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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

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Die Symbolik des Blutes.

Die Lehre von der Heilung des Aussatzes durch Blut führt uach Ägypten
zurück. Die Homöopathie ist keine Erfindung der neuern Zeit, schon Hippokrates
empfahl mehrfach die Heilung des Übels durch deu verwandten Stoff, und vor
ihm läßt sich diese Anschauung in vielen mythischen Berichten erkennen. Die
Wunde, welche Achill dem Telephos mit der Lanze geschlagen, heilte er wieder
mit den abgeschabten Spänen derselben Lanze. Als Hrrakles bei der Besiegung
der Hydra gefährliche Biffe davongetragen hat, muß er zu seiner Heilung im
Osten ein Kraut suchen, das der Hydra ähnlich gebildet ist. Melampus hob
ein durch Verwundung mit einem Messer hervorgerufenes Übel dadurch, daß er
den Rost dieses Messers trinken ließ. So heilte man 3inri1ig. sinülibas. Noch
in der neuesten Zeit glaubte man in unserm Vaterlande, daß, wenn man sich
an einem Messer verwundet habe, die Wunde, sobald dasselbe zu rösten beginne,
zuheile. Diese Anschauungen weisen auf Ägypten zurück. Ein wichtiger Satz
der alten ägyptischen Naturansicht ist der Glaube an eine organische Identität
des Leibes und der Seele, oder mindestens an den entschiedensten gegenseitigen
Einfluß von Materie und Geist. Darum wirken genossene Speisen zugleich auf
den Geist des Menschen ein. Das Fleisch der klugen Schlange macht selbst klug,
Nachtigallenfleisch verursacht schlaflose Nächte. In dem Liede der Edda geben
dem Guthorm, dem Mörder des Sigurd (Siegfrid), die Brüder Geierfleisch und
Wolfsfleisch, ehe sie in Mordbegierde die Hände an den Helden legen mögen.

Daher erklären sich nun auch die Ansichten über den Einfluß und das Wesen
des Blutes lebender Geschöpfe. Mit dein Blute strömt das Leben ans, lehrt
die Erfahrung; so erblickt man denn in ihm das animalische Leben, ja sogar
die Seele selbst. Bei Homer erlangen die Schatten der Unterwelt erst Erkenntnis¬
vermögen und Sprache, nachdem sie von dem Blut der geschlachteten Tiere ge¬
trunken haben. Blut ist das Correlat von Leben, weil ein Leben ohne Blut
nicht besteht; wie nun Gleiches mit Gleichem aufgehoben wird, so wird sündiges
Leben mit Leben versöhnt, indem das Opfer gebracht und Blut vergossen wird.

Zahllos sind auch die Berichte, nach welchen das Blut eines Erschlagenen
wieder zu fließen anfängt, wenn der Mörder entweder die Wunde berührt oder
in die Nähe des Toten kommt. Siegfrids Wunden hinten wieder, als Hilger
sich naht, und noch bei Shakespeare ruft Anna aus, sobald Richard an den
Leichnam Heinrichs VI. tritt:


Ihr HerrenI seht, des tuten Heinrichs Wunden
Öffnen den starren Mund und bluten frisch.

Es ist eine Weiterführung des Wortes der Schrift, daß das Blut Abels gen
Himmel schreie. Der Leichucun eines Weibes, das von seinem eignen Mann
mit einem Kissen erstickt worden war, fing in Gegenwart des Mörders Blut
zu schwitzen an. Großartig ist die Sage vom Blut des Propheten Zacharia,
den die Juden im Tempel erschlagen hatten. Es hörte nicht auf zu wallen;


Die Symbolik des Blutes.

Die Lehre von der Heilung des Aussatzes durch Blut führt uach Ägypten
zurück. Die Homöopathie ist keine Erfindung der neuern Zeit, schon Hippokrates
empfahl mehrfach die Heilung des Übels durch deu verwandten Stoff, und vor
ihm läßt sich diese Anschauung in vielen mythischen Berichten erkennen. Die
Wunde, welche Achill dem Telephos mit der Lanze geschlagen, heilte er wieder
mit den abgeschabten Spänen derselben Lanze. Als Hrrakles bei der Besiegung
der Hydra gefährliche Biffe davongetragen hat, muß er zu seiner Heilung im
Osten ein Kraut suchen, das der Hydra ähnlich gebildet ist. Melampus hob
ein durch Verwundung mit einem Messer hervorgerufenes Übel dadurch, daß er
den Rost dieses Messers trinken ließ. So heilte man 3inri1ig. sinülibas. Noch
in der neuesten Zeit glaubte man in unserm Vaterlande, daß, wenn man sich
an einem Messer verwundet habe, die Wunde, sobald dasselbe zu rösten beginne,
zuheile. Diese Anschauungen weisen auf Ägypten zurück. Ein wichtiger Satz
der alten ägyptischen Naturansicht ist der Glaube an eine organische Identität
des Leibes und der Seele, oder mindestens an den entschiedensten gegenseitigen
Einfluß von Materie und Geist