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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

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Der HÜckelismus auf der Naturforscherveisammlung in Lisenach.

Auch ein Krystall unterscheidet sich von dem einfachsten Pflanzentier dadurch,
daß nicht ein Teil dem Ganzen dient, wie das bei jenem doch der Fall ist.
Was ist also durch das Gesetz der Vererbung, daß viele Eigenschaften der Eltern
auf die Kinder übergehen, für die Wegerklürung der zweckmäßig wirkenden
geistigen Ursache geleistet? Geradezu garnichts, denn wenn sie nicht ganz und
durchaus geleugnet werden kann, so ist sie eben nicht wegerklärt. Daß aber
materielle wie geistige Eigenschaften und Anlagen von deu Eltern auf die Kinder
sich vererben, hat man immer gewußt, es ist das nicht nen. Das Neue der Theorie,
daß mau dadurch berechtigt würde, die geistige Ursache der organischen Schöpfung
zu leugnen, ist falsch. Das, was uns am meisten interessiren würde, die Gesetze
und Regeln, nach denen die Vererbung geschieht, darüber hat Darwin wie anch
Häckel allerdings eine Menge empirischer neuer Daten beigebracht, aber bis zu
feststehenden wissenschaftlichen Sätzen ist es bis jetzt noch kaum gekommen.
Jedem Versuch, feste Regeln darin zu finden, lassen sich bis jetzt noch immer
soviel Ausnahmen entgegensetzen, daß man die Regel selbst bezweifeln muß.
Es sei nur daran erinnert, daß man oft zu behaupten versucht hat, wie sich
im Leben erworbene Verstümmelungen ans die Nachkommen vererben, und daß
doch nie die Juden und Mohammedaner ohne Vorhaut geboren werden. Ferner,
daß der Darwinismus keine Erklärung für die Thatsache hat, daß, nachdem
mehrere Generationen ihren Stammeltern durch gewisse Einflüsse nnühnlich und
unähnlicher geworden sind, doch sobald diese Einflüsse aufhören, eine spätere
Generation wieder genau in den verlassenen Typus der Stammeltern zurück¬
schlägt.

Was die Veränderung der Arten durch Anpassung an die äußern Verhält-
nisse im Kampf ums Dasein und in der sogenannten Zuchtwahl betrifft, so ist
es geradezu unbegreiflich, wie man die betreffenden Thatsachen benutzen will,
um die geistige Ursache der organischen Bildung zu leugnen. Nur soweit als
sich die Individuen in diesem Kampf vollständig passiv verhalten, als die weniger
widerstandsfähigen durch äußere Gewalt vermehret werden und die passenden
organisirten übrig bleiben, kann man auf rein mechanische Erklärungen der
Erscheinungen zurückgehen. Aber wenn man von einem Kampf ums Da¬
sein spricht, in welchem die Individuen nicht untergehen, sondern sich in
irgend einer besondern Richtung kräftigem und ausbilden, um diese neuerwor-
benen Eigenschaften auf die Nachkommen zu vererben, kann man sogar zur bloßen
Erklärung des Kampfes die geistigen Thätigkeiten nicht entbehren. Ein Stein
kämpft nicht ums Dasein, und alle Bewegungen in der unorganischen Natur
können wir selbst hervorbringen und vollständig aus mechanischen Gesetzen er¬
klären. Aber wenn ein Tier sich einer schädlichen feindlichen Gewalt widersetzt
und dieselbe gar abwehrt und sich vor ihr schützt, so muß es Empfindung und
Streben haben. Es braucht nicht das selbständige Bewußtsein und den freien
Willen des Menschen zu haben, aber sein Empfinden und Streben muß doch


Der HÜckelismus auf der Naturforscherveisammlung in Lisenach.

Auch ein Krystall unterscheidet sich von dem einfachsten Pflanzentier dadurch,
daß nicht ein Teil dem Ganzen dient, wie das bei jenem doch der Fall ist.
Was ist also durch das Gesetz der Vererbung, daß viele Eigenschaften der Eltern
auf die Kinder übergehen, für die Wegerklürung der zweckmäßig wirkenden
geistigen Ursache geleistet? Geradezu garnichts, denn wenn sie nicht ganz und
durchaus geleugnet werden kann, so ist sie eben nicht wegerklärt. Daß aber
materielle wie geistige Eigenschaften und Anlagen von deu Eltern auf die Kinder
sich vererben, hat man immer gewußt, es ist das nicht nen. Das Neue der Theorie,
daß mau dadurch berechtigt würde, die geistige Ursache der organischen Schöpfung
zu leugnen, ist falsch. Das, was uns am meisten interessiren würde, die Gesetze
und Regeln, nach denen die Vererbung geschieht, darüber hat Darwin wie anch
Häckel allerdings eine Menge empirischer neuer Daten beigebracht, aber bis zu
feststehenden wissenschaftlichen Sätzen ist es bis jetzt noch kaum gekommen.
Jedem Versuch, feste Regeln darin zu finden, lassen sich bis jetzt noch immer
soviel Ausnahmen entgegensetzen, daß man die Regel selbst bezweifeln muß.
Es sei nur daran erinnert, daß man oft zu behaupten versucht hat, wie sich
im Leben erworbene Verstümmelungen ans die Nachkommen vererben, und daß
doch nie die Juden und Mohammedaner ohne Vorhaut geboren werden. Ferner,
daß der Darwinismus keine Erklärung für die Thatsache hat, daß, nachdem
mehrere Generationen ihren Stammeltern durch gewisse Einflüsse nnühnlich und
unähnlicher geworden sind, doch sobald diese Einflüsse aufhören, eine spätere
Generation wieder genau in den verlassenen Typus der Stammeltern zurück¬
schlägt.

