Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Der Häckelismus auf der Naturforscherversammlung in Giseuach.

Anpassung in die Existenzbedingungen zu erklären sei. Allein es fehlte ihm noch
die Erkenntnis der bewirkenden Ursachen, welche Darwin erst fünfzig Jahre später
enthüllte. . . . Lamarck behauptete, daß das Leben nur eine sehr verwickelte
natürliche Erscheinung ist, ans mechanische"? Vorgängen beruhend, die dnrch die
Beschaffenheit der organischen Materie selbst bedingt sind. Auch die Erschei¬
nungen des Seelenlebens sind in dieser Beziehung von den übrigen Lebens-
erscheinungen nicht verschieden, denn die Vorstellungen und Thätigkeiten des Ver¬
standes beruhen ans Bewegungsvorgüugen im Zentralnervensystem; der Wille
ist in Wahrheit niemals frei, und die Vernunft ist nur ein höherer Grad von
Entwicklung und Verbindung der Urteile. . . . Bei der großen Klarheit und
Konsequenz seines Systems ist es selbstverständlich, daß er auch dem Menschen
seinen naturgemäßen Platz an der Spitze der Wirbeltiere anweist und die Ur¬
sachen seiner Umbildung ans affenartigen Säugetieren erläutert. Er nimmt
auch an, daß die gemeinsamen ältesten Stammformen aller Organismen einfache
Wesen waren, und daß diese durch Erzeugung nnter dem Zusammenwirken ver-
schiedner physikalischen Ursachen unmittelbar ans unorganischer Materie im Wasser
entstanden."

Diese ganz entschieden materialistische Theorie meint nun Hückel mit der
Naturauffassung Goethes identifiziren zu können, obwohl Goethe zu seinem Be-^
dauern das Werk Lamarcks nicht gekannt habe. Darwin habe dann schließlich
die erdrückende Fülle der beweisenden Thatsachen hinzugefügt, sodaß nun die
einheitliche Naturanschauung die unbestrittene Herrschaft in allen Gemütern er¬
rungen habe, eine wahre Erlösung für die hilfsbedürftige Menschheit, eine Be¬
freiung von dein gefährlichen Aberglauben, daß ein Schöpfer, ein Geist über
und unabhüugig von der Materie herrsche. Daraus entwickle sich eine neue
Religion, eine neue Erziehungslehre, Verbesserung der Schulen und unabseh¬
bare Fortschritte für die Zukunft. "Diese einheitliche Religion der Menschlich¬
keit steht mit denjenigen Grundlehren des Christentums, die dessen wahren Wert
begründen, keineswegs im Widerspruch, denn die allgemeine Menschenliebe, als
Grundprinzip der Sittlichkeit, ist in der erstern ebenso wie in dem letztern ent¬
halten." Hat doch Darwin gezeigt, wie aus den gesellschaftlichen Instinkten
der höhern Tiere durch Vererbung und Anpassung auch die Sitten der Menschen
sich entwickeln.

Wenn wir Materialismus im strengen Sinne diejenige Lehre nennen,
welche die Ursache für alles körperliche und geistige Geschehen in den Eigen¬
schaften der Materie findet, so sinden wir denselben um konsequentesten in
Frankreich allsgebildet, und in etwas plumperer Form nach Deutschland über¬
tragen. Nach ihm würde die Chemie eigentlich an die Stelle der Theologie
zu treten haben, und genau genommen würde sie soviel Götter zu verehren haben
als es Grundstoffe giebt, also etwa 67. Dieser krasse Materialismus, der in
Deutschland gelegentlich schon etwas lächerlich geworden ist, ist Häckel offenbar


Der Häckelismus auf der Naturforscherversammlung in Giseuach.

Anpassung in die Existenzbedingungen zu erklären sei. Allein es fehlte ihm noch
die Erkenntnis der bewirkenden Ursachen, welche Darwin erst fünfzig Jahre später
enthüllte. . . . Lamarck behauptete, daß das Leben nur eine sehr verwickelte
natürliche Erscheinung ist, ans mechanische»? Vorgängen beruhend, die dnrch die
Beschaffenheit der organischen Materie selbst bedingt sind. Auch die Erschei¬
nungen des Seelenlebens sind in dieser Beziehung von den übrigen Lebens-
erscheinungen nicht verschieden, denn die Vorstellungen und Thätigkeiten des Ver¬
standes beruhen ans Bewegungsvorgüugen im Zentralnervensystem; der Wille
ist in Wahrheit niemals frei, und die Vernunft ist nur ein höherer Grad von
Entwicklung und Verbindung der Urteile. . . . Bei der großen Klarheit und
Konsequenz seines Systems ist es selbstverständlich, daß er auch dem Menschen
seinen naturgemäßen Platz an der Spitze der Wirbeltiere anweist und die Ur¬
sachen seiner Umbildung ans affenartigen Säugetieren erläutert. Er nimmt
auch an, daß die gemeinsamen ältesten Stammformen aller Organismen einfache
Wesen waren, und daß diese durch Erzeugung nnter dem Zusammenwirken ver-
schiedner physikalischen Ursachen unmittelbar ans unorganischer Materie im Wasser
entstanden."

