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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

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Der Häckelismus auf der Naturforscherversammlung
in Lisenach.

(QMle doch Schiller nur so veraltete und abergläubische Gedanken in
Verse bringen konnte wie die, daß der Mensch frei sei, und wenn
er in Ketten geboren wäre, daß er Tugend üben könne, und daß
ein Gott sei -- "hoch über der Zeit und dem Raume webt
lebendig der höchste Gedanke" -- und wie er zuletzt uoch be¬
haupten konnte: "Dem Menschen ist nimmer sein Wert geraubt, so laug' er
uoch an die drei Worte glaubt." Hütte er doch uur eine Ahnung von seinem
spätern Kollegen Professor Häckel gehabt und namentlich von dessen Rede auf
der Naturforscherversammlung dieses Jahres in Eisenach, er würde unzweifel¬
haft das veraltete Gedicht völlig umgestaltet haben, und die letzte Zeile, die
ohnehin einige Hürden in der Sprache ausweist, würde viel besser so gelnutet
haben: "so laug' er noch an die einheitliche Naturanschauung des Professor
'Häckel glaubt."

Wir steheu nach Häckels fester Überzeugung an dem "größten Wendepunkt
in der Geistesgeschichte der Menschheit," welcher uns die beste Aussicht auf
die weitere Entwicklung derselben eröffnet/") Am Fuße der Wartburg, deren
historische Bedeutung schon bei so manchen thörichten Kundgebungen mißbraucht
wurde, feiert Häckel in einer Art von Triumphgesang den vollständigen Sieg
der Darwinschen Entwicklungslehre. Eins der größten Rätsel des Lebens, sagt
Häckel, ist durch Darwin gelöst, denn die Lehre von der natürlichen Zuchtwahl
durch den Kampf nius Dasein ist nichts geringeres als die endgiltige Beant¬
wortung der großem Frage: Wie können zweckmäßig eingerichtete Formen der
Organisation ohne Hilfe einer zweckmäßig wirkenden Ursache entstehen? Wie
kann ein planvolles Gebäude sich selbst aufbauen ohne Bauplan und
ohne Baumeister? Vererbung und Anpassung, natürliche Auslese oder Zucht¬
wahl im Kampf ums Dasein siud die natürlichen Ursachen, welche die Ent¬
stehung aller lebenden Wesen aus den Grundstoffen der Materie erklären ohne
Hilfe eines Baumeisters, eines Gottes, eines Geistes und am allerwenigsten
eines wunderthätigen Schöpfers. "Zwar hatte schou 1809, im Geburtsjahre
Darwins, Lamarck ganz klar gezeigt, daß die Ähnlichkeit der organisirten Formen
durch ihre gemeinsame Abstammung, ihre Verschiedenheit hingegen durch ihre



Die Naturanschauung von Darwin, Goethe und Lamarck. Vortrag in der
Naturforscherversammlung in Eisenach von Ernst Häckel. Jena, G. Fischer, 1882.
Grenzboten IV. 1882. 48
Der Häckelismus auf der Naturforscherversammlung
in Lisenach.

(QMle doch Schiller nur so veraltete und abergläubische Gedanken in
Verse bringen konnte wie die, daß der Mensch frei sei, und wenn
er in Ketten geboren wäre, daß er Tugend üben könne, und daß
ein Gott sei — „hoch über der Zeit und dem Raume webt
lebendig der höchste Gedanke" — und wie er zuletzt uoch be¬
haupten konnte: „Dem Menschen ist nimmer sein Wert geraubt, so laug' er
uoch an die drei Worte glaubt." Hütte er doch uur eine Ahnung von seinem
spätern Kollegen Professor Häckel gehabt und namentlich von dessen Rede auf
der Naturforscherversammlung dieses Jahres in Eisenach, er würde unzweifel¬
haft das veraltete Gedicht völlig umgestaltet haben, und die letzte Zeile, die
ohnehin einige Hürden in der Sprache ausweist, würde viel besser so gelnutet
haben: „so laug' er noch an die einheitliche Naturanschauung des Professor
'Häckel glaubt."