Was die Veränderung der Arten durch Anpassung an die äußern Verhält-
nisse im Kampf ums Dasein und in der sogenannten Zuchtwahl betrifft, so ist
es geradezu unbegreiflich, wie man die betreffenden Thatsachen benutzen will,
um die geistige Ursache der organischen Bildung zu leugnen. Nur soweit als
sich die Individuen in diesem Kampf vollständig passiv verhalten, als die weniger
widerstandsfähigen durch äußere Gewalt vermehret werden und die passenden
organisirten übrig bleiben, kann man auf rein mechanische Erklärungen der
Erscheinungen zurückgehen. Aber wenn man von einem Kampf ums Da¬
sein spricht, in welchem die Individuen nicht untergehen, sondern sich in
irgend einer besondern Richtung kräftigem und ausbilden, um diese neuerwor-
benen Eigenschaften auf die Nachkommen zu vererben, kann man sogar zur bloßen
Erklärung des Kampfes die geistigen Thätigkeiten nicht entbehren. Ein Stein
kämpft nicht ums Dasein, und alle Bewegungen in der unorganischen Natur
können wir selbst hervorbringen und vollständig aus mechanischen Gesetzen er¬
klären. Aber wenn ein Tier sich einer schädlichen feindlichen Gewalt widersetzt
und dieselbe gar abwehrt und sich vor ihr schützt, so muß es Empfindung und
Streben haben. Es braucht nicht das selbständige Bewußtsein und den freien
Willen des Menschen zu haben, aber sein Empfinden und Streben muß doch


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[0387] Der HÜckelismus auf der Naturforscherveisammlung in Lisenach. Auch ein Krystall unterscheidet sich von dem einfachsten Pflanzentier dadurch, daß nicht ein Teil dem Ganzen dient, wie das bei jenem doch der Fall ist. Was ist also durch das Gesetz der Vererbung, daß viele Eigenschaften der Eltern auf die Kinder übergehen, für die Wegerklürung der zweckmäßig wirkenden geistigen Ursache geleistet? Geradezu garnichts, denn wenn sie nicht ganz und durchaus geleugnet werden kann, so ist sie eben nicht wegerklärt. Daß aber materielle wie geistige Eigenschaften und Anlagen von deu Eltern auf die Kinder sich vererben, hat man immer gewußt, es ist das nicht nen. Das Neue der Theorie, daß mau dadurch berechtigt würde, die geistige Ursache der organischen Schöpfung zu leugnen, ist falsch. Das, was uns am meisten interessiren würde, die Gesetze und Regeln, nach denen die Vererbung geschieht, darüber hat Darwin wie anch Häckel allerdings eine Menge empirischer neuer Daten beigebracht, aber bis zu feststehenden wissenschaftlichen Sätzen ist es bis jetzt noch kaum gekommen. Jedem Versuch, feste Regeln darin zu finden, lassen sich bis jetzt noch immer soviel Ausnahmen entgegensetzen, daß man die Regel selbst bezweifeln muß. Es sei nur daran erinnert, daß man oft zu behaupten versucht hat, wie sich im Leben erworbene Verstümmelungen ans die Nachkommen vererben, und daß doch nie die Juden und Mohammedaner ohne Vorhaut geboren werden. Ferner, daß der Darwinismus keine Erklärung für die Thatsache hat, daß, nachdem mehrere Generationen ihren Stammeltern durch gewisse Einflüsse nnühnlich und unähnlicher geworden sind, doch sobald diese Einflüsse aufhören, eine spätere Generation wieder genau in den verlassenen Typus der Stammeltern zurück¬ schlägt. Was die Veränderung der Arten durch Anpassung an die äußern Verhält- nisse im Kampf ums Dasein und in der sogenannten Zuchtwahl betrifft, so ist es geradezu unbegreiflich, wie man die betreffenden Thatsachen benutzen will, um die geistige Ursache der organischen Bildung zu leugnen. Nur soweit als sich die Individuen in diesem Kampf vollständig passiv verhalten, als die weniger widerstandsfähigen durch äußere Gewalt vermehret werden und die passenden organisirten übrig bleiben, kann man auf rein mechanische Erklärungen der Erscheinungen zurückgehen. Aber wenn man von einem Kampf ums Da¬ sein spricht, in welchem die Individuen nicht untergehen, sondern sich in irgend einer besondern Richtung kräftigem und ausbilden, um diese neuerwor- benen Eigenschaften auf die Nachkommen zu vererben, kann man sogar zur bloßen Erklärung des Kampfes die geistigen Thätigkeiten nicht entbehren. Ein Stein kämpft nicht ums Dasein, und alle Bewegungen in der unorganischen Natur können wir selbst hervorbringen und vollständig aus mechanischen Gesetzen er¬ klären. Aber wenn ein Tier sich einer schädlichen feindlichen Gewalt widersetzt und dieselbe gar abwehrt und sich vor ihr schützt, so muß es Empfindung und Streben haben. Es braucht nicht das selbständige Bewußtsein und den freien Willen des Menschen zu haben, aber sein Empfinden und Streben muß doch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/387>, abgerufen am 26.06.2024.