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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

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Die Regierung und die Anarchisten in Frankreich.

nur anscheinend nur vereinzelt zum Handeln vorgeschritten. Demungeachtet
leidet es keinen Zweifel, daß diese Ereignisse von einer organisirten Verbindung
nnsgegangen sind, deren hauptsächliche Leiter sich im Auslande befinden, und
der man in den letzten Jahren leider gestattet hat, sich in Frankreich zu ent¬
wickeln. Jetzt, wo die Regierung die Bewegungen dieser Verbindung überwacht,
hat das Publikum leine Ursache zu ernsten Befürchtungen, da die Regierung
fest entschlossen ist, mit Energie alle Vergehen gegen das Gesetz zu unterdrücken
und in allen Teilen des Landes die öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten.
Sie hat die Mittel dazu."

Wir nennen das eine sonderbare Erklärung. Mit dem "leider" kritisirt
und verurteilt die Regierung sich selbst oder doch die liberale Gesetzgebung, die
sie uicht wachsam nud uicht entschieden sein ließ. Es existirt eine geheime
anarchistische Gesellschaft, die auf deu Umsturz der gegenwärtigen Staatsein-
richtung und aller Autorität überhaupt ausgeht und von Nihilisten in Gens
geleitet wird. Sie arbeitet mit Dynamik, dem furchtbarsten Zerstörungsmittel
der Neuzeit. I" Lyon drohte mehrere Tage ein Arbeiteraufstand. An vielen
Orten wurden Brandschriften verteilt und Brandreden gehalten. Dem allen
gegenüber beobachtete die Regierung monatelang eine beklagenswürdig gleich-
giltige Haltung. Es fehlte ihr offenbar an Mut und Entschlossenheit der
wachsenden Gefahr gegenüber. Sie verschob u. a. den Prozeß der aufständischen
Bergleute in Monteeau, weil das Geschwornengericht Drohbriefe erhalten hatte.
Eine Regierung aber, die sich imponiren läßt, die vor der Einschüchterung stockt,
ist keine Regierung, wenigstens nicht die rechte. Man behauptet, die Verschiebung
des Prozesses und dessen Verlegung nach Paris hätten ihren Grund darin, daß
man weitere Enthüllungen erwarte und in Paris furchtlosere Geschworne zu
finden hoffe; aber der Staatsanwalt bei den Assisen des Departements der Seine
und Loire sagte: "Infolge der Bedrohungen mit dem Tode, welche der Jury
brieflich zugegangen, und der verbrecherischen Versuche, welche in Lyon unter¬
nommen worden sind, und welche sich wahrscheinlich in Macon wiederholen würden,
kann man von den Geschwornen kaum die Kaltblütigkeit erwarten, die zu
gebührender Erfüllung ihrer Pflichten erforderlich ist." Der Verlegung des
Prozesses nach der Hauptstadt geschah hier keine Erwähnung, und die Ange-
schuldigten sitzen noch jetzt ohne Urteil im Gefängnis.

Aber die Energielosigkeit der Regierung erklärt sich ans andern Gründen.
Sie ist überhaupt schwach, in auswärtigen Fragen wegen abergläubischer Furcht
bor dein deutschen Kanzler, den sie für ihren Feind hält, während er nur Gegner
eines revanchelnstigen, nicht eines friedlichen Frankreichs ist, in den innern, weil
>nan infolge einer Gesetzgebung, die mit den demokratischen Grundsätzen Ernst
'"achte, die Zwecke der Roten förderte und sich der wirksamen Waffen gegen
sie beraubte. Das Preßgesetz reicht mit seinen milden Bestimmungen nicht ans,
um die Hetzerei der Anarchisten gegen die Ordnung und gegen Leben und


Die Regierung und die Anarchisten in Frankreich.

nur anscheinend nur vereinzelt zum Handeln vorgeschritten. Demungeachtet
leidet es keinen Zweifel, daß diese Ereignisse von einer organisirten Verbindung
nnsgegangen sind, deren hauptsächliche Leiter sich im Auslande befinden, und
der man in den letzten Jahren leider gestattet hat, sich in Frankreich zu ent¬
wickeln. Jetzt, wo die Regierung die Bewegungen dieser Verbindung überwacht,
hat das Publikum leine Ursache zu ernsten Befürchtungen, da die Regierung
fest entschlossen ist, mit Energie alle Vergehen gegen das Gesetz zu unterdrücken
und in allen Teilen des Landes die öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten.
Sie hat die Mittel dazu."