Diese ganz entschieden materialistische Theorie meint nun Hückel mit der
Naturauffassung Goethes identifiziren zu können, obwohl Goethe zu seinem Be-^
dauern das Werk Lamarcks nicht gekannt habe. Darwin habe dann schließlich
die erdrückende Fülle der beweisenden Thatsachen hinzugefügt, sodaß nun die
einheitliche Naturanschauung die unbestrittene Herrschaft in allen Gemütern er¬
rungen habe, eine wahre Erlösung für die hilfsbedürftige Menschheit, eine Be¬
freiung von dein gefährlichen Aberglauben, daß ein Schöpfer, ein Geist über
und unabhüugig von der Materie herrsche. Daraus entwickle sich eine neue
Religion, eine neue Erziehungslehre, Verbesserung der Schulen und unabseh¬
bare Fortschritte für die Zukunft. „Diese einheitliche Religion der Menschlich¬
keit steht mit denjenigen Grundlehren des Christentums, die dessen wahren Wert
begründen, keineswegs im Widerspruch, denn die allgemeine Menschenliebe, als
Grundprinzip der Sittlichkeit, ist in der erstern ebenso wie in dem letztern ent¬
halten." Hat doch Darwin gezeigt, wie aus den gesellschaftlichen Instinkten
der höhern Tiere durch Vererbung und Anpassung auch die Sitten der Menschen
sich entwickeln.

Wenn wir Materialismus im strengen Sinne diejenige Lehre nennen,
welche die Ursache für alles körperliche und geistige Geschehen in den Eigen¬
schaften der Materie findet, so sinden wir denselben um konsequentesten in
Frankreich allsgebildet, und in etwas plumperer Form nach Deutschland über¬
tragen. Nach ihm würde die Chemie eigentlich an die Stelle der Theologie
zu treten haben, und genau genommen würde sie soviel Götter zu verehren haben
als es Grundstoffe giebt, also etwa 67. Dieser krasse Materialismus, der in
Deutschland gelegentlich schon etwas lächerlich geworden ist, ist Häckel offenbar


