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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

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Ausführung aller von uns aufgestellten Forderungen absehend, uns auf eine
Erörterung der springenden Punkte in der ersten zu beschränken und darin eine
nähere Andeutung des Zusammenhanges der zweiten und dritten mit der ersten
zu verflechten.

Eine vernünftige Erziehung des Willens und des Gemütes der heran¬
wachsenden Mädchen muß von dem Grundsätze ausgehen, daß die für das indi¬
viduelle Glück und das Wohl der menschlichen Gesellschaft günstigen Natur-
anlagen zu entwickeln, die gegenteiligen aber zu beschränken sind. Unter den
Anlagen der ersten Art sollen wir denjenigen besondre Pflege angedeihen lasfei,,
welche den wesentlichen Kern der Weiblichkeit im kantischen Sinne des Wortes
bilden, wir meinen die Anlagen zu Religiosität und Anmut; unter den letztern
scheint diejenige am meisten zu bekämpfen zu sein, welche erfahrnngsgemüß das
meiste Unheil über Einzelwesen, Familien und größere Kreise bringt, es ist die
Neigung des weiblichen Geschlechtes zur Unwahrheit.

Eine Frau ohne Religion ist ein Ungeheuer. Der Mann kann auf philo¬
sophischem Wege betreffs der höchsten Dinge zu einer bestimmten Lebensan-
schauung gelangen, welche, allerdings unter der Voraussetzung, daß ihn die Tiefe
nicht geschreckt hat, wenigstens durch negative Ergebnisse auf die Grundgedanken
des Glaubens zurückführt. Der Frau ist dieser Weg von Natur verlegt; sie
muß wie die große Masse auf unmittelbare, sinnliche und autoritative Weise
jene innere Lebensstütze gewinnen und festhalten, deren kein Mensch entraten
kauu. Gerade unser Christentum, als dessen gesundeste Frucht das tiefsinnige
Zartgefühl des Gewissens in der Behandlung aller Lebensinteressen zu bezeichnen
ist, bedarf der sorgfältigsten Pflege im weiblichen Gemüte. Diese Pflege liegt
aber nicht in der Unendlichkeit frömmelnder Ermahnungen oder in der Be¬
schränkung der Lektüre auf geistliche Bücher, anch nicht in der Gewöhnung an
peinlich genaue und ununterbrochene Erfüllung aller äußern Kultusvorschriften,
sondern in der Übermittlung einer heiligen Gewißheit betreffs der göttlichen Vor¬
sehung und des göttlichen Willens und in der Anleitung zur richtigen Wert¬
schätzung der Lebensgüter. Nicht bloß das Haus wird durch Gewöhnung und
Beispiel, diese starke" Hebel jeder Erziehung, die Wärme der wahrhaften, von jeder
Unduldsamkeit weitabliegenden religiösen Empfindung hochhalten müssen, sondern
auch die Schule wird namentlich bei Behandlung des Schönsten lind Besten der
neuern weltlichen Bildung den sachlichen Einklang der einfachen Glaubenslehren
mit den Grundgedanken einer ideal-philosophischen Weltanschauung zu betonen
uicht versäumen dürfen.

"Die Anmut ist die Schönheit der Gestalt unter dem Einflüsse der Freiheit"
und "In einer schönen Seele ist es, wo Sinnlichkeit und Vernunft, Pflicht und
Neigung Harmoniren, und Grazie ist ihr Ausdruck." Mit diesen bekannten
Schillerschen Sätzen ist das Wesen der menschlichen Anmut, dieses olympischen
Erbteils des weiblichen Geschlechtes, gezeichnet. Die grobsinnlichen Bewegungen


Ausführung aller von uns aufgestellten Forderungen absehend, uns auf eine
Erörterung der springenden Punkte in der ersten zu beschränken und darin eine
nähere Andeutung des Zusammenhanges der zweiten und dritten mit der ersten
zu verflechten.

Eine vernünftige Erziehung des Willens und des Gemütes der heran¬
wachsenden Mädchen muß von dem Grundsätze ausgehen, daß die für das indi¬
viduelle Glück und das Wohl der menschlichen Gesellschaft günstigen Natur-
anlagen zu entwickeln, die gegenteiligen aber zu beschränken sind. Unter den
Anlagen der ersten Art sollen wir denjenigen besondre Pflege angedeihen lasfei,,
welche den wesentlichen Kern der Weiblichkeit im kantischen Sinne des Wortes
bilden, wir meinen die Anlagen zu Religiosität und Anmut; unter den letztern
scheint diejenige am meisten zu bekämpfen zu sein, welche erfahrnngsgemüß das
meiste Unheil über Einzelwesen, Familien und größere Kreise bringt, es ist die
Neigung des weiblichen Geschlechtes zur Unwahrheit.

