacklosigkeit im Putz (vgl. das treffliche
Buch von Matthias „Der menschliche Schmuck") sind zu bekämpfen. Mag dann
immerhin noch etwas Wunsch zu gefallen, noch ein bischen Eitelkeit bei aller
Bescheidenheit und Zucht zurückbleiben, so ist das uur die homöopathische Sünden-
dvsis, welche so manchen Tugenden anhaften muß, um sie nach dem bekannten
Winke des Altmeisters Horaz zu menschlichen und dadurch allgemein inter-
essirenden zu machen. Über die Ausbildung der Mädchen in Musik und Zeichnen
hier uur die zwei Worte, daß für die Erziehung der schönen Seele, insbesondre
für die Richtung des Geschmacks, die Art jener Ausbildung von umso weiter
reichender Bedeutung ist, als sie sich ihrer Natur nach der mittelbaren Berechnung
und Bemessung entzieht, sowie daß schlechte Lehrer und tändelnder Betrieb im
Musik- und Zeichenunterricht mehr schaden als in allen andern Gebieten der
Unterweisung.

Dem weichen Golde der Religiosität und Anmut darf der Stahlzusatz des
Wahrhcitssinnes nicht fehlen. Der neugierige Zug der Unterhaltung um der
Unterhaltung willen, welchen die Tochter des Tagelöhners mit der des Universitäts-
prvfesfors teilt, er ist die erste sinnliche Etappe der beim weiblichen Geschlechte
so weitverbreiteten Übelrederei: zunächst nur aus Begierde nach neuem erfindet
so manche weibliche Phantasie Thatsachen betreffs andrer Menschen; auf der
höhern Stufe des Seelenlebens kommt ein Ganzes — sehr ost in Gestalt des
lieben Ichs oder eines geliebten zweiten Ichs — in das Mitteltreffeu, zu dessen
Sicherstellung Scheingeplänlel und Lügeuoperationen mit leichtem und schwerem
Geschütz besonnen und unbesonnen ausgeführt werden. Der erste Gesichtspunkt


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/399>, abgerufen am 26.06.2024.