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0382" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/194360"/>
          <fw type="header" place="top"> Der Häckelismus auf der Naturforscherversammlung in Giseuach.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1430" prev="#ID_1429"> Anpassung in die Existenzbedingungen zu erklären sei. Allein es fehlte ihm noch<lb/>
die Erkenntnis der bewirkenden Ursachen, welche Darwin erst fünfzig Jahre später<lb/>
enthüllte. . . . Lamarck behauptete, daß das Leben nur eine sehr verwickelte<lb/>
natürliche Erscheinung ist, ans mechanische»? Vorgängen beruhend, die dnrch die<lb/>
Beschaffenheit der organischen Materie selbst bedingt sind. Auch die Erschei¬<lb/>
nungen des Seelenlebens sind in dieser Beziehung von den übrigen Lebens-<lb/>
erscheinungen nicht verschieden, denn die Vorstellungen und Thätigkeiten des Ver¬<lb/>
standes beruhen ans Bewegungsvorgüugen im Zentralnervensystem; der Wille<lb/>
ist in Wahrheit niemals frei, und die Vernunft ist nur ein höherer Grad von<lb/>
Entwicklung und Verbindung der Urteile. . . . Bei der großen Klarheit und<lb/>
Konsequenz seines Systems ist es selbstverständlich, daß er auch dem Menschen<lb/>
seinen naturgemäßen Platz an der Spitze der Wirbeltiere anweist und die Ur¬<lb/>
sachen seiner Umbildung ans affenartigen Säugetieren erläutert. Er nimmt<lb/>
auch an, daß die gemeinsamen ältesten Stammformen aller Organismen einfache<lb/>
Wesen waren, und daß diese durch Erzeugung nnter dem Zusammenwirken ver-<lb/>
schiedner physikalischen Ursachen unmittelbar ans unorganischer Materie im Wasser<lb/>
entstanden."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1431"> Diese ganz entschieden materialistische Theorie meint nun Hückel mit der<lb/>
Naturauffassung Goethes identifiziren zu können, obwohl Goethe zu seinem Be-^<lb/>
dauern das Werk Lamarcks nicht gekannt habe. Darwin habe dann schließlich<lb/>
die erdrückende Fülle der beweisenden Thatsachen hinzugefügt, sodaß nun die<lb/>
einheitliche Naturanschauung die unbestrittene Herrschaft in allen Gemütern er¬<lb/>
rungen habe, eine wahre Erlösung für die hilfsbedürftige Menschheit, eine Be¬<lb/>
freiung von dein gefährlichen Aberglauben, daß ein Schöpfer, ein Geist über<lb/>
und unabhüugig von der Materie herrsche. Daraus entwickle sich eine neue<lb/>
Religion, eine neue Erziehungslehre, Verbesserung der Schulen und unabseh¬<lb/>
bare Fortschritte für die Zukunft. &#x201E;Diese einheitliche Religion der Menschlich¬<lb/>
keit steht mit denjenigen Grundlehren des Christentums, die dessen wahren Wert<lb/>
begründen, keineswegs im Widerspruch, denn die allgemeine Menschenliebe, als<lb/>
Grundprinzip der Sittlichkeit, ist in der erstern ebenso wie in dem letztern ent¬<lb/>
halten." Hat doch Darwin gezeigt, wie aus den gesellschaftlichen Instinkten<lb/>
der höhern Tiere durch Vererbung und Anpassung auch die Sitten der Menschen<lb/>
sich entwickeln.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1432" next="#ID_1433"> Wenn wir Materialismus im strengen Sinne diejenige Lehre nennen,<lb/>
welche die Ursache für alles körperliche und geistige Geschehen in den Eigen¬<lb/>
schaften der Materie findet, so sinden wir denselben um konsequentesten in<lb/>
Frankreich allsgebildet, und in etwas plumperer Form nach Deutschland über¬<lb/>
tragen. Nach ihm würde die Chemie eigentlich an die Stelle der Theologie<lb/>
zu treten haben, und genau genommen würde sie soviel Götter zu verehren haben<lb/>
als es Grundstoffe giebt, also etwa 67. Dieser krasse Materialismus, der in<lb/>
Deutschland gelegentlich schon etwas lächerlich geworden ist, ist Häckel offenbar</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0382] Der Häckelismus auf der Naturforscherversammlung in Giseuach. Anpassung in die Existenzbedingungen zu erklären sei. Allein es fehlte ihm noch die Erkenntnis der bewirkenden Ursachen, welche Darwin erst fünfzig Jahre später enthüllte. . . . Lamarck behauptete, daß das Leben nur eine sehr verwickelte natürliche Erscheinung ist, ans mechanische»? Vorgängen beruhend, die dnrch die Beschaffenheit der organischen Materie selbst bedingt sind. Auch die Erschei¬ nungen des Seelenlebens sind in dieser Beziehung von den übrigen Lebens- erscheinungen nicht verschieden, denn die Vorstellungen und Thätigkeiten des Ver¬ standes beruhen ans Bewegungsvorgüugen im Zentralnervensystem; der Wille ist in Wahrheit niemals frei, und die Vernunft ist nur ein höherer Grad von Entwicklung und Verbindung der Urteile. . . . Bei der großen Klarheit und Konsequenz seines Systems ist es selbstverständlich, daß er auch dem Menschen seinen naturgemäßen Platz an der Spitze der Wirbeltiere anweist und die Ur¬ sachen seiner Umbildung ans affenartigen Säugetieren erläutert. Er nimmt auch an, daß die gemeinsamen ältesten Stammformen aller Organismen einfache Wesen waren, und daß diese durch Erzeugung nnter dem Zusammenwirken ver- schiedner physikalischen Ursachen unmittelbar ans unorganischer Materie im Wasser entstanden." Diese ganz entschieden materialistische Theorie meint nun Hückel mit der Naturauffassung Goethes identifiziren zu können, obwohl Goethe zu seinem Be-^ dauern das Werk Lamarcks nicht gekannt habe. Darwin habe dann schließlich die erdrückende Fülle der beweisenden Thatsachen hinzugefügt, sodaß nun die einheitliche Naturanschauung die unbestrittene Herrschaft in allen Gemütern er¬ rungen habe, eine wahre Erlösung für die hilfsbedürftige Menschheit, eine Be¬ freiung von dein gefährlichen Aberglauben, daß ein Schöpfer, ein Geist über und unabhüugig von der Materie herrsche. Daraus entwickle sich eine neue Religion, eine neue Erziehungslehre, Verbesserung der Schulen und unabseh¬ bare Fortschritte für die Zukunft. „Diese einheitliche Religion der Menschlich¬ keit steht mit denjenigen Grundlehren des Christentums, die dessen wahren Wert begründen, keineswegs im Widerspruch, denn die allgemeine Menschenliebe, als Grundprinzip der Sittlichkeit, ist in der erstern ebenso wie in dem letztern ent¬ halten." Hat doch Darwin gezeigt, wie aus den gesellschaftlichen Instinkten der höhern Tiere durch Vererbung und Anpassung auch die Sitten der Menschen sich entwickeln. Wenn wir Materialismus im strengen Sinne diejenige Lehre nennen, welche die Ursache für alles körperliche und geistige Geschehen in den Eigen¬ schaften der Materie findet, so sinden wir denselben um konsequentesten in Frankreich allsgebildet, und in etwas plumperer Form nach Deutschland über¬ tragen. Nach ihm würde die Chemie eigentlich an die Stelle der Theologie zu treten haben, und genau genommen würde sie soviel Götter zu verehren haben als es Grundstoffe giebt, also etwa 67. Dieser krasse Materialismus, der in Deutschland gelegentlich schon etwas lächerlich geworden ist, ist Häckel offenbar

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/382
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/382>, abgerufen am 26.06.2024.