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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

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Eigentum der Besitzenden zur Strafe zu ziehen und zu unterdrücken. Das viel
zu weitgehende Vcrsammlungsrecht der Republik erlaubt kein Einschreiten gegen
die Wühlerei, mit welcher das Proletariat aufgestachelt wird. Der Grundsatz
des Präsidenten Grevy: "Alles sagen, mir nichts thun lassen" ist ein Vergessen
historischer Lehren, nach denen das Wort immer eine Macht, ja der Anfang
bei allen politischen Gewaltthaten, namentlich bei Revolutionen war. Schlimmer
noch ist, daß man in Frankreich nicht nur keine Präventivmittel, sondern anch
leine genügende Macht besitzt, Repressivmaßregeln zu treffen. Man hat aller¬
dings ein zahlreiches Heer, eine starke Polizei und allenthalben Gerichtshöfe.
Aber diese Einrichtungen lassen an Zuverlässigkeit gegen früher viel zu wünschen
übrig. Mau hat seine Waffen selbst abgestumpft. Die Mannszucht der Sol¬
daten hat dnrch Einführung des Gleichheitsprinzips in die Kasernen gelitten,
ungehindert konnte die Agitation nnter den Regimentern betrieben werden, und
es gilt als gewiß, daß einzelne Bataillone ihren Vorgesetzten als verdächtig er¬
scheinen. Die Polizei ist dnrch die Umsturzpartei in bekannter Weise des-
orgcmisirt und eingeschränkt worden. Der Richterstand, dessen Ansehen von
Gambetta und seinem Anhang seit Jahren systematisch untergraben wurde, hat
der Masse gegenüber nicht mehr hinreichende Autorität und zeigt sich der Re¬
publik, die ihn mit weiterer Erniedrigung bedroht, vielfach abgeneigt. Kurz, die
demokratische Gesetzgebung der letzten Zeit hat dnrch Befolgung der Maxime:
"Nicht zu viel regieren, möglichst viel Freiheit lassen" die Möglichkeit, über¬
haupt zu regieren, erheblich gemindert, und wenn die jetzige Regierung versichert,
sie habe die Mittel, den Anarchisten Halt zu gebieten, so mag das für jetzt zu¬
treffen, aber man wird abwarten müssen, ob das anch in Zukunft gelten wird.

Jedenfalls fürchten sich die Anarchisten vor der Regierung uicht sehr. Der
Schüchternheit der blauen Republik entspricht die Dreistigkeit der roten. In
den Docks zu Marseille und an mehreren Ecken in Paris haben sie bluttriefende
Proklamationen angeschlagen, vou denen die eine u. a. sagt: "Präsident der Re¬
publik, Minister, Präfekten, Kapitalisten, wir werden euch mit Stahl, Feuer,
Gift, mit allen Mitteln der Zerstörung verfolgen." Der Inhaber eines Kaffee¬
hauses in Se. Etienne, in dessen Lokal denn und wann ein republikanischer Klub
Versammlungen abhält, hat einen Brief erhalten, in dem er benachrichtigt wird,
der "Ausschuß der Anarchisten in Lyon" habe beschlossen, sein Haus in die
Luft zu sprengen, wofern er seine Thür nicht den "Opportunisten," d. h. den
gemäßigten Republikanern, verschließe. Das Dokument ist in dem Stile der
offiziellen Dekrete abgefaßt und mit "Der Delegat für Sprengen" unterzeichnet.
Zu Paliuges haben verschiedne Personen ähnliche Drohbriefe erhalten, und in
Amiens wurde wiederholt Feuer augelegt. In Lyon herrscht uuter der wohl¬
habenden .Masse allgemeine Bestürzung, und in einer Vvlksversamiulnng trat
ein Sieur Joly auf, um ganz ungescheut zu erklären, obwohl er verheiratet und
Familienvater sei, werde er mit Vergnüge" den Präsidenten Grcvy umbringen.


