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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

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des Körpers, welche die äußere Wohlanständigkeit bedingen, werde" freilich aller-
wärts bei der Erziehung des Mädchens ins Ange gefaßt, und das Publikum
hat mit großem Beifalle jene Richtung des Mädchcntnrnens aufgenommen, welche
den anmutigen Körperbewegungen und Körperstellungen besondre Aufmerksamkeit
zuwendet. Aber diese "gelernte" Armut, diese "Tanzmeistergrazie," wie sie
Schiller genannt hat, ist sozusagen nur eine Hilfswissenschaft,' ehre Pflege ist
allerdings bei der Schwerfälligkeit unsrer Glieder, welche in ungünstigem Klima
gebildet und von dem Blei einer eintönigen Lebensweise niedergehalten sind,
ohne allen Zweifel recht nötig, aber in Hinblick auf die Tiere, welche in ihrer
Freiheit "mit völliger Ungezwungenheit die volle Anmut ihrer Gattung ent¬
wickeln," im ganzen und großen von geringem Werte.

Die wahre Anmut kauu mir der unbewußte Ausdruck eiues Innern sein,
und die Schönheit der Seele, deren äußere Kundgebung die Anmut beim
Menschen sein soll, beruht beim weiblichen Geschlechte wesentlich auf Bescheiden¬
heit und Zucht, mit denen sich Wvhlanstündigkeit und Zartgefühl von selbst ein¬
stellen. Leider sind dnrch die verderbliche Konditoreipädagogik, welche in unserm
lustschwürmenden Jahrhundert an dem Lächeln des putzigen Mädchens sich er¬
freuend es mit Konfekt -- bildlich gesprochen -- statt mit Schwarzbrot nährt, die
Ansprüche der weiblichen Jugend ans Vergnügen just nach dem Naturgesetz der
Gewöhnung und des Beispiels weit über deren jeweiliges Alter hinaufgestiegen.

Darin liegt der Grund der mehr allgemein beklagten als bekämpften Frühreife
unsrer Jugend -- bei den Knaben liegt die Sache wenig besser --, welche, von
andern schlimmen Folgen abgesehen, zu einer vorzeitigen Gennßnnfähigkeit und
Lebenssattigkeit führen muß. Was Hänschen genießt, genießt Hans nicht mehr.
Neben der Selbstbeherrschung bezüglich des Genusses bildet die Selbstbeherrschung
bezüglich des Wortes eiuen Hauptbestandteil der Bescheidenheit; vorlaute, dreiste
und zornige Reden verunzieren das Weib kaum weniger als Irreligiosität. Die
Bescheidenheit, "der Mägdlein Kränzet und Ehrenkleid," wie sie Arndt genannt
hat, wird aber keine echte sein - und hierin liegt ein Berührungspunkt der
Anmut mit der noch zu besprechenden Wahrheitsliebe --, wenn ihr äußeres
Gebahren nicht von bescheidenem Sinne geleitet ist, wenn hinter demselben der
Eigendünkel und das Verlangen nach üußerm Glänze aus.na rußurs lauert, kurz,
wenn es keiner schönen Seele entspringt. Man hat gesagt, Bescheidenheit er¬
starke vorzugsweise in der Familie. Sei dem wie ihm wolle: die Schule ver¬
mag in hohem Grade die Unbescheidenheit erstarken zu lassen. Die kinnstreichelnde
Pseudopädagvgik täppischer Tändelei und unbewußter Förderung des leidigen
ton-riiv wie des unleidlichen ton-pleurer macht sich in nicht wenigen Mädchen-


Ärenzboten IV. 1882. 50
Ltwas von unsern Töchtern.

des Körpers, welche die äußere Wohlanständigkeit bedingen, werde» freilich aller-
wärts bei der Erziehung des Mädchens ins Ange gefaßt, und das Publikum
hat mit großem Beifalle jene Richtung des Mädchcntnrnens aufgenommen, welche
den anmutigen Körperbewegungen und Körperstellungen besondre Aufmerksamkeit
zuwendet. Aber diese „gelernte" Armut, diese „Tanzmeistergrazie," wie sie
Schiller genannt hat, ist sozusagen nur eine Hilfswissenschaft,' ehre Pflege ist
allerdings bei der Schwerfälligkeit unsrer Glieder, welche in ungünstigem Klima
gebildet und von dem Blei einer eintönigen Lebensweise niedergehalten sind,
ohne allen Zweifel recht nötig, aber in Hinblick auf die Tiere, welche in ihrer
Freiheit „mit völliger Ungezwungenheit die volle Anmut ihrer Gattung ent¬
wickeln," im ganzen und großen von geringem Werte.

Die wahre Anmut kauu mir der unbewußte Ausdruck eiues Innern sein,
und die Schönheit der Seele, deren äußere Kundgebung die Anmut beim
Menschen sein soll, beruht beim weiblichen Geschlechte wesentlich auf Bescheiden¬
heit und Zucht, mit denen sich Wvhlanstündigkeit und Zartgefühl von selbst ein¬
stellen. Leider sind dnrch die verderbliche Konditoreipädagogik, welche in unserm
lustschwürmenden Jahrhundert an dem Lächeln des putzigen Mädchens sich er¬
freuend es mit Konfekt — bildlich gesprochen — statt mit Schwarzbrot nährt, die
Ansprüche der weiblichen Jugend ans Vergnügen just nach dem Naturgesetz der
Gewöhnung und des Beispiels weit über deren jeweiliges Alter hinaufgestiegen.