Eine Frau ohne Religion ist ein Ungeheuer. Der Mann kann auf philo¬
sophischem Wege betreffs der höchsten Dinge zu einer bestimmten Lebensan-
schauung gelangen, welche, allerdings unter der Voraussetzung, daß ihn die Tiefe
nicht geschreckt hat, wenigstens durch negative Ergebnisse auf die Grundgedanken
des Glaubens zurückführt. Der Frau ist dieser Weg von Natur verlegt; sie
muß wie die große Masse auf unmittelbare, sinnliche und autoritative Weise
jene innere Lebensstütze gewinnen und festhalten, deren kein Mensch entraten
kauu. Gerade unser Christentum, als dessen gesundeste Frucht das tiefsinnige
Zartgefühl des Gewissens in der Behandlung aller Lebensinteressen zu bezeichnen
ist, bedarf der sorgfältigsten Pflege im weiblichen Gemüte. Diese Pflege liegt
aber nicht in der Unendlichkeit frömmelnder Ermahnungen oder in der Be¬
schränkung der Lektüre auf geistliche Bücher, anch nicht in der Gewöhnung an
peinlich genaue und ununterbrochene Erfüllung aller äußern Kultusvorschriften,
sondern in der Übermittlung einer heiligen Gewißheit betreffs der göttlichen Vor¬
sehung und des göttlichen Willens und in der Anleitung zur richtigen Wert¬
schätzung der Lebensgüter. Nicht bloß das Haus wird durch Gewöhnung und
Beispiel, diese starke» Hebel jeder Erziehung, die Wärme der wahrhaften, von jeder
Unduldsamkeit weitabliegenden religiösen Empfindung hochhalten müssen, sondern
auch die Schule wird namentlich bei Behandlung des Schönsten lind Besten der
neuern weltlichen Bildung den sachlichen Einklang der einfachen Glaubenslehren
mit den Grundgedanken einer ideal-philosophischen Weltanschauung zu betonen
uicht versäumen dürfen.

„Die Anmut ist die Schönheit der Gestalt unter dem Einflüsse der Freiheit"
und „In einer schönen Seele ist es, wo Sinnlichkeit und Vernunft, Pflicht und
Neigung Harmoniren, und Grazie ist ihr Ausdruck." Mit diesen bekannten
Schillerschen Sätzen ist das Wesen der menschlichen Anmut, dieses olympischen
Erbteils des weiblichen Geschlechtes, gezeichnet. Die grobsinnlichen Bewegungen


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[0396] Ausführung aller von uns aufgestellten Forderungen absehend, uns auf eine Erörterung der springenden Punkte in der ersten zu beschränken und darin eine nähere Andeutung des Zusammenhanges der zweiten und dritten mit der ersten zu verflechten. Eine vernünftige Erziehung des Willens und des Gemütes der heran¬ wachsenden Mädchen muß von dem Grundsätze ausgehen, daß die für das indi¬ viduelle Glück und das Wohl der menschlichen Gesellschaft günstigen Natur- anlagen zu entwickeln, die gegenteiligen aber zu beschränken sind. Unter den Anlagen der ersten Art sollen wir denjenigen besondre Pflege angedeihen lasfei,, welche den wesentlichen Kern der Weiblichkeit im kantischen Sinne des Wortes bilden, wir meinen die Anlagen zu Religiosität und Anmut; unter den letztern scheint diejenige am meisten zu bekämpfen zu sein, welche erfahrnngsgemüß das meiste Unheil über Einzelwesen, Familien und größere Kreise bringt, es ist die Neigung des weiblichen Geschlechtes zur Unwahrheit. Eine Frau ohne Religion ist ein Ungeheuer. Der Mann kann auf philo¬ sophischem Wege betreffs der höchsten Dinge zu einer bestimmten Lebensan- schauung gelangen, welche, allerdings unter der Voraussetzung, daß ihn die Tiefe nicht geschreckt hat, wenigstens durch negative Ergebnisse auf die Grundgedanken des Glaubens zurückführt. Der Frau ist dieser Weg von Natur verlegt; sie muß wie die große Masse auf unmittelbare, sinnliche und autoritative Weise jene innere Lebensstütze gewinnen und festhalten, deren kein Mensch entraten kauu. Gerade unser Christentum, als dessen gesundeste Frucht das tiefsinnige Zartgefühl des Gewissens in der Behandlung aller Lebensinteressen zu bezeichnen ist, bedarf der sorgfältigsten Pflege im weiblichen Gemüte. Diese Pflege liegt aber nicht in der Unendlichkeit frömmelnder Ermahnungen oder in der Be¬ schränkung der Lektüre auf geistliche Bücher, anch nicht in der Gewöhnung an peinlich genaue und ununterbrochene Erfüllung aller äußern Kultusvorschriften, sondern in der Übermittlung einer heiligen Gewißheit betreffs der göttlichen Vor¬ sehung und des göttlichen Willens und in der Anleitung zur richtigen Wert¬ schätzung der Lebensgüter. Nicht bloß das Haus wird durch Gewöhnung und Beispiel, diese starke» Hebel jeder Erziehung, die Wärme der wahrhaften, von jeder Unduldsamkeit weitabliegenden religiösen Empfindung hochhalten müssen, sondern auch die Schule wird namentlich bei Behandlung des Schönsten lind Besten der neuern weltlichen Bildung den sachlichen Einklang der einfachen Glaubenslehren mit den Grundgedanken einer ideal-philosophischen Weltanschauung zu betonen uicht versäumen dürfen. „Die Anmut ist die Schönheit der Gestalt unter dem Einflüsse der Freiheit" und „In einer schönen Seele ist es, wo Sinnlichkeit und Vernunft, Pflicht und Neigung Harmoniren, und Grazie ist ihr Ausdruck." Mit diesen bekannten Schillerschen Sätzen ist das Wesen der menschlichen Anmut, dieses olympischen Erbteils des weiblichen Geschlechtes, gezeichnet. Die grobsinnlichen Bewegungen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/396>, abgerufen am 26.06.2024.