Eigentum der Besitzenden zur Strafe zu ziehen und zu unterdrücken. Das viel
zu weitgehende Vcrsammlungsrecht der Republik erlaubt kein Einschreiten gegen
die Wühlerei, mit welcher das Proletariat aufgestachelt wird. Der Grundsatz
des Präsidenten Grevy: „Alles sagen, mir nichts thun lassen" ist ein Vergessen
historischer Lehren, nach denen das Wort immer eine Macht, ja der Anfang
bei allen politischen Gewaltthaten, namentlich bei Revolutionen war. Schlimmer
noch ist, daß man in Frankreich nicht nur keine Präventivmittel, sondern anch
leine genügende Macht besitzt, Repressivmaßregeln zu treffen. Man hat aller¬
dings ein zahlreiches Heer, eine starke Polizei und allenthalben Gerichtshöfe.
Aber diese Einrichtungen lassen an Zuverlässigkeit gegen früher viel zu wünschen
übrig. Mau hat seine Waffen selbst abgestumpft. Die Mannszucht der Sol¬
daten hat dnrch Einführung des Gleichheitsprinzips in die Kasernen gelitten,
ungehindert konnte die Agitation nnter den Regimentern betrieben werden, und
es gilt als gewiß, daß einzelne Bataillone ihren Vorgesetzten als verdächtig er¬
scheinen. Die Polizei ist dnrch die Umsturzpartei in bekannter Weise des-
orgcmisirt und eingeschränkt worden. Der Richterstand, dessen Ansehen von
Gambetta und seinem Anhang seit Jahren systematisch untergraben wurde, hat
der Masse gegenüber nicht mehr hinreichende Autorität und zeigt sich der Re¬
publik, die ihn mit weiterer Erniedrigung bedroht, vielfach abgeneigt. Kurz, die
demokratische Gesetzgebung der letzten Zeit hat dnrch Befolgung der Maxime:
„Nicht zu viel regieren, möglichst viel Freiheit lassen" die Möglichkeit, über¬
haupt zu regieren, erheblich gemindert, und wenn die jetzige Regierung versichert,
sie habe die Mittel, den Anarchisten Halt zu gebieten, so mag das für jetzt zu¬
treffen, aber man wird abwarten müssen, ob das anch in Zukunft gelten wird.

Jedenfalls fürchten sich die Anarchisten vor der Regierung uicht sehr. Der
Schüchternheit der blauen Republik entspricht die Dreistigkeit der roten. In
den Docks zu Marseille und an mehreren Ecken in Paris haben sie bluttriefende
Proklamationen angeschlagen, vou denen die eine u. a. sagt: „Präsident der Re¬
publik, Minister, Präfekten, Kapitalisten, wir werden euch mit Stahl, Feuer,
Gift, mit allen Mitteln der Zerstörung verfolgen." Der Inhaber eines Kaffee¬
hauses in Se. Etienne, in dessen Lokal denn und wann ein republikanischer Klub
Versammlungen abhält, hat einen Brief erhalten, in dem er benachrichtigt wird,
der „Ausschuß der Anarchisten in Lyon" habe beschlossen, sein Haus in die
Luft zu sprengen, wofern er seine Thür nicht den „Opportunisten," d. h. den
gemäßigten Republikanern, verschließe. Das Dokument ist in dem Stile der
offiziellen Dekrete abgefaßt und mit „Der Delegat für Sprengen" unterzeichnet.
Zu Paliuges haben verschiedne Personen ähnliche Drohbriefe erhalten, und in
Amiens wurde wiederholt Feuer augelegt. In Lyon herrscht uuter der wohl¬
habenden .Masse allgemeine Bestürzung, und in einer Vvlksversamiulnng trat
ein Sieur Joly auf, um ganz ungescheut zu erklären, obwohl er verheiratet und
Familienvater sei, werde er mit Vergnüge» den Präsidenten Grcvy umbringen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/352>, abgerufen am 26.06.2024.