Wir nennen das eine sonderbare Erklärung. Mit dem „leider" kritisirt
und verurteilt die Regierung sich selbst oder doch die liberale Gesetzgebung, die
sie uicht wachsam nud uicht entschieden sein ließ. Es existirt eine geheime
anarchistische Gesellschaft, die auf deu Umsturz der gegenwärtigen Staatsein-
richtung und aller Autorität überhaupt ausgeht und von Nihilisten in Gens
geleitet wird. Sie arbeitet mit Dynamik, dem furchtbarsten Zerstörungsmittel
der Neuzeit. I» Lyon drohte mehrere Tage ein Arbeiteraufstand. An vielen
Orten wurden Brandschriften verteilt und Brandreden gehalten. Dem allen
gegenüber beobachtete die Regierung monatelang eine beklagenswürdig gleich-
giltige Haltung. Es fehlte ihr offenbar an Mut und Entschlossenheit der
wachsenden Gefahr gegenüber. Sie verschob u. a. den Prozeß der aufständischen
Bergleute in Monteeau, weil das Geschwornengericht Drohbriefe erhalten hatte.
Eine Regierung aber, die sich imponiren läßt, die vor der Einschüchterung stockt,
ist keine Regierung, wenigstens nicht die rechte. Man behauptet, die Verschiebung
des Prozesses und dessen Verlegung nach Paris hätten ihren Grund darin, daß
man weitere Enthüllungen erwarte und in Paris furchtlosere Geschworne zu
finden hoffe; aber der Staatsanwalt bei den Assisen des Departements der Seine
und Loire sagte: „Infolge der Bedrohungen mit dem Tode, welche der Jury
brieflich zugegangen, und der verbrecherischen Versuche, welche in Lyon unter¬
nommen worden sind, und welche sich wahrscheinlich in Macon wiederholen würden,
kann man von den Geschwornen kaum die Kaltblütigkeit erwarten, die zu
gebührender Erfüllung ihrer Pflichten erforderlich ist." Der Verlegung des
Prozesses nach der Hauptstadt geschah hier keine Erwähnung, und die Ange-
schuldigten sitzen noch jetzt ohne Urteil im Gefängnis.

Aber die Energielosigkeit der Regierung erklärt sich ans andern Gründen.
Sie ist überhaupt schwach, in auswärtigen Fragen wegen abergläubischer Furcht
bor dein deutschen Kanzler, den sie für ihren Feind hält, während er nur Gegner
eines revanchelnstigen, nicht eines friedlichen Frankreichs ist, in den innern, weil
>nan infolge einer Gesetzgebung, die mit den demokratischen Grundsätzen Ernst
'»achte, die Zwecke der Roten förderte und sich der wirksamen Waffen gegen
sie beraubte. Das Preßgesetz reicht mit seinen milden Bestimmungen nicht ans,
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[0351] Die Regierung und die Anarchisten in Frankreich. nur anscheinend nur vereinzelt zum Handeln vorgeschritten. Demungeachtet leidet es keinen Zweifel, daß diese Ereignisse von einer organisirten Verbindung nnsgegangen sind, deren hauptsächliche Leiter sich im Auslande befinden, und der man in den letzten Jahren leider gestattet hat, sich in Frankreich zu ent¬ wickeln. Jetzt, wo die Regierung die Bewegungen dieser Verbindung überwacht, hat das Publikum leine Ursache zu ernsten Befürchtungen, da die Regierung fest entschlossen ist, mit Energie alle Vergehen gegen das Gesetz zu unterdrücken und in allen Teilen des Landes die öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten. Sie hat die Mittel dazu." Wir nennen das eine sonderbare Erklärung. Mit dem „leider" kritisirt und verurteilt die Regierung sich selbst oder doch die liberale Gesetzgebung, die sie uicht wachsam nud uicht entschieden sein ließ. Es existirt eine geheime anarchistische Gesellschaft, die auf deu Umsturz der gegenwärtigen Staatsein- richtung und aller Autorität überhaupt ausgeht und von Nihilisten in Gens geleitet wird. Sie arbeitet mit Dynamik, dem furchtbarsten Zerstörungsmittel der Neuzeit. I» Lyon drohte mehrere Tage ein Arbeiteraufstand. An vielen Orten wurden Brandschriften verteilt und Brandreden gehalten. Dem allen gegenüber beobachtete die Regierung monatelang eine beklagenswürdig gleich- giltige Haltung. Es fehlte ihr offenbar an Mut und Entschlossenheit der wachsenden Gefahr gegenüber. Sie verschob u. a. den Prozeß der aufständischen Bergleute in Monteeau, weil das Geschwornengericht Drohbriefe erhalten hatte. Eine Regierung aber, die sich imponiren läßt, die vor der Einschüchterung stockt, ist keine Regierung, wenigstens nicht die rechte. Man behauptet, die Verschiebung des Prozesses und dessen Verlegung nach Paris hätten ihren Grund darin, daß man weitere Enthüllungen erwarte und in Paris furchtlosere Geschworne zu finden hoffe; aber der Staatsanwalt bei den Assisen des Departements der Seine und Loire sagte: „Infolge der Bedrohungen mit dem Tode, welche der Jury brieflich zugegangen, und der verbrecherischen Versuche, welche in Lyon unter¬ nommen worden sind, und welche sich wahrscheinlich in Macon wiederholen würden, kann man von den Geschwornen kaum die Kaltblütigkeit erwarten, die zu gebührender Erfüllung ihrer Pflichten erforderlich ist." Der Verlegung des Prozesses nach der Hauptstadt geschah hier keine Erwähnung, und die Ange- schuldigten sitzen noch jetzt ohne Urteil im Gefängnis. Aber die Energielosigkeit der Regierung erklärt sich ans andern Gründen. Sie ist überhaupt schwach, in auswärtigen Fragen wegen abergläubischer Furcht bor dein deutschen Kanzler, den sie für ihren Feind hält, während er nur Gegner eines revanchelnstigen, nicht eines friedlichen Frankreichs ist, in den innern, weil >nan infolge einer Gesetzgebung, die mit den demokratischen Grundsätzen Ernst '»achte, die Zwecke der Roten förderte und sich der wirksamen Waffen gegen sie beraubte. Das Preßgesetz reicht mit seinen milden Bestimmungen nicht ans, um die Hetzerei der Anarchisten gegen die Ordnung und gegen Leben und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/351>, abgerufen am 26.06.2024.