Darin liegt der Grund der mehr allgemein beklagten als bekämpften Frühreife
unsrer Jugend — bei den Knaben liegt die Sache wenig besser —, welche, von
andern schlimmen Folgen abgesehen, zu einer vorzeitigen Gennßnnfähigkeit und
Lebenssattigkeit führen muß. Was Hänschen genießt, genießt Hans nicht mehr.
Neben der Selbstbeherrschung bezüglich des Genusses bildet die Selbstbeherrschung
bezüglich des Wortes eiuen Hauptbestandteil der Bescheidenheit; vorlaute, dreiste
und zornige Reden verunzieren das Weib kaum weniger als Irreligiosität. Die
Bescheidenheit, „der Mägdlein Kränzet und Ehrenkleid," wie sie Arndt genannt
hat, wird aber keine echte sein - und hierin liegt ein Berührungspunkt der
Anmut mit der noch zu besprechenden Wahrheitsliebe —, wenn ihr äußeres
Gebahren nicht von bescheidenem Sinne geleitet ist, wenn hinter demselben der
Eigendünkel und das Verlangen nach üußerm Glänze aus.na rußurs lauert, kurz,
wenn es keiner schönen Seele entspringt. Man hat gesagt, Bescheidenheit er¬
starke vorzugsweise in der Familie. Sei dem wie ihm wolle: die Schule ver¬
mag in hohem Grade die Unbescheidenheit erstarken zu lassen. Die kinnstreichelnde
Pseudopädagvgik täppischer Tändelei und unbewußter Förderung des leidigen
ton-riiv wie des unleidlichen ton-pleurer macht sich in nicht wenigen Mädchen-


Ärenzboten IV. 1882. 50
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[0397] Ltwas von unsern Töchtern. des Körpers, welche die äußere Wohlanständigkeit bedingen, werde» freilich aller- wärts bei der Erziehung des Mädchens ins Ange gefaßt, und das Publikum hat mit großem Beifalle jene Richtung des Mädchcntnrnens aufgenommen, welche den anmutigen Körperbewegungen und Körperstellungen besondre Aufmerksamkeit zuwendet. Aber diese „gelernte" Armut, diese „Tanzmeistergrazie," wie sie Schiller genannt hat, ist sozusagen nur eine Hilfswissenschaft,' ehre Pflege ist allerdings bei der Schwerfälligkeit unsrer Glieder, welche in ungünstigem Klima gebildet und von dem Blei einer eintönigen Lebensweise niedergehalten sind, ohne allen Zweifel recht nötig, aber in Hinblick auf die Tiere, welche in ihrer Freiheit „mit völliger Ungezwungenheit die volle Anmut ihrer Gattung ent¬ wickeln," im ganzen und großen von geringem Werte. Die wahre Anmut kauu mir der unbewußte Ausdruck eiues Innern sein, und die Schönheit der Seele, deren äußere Kundgebung die Anmut beim Menschen sein soll, beruht beim weiblichen Geschlechte wesentlich auf Bescheiden¬ heit und Zucht, mit denen sich Wvhlanstündigkeit und Zartgefühl von selbst ein¬ stellen. Leider sind dnrch die verderbliche Konditoreipädagogik, welche in unserm lustschwürmenden Jahrhundert an dem Lächeln des putzigen Mädchens sich er¬ freuend es mit Konfekt — bildlich gesprochen — statt mit Schwarzbrot nährt, die Ansprüche der weiblichen Jugend ans Vergnügen just nach dem Naturgesetz der Gewöhnung und des Beispiels weit über deren jeweiliges Alter hinaufgestiegen. Darin liegt der Grund der mehr allgemein beklagten als bekämpften Frühreife unsrer Jugend — bei den Knaben liegt die Sache wenig besser —, welche, von andern schlimmen Folgen abgesehen, zu einer vorzeitigen Gennßnnfähigkeit und Lebenssattigkeit führen muß. Was Hänschen genießt, genießt Hans nicht mehr. Neben der Selbstbeherrschung bezüglich des Genusses bildet die Selbstbeherrschung bezüglich des Wortes eiuen Hauptbestandteil der Bescheidenheit; vorlaute, dreiste und zornige Reden verunzieren das Weib kaum weniger als Irreligiosität. Die Bescheidenheit, „der Mägdlein Kränzet und Ehrenkleid," wie sie Arndt genannt hat, wird aber keine echte sein - und hierin liegt ein Berührungspunkt der Anmut mit der noch zu besprechenden Wahrheitsliebe —, wenn ihr äußeres Gebahren nicht von bescheidenem Sinne geleitet ist, wenn hinter demselben der Eigendünkel und das Verlangen nach üußerm Glänze aus.na rußurs lauert, kurz, wenn es keiner schönen Seele entspringt. Man hat gesagt, Bescheidenheit er¬ starke vorzugsweise in der Familie. Sei dem wie ihm wolle: die Schule ver¬ mag in hohem Grade die Unbescheidenheit erstarken zu lassen. Die kinnstreichelnde Pseudopädagvgik täppischer Tändelei und unbewußter Förderung des leidigen ton-riiv wie des unleidlichen ton-pleurer macht sich in nicht wenigen Mädchen- Ärenzboten IV. 1882. 50

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/397>, abgerufen am 26.06.2024.