Wir steheu nach Häckels fester Überzeugung an dem „größten Wendepunkt
in der Geistesgeschichte der Menschheit," welcher uns die beste Aussicht auf
die weitere Entwicklung derselben eröffnet/") Am Fuße der Wartburg, deren
historische Bedeutung schon bei so manchen thörichten Kundgebungen mißbraucht
wurde, feiert Häckel in einer Art von Triumphgesang den vollständigen Sieg
der Darwinschen Entwicklungslehre. Eins der größten Rätsel des Lebens, sagt
Häckel, ist durch Darwin gelöst, denn die Lehre von der natürlichen Zuchtwahl
durch den Kampf nius Dasein ist nichts geringeres als die endgiltige Beant¬
wortung der großem Frage: Wie können zweckmäßig eingerichtete Formen der
Organisation ohne Hilfe einer zweckmäßig wirkenden Ursache entstehen? Wie
kann ein planvolles Gebäude sich selbst aufbauen ohne Bauplan und
ohne Baumeister? Vererbung und Anpassung, natürliche Auslese oder Zucht¬
wahl im Kampf ums Dasein siud die natürlichen Ursachen, welche die Ent¬
stehung aller lebenden Wesen aus den Grundstoffen der Materie erklären ohne
Hilfe eines Baumeisters, eines Gottes, eines Geistes und am allerwenigsten
eines wunderthätigen Schöpfers. „Zwar hatte schou 1809, im Geburtsjahre
Darwins, Lamarck ganz klar gezeigt, daß die Ähnlichkeit der organisirten Formen
durch ihre gemeinsame Abstammung, ihre Verschiedenheit hingegen durch ihre



Die Naturanschauung von Darwin, Goethe und Lamarck. Vortrag in der
Naturforscherversammlung in Eisenach von Ernst Häckel. Jena, G. Fischer, 1882.
Grenzboten IV. 1882. 48
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[0381] Der Häckelismus auf der Naturforscherversammlung in Lisenach. (QMle doch Schiller nur so veraltete und abergläubische Gedanken in Verse bringen konnte wie die, daß der Mensch frei sei, und wenn er in Ketten geboren wäre, daß er Tugend üben könne, und daß ein Gott sei — „hoch über der Zeit und dem Raume webt lebendig der höchste Gedanke" — und wie er zuletzt uoch be¬ haupten konnte: „Dem Menschen ist nimmer sein Wert geraubt, so laug' er uoch an die drei Worte glaubt." Hütte er doch uur eine Ahnung von seinem spätern Kollegen Professor Häckel gehabt und namentlich von dessen Rede auf der Naturforscherversammlung dieses Jahres in Eisenach, er würde unzweifel¬ haft das veraltete Gedicht völlig umgestaltet haben, und die letzte Zeile, die ohnehin einige Hürden in der Sprache ausweist, würde viel besser so gelnutet haben: „so laug' er noch an die einheitliche Naturanschauung des Professor 'Häckel glaubt." Wir steheu nach Häckels fester Überzeugung an dem „größten Wendepunkt in der Geistesgeschichte der Menschheit," welcher uns die beste Aussicht auf die weitere Entwicklung derselben eröffnet/") Am Fuße der Wartburg, deren historische Bedeutung schon bei so manchen thörichten Kundgebungen mißbraucht wurde, feiert Häckel in einer Art von Triumphgesang den vollständigen Sieg der Darwinschen Entwicklungslehre. Eins der größten Rätsel des Lebens, sagt Häckel, ist durch Darwin gelöst, denn die Lehre von der natürlichen Zuchtwahl durch den Kampf nius Dasein ist nichts geringeres als die endgiltige Beant¬ wortung der großem Frage: Wie können zweckmäßig eingerichtete Formen der Organisation ohne Hilfe einer zweckmäßig wirkenden Ursache entstehen? Wie kann ein planvolles Gebäude sich selbst aufbauen ohne Bauplan und ohne Baumeister? Vererbung und Anpassung, natürliche Auslese oder Zucht¬ wahl im Kampf ums Dasein siud die natürlichen Ursachen, welche die Ent¬ stehung aller lebenden Wesen aus den Grundstoffen der Materie erklären ohne Hilfe eines Baumeisters, eines Gottes, eines Geistes und am allerwenigsten eines wunderthätigen Schöpfers. „Zwar hatte schou 1809, im Geburtsjahre Darwins, Lamarck ganz klar gezeigt, daß die Ähnlichkeit der organisirten Formen durch ihre gemeinsame Abstammung, ihre Verschiedenheit hingegen durch ihre Die Naturanschauung von Darwin, Goethe und Lamarck. Vortrag in der Naturforscherversammlung in Eisenach von Ernst Häckel. Jena, G. Fischer, 1882. Grenzboten IV. 1882. 48

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/381>, abgerufen am 26.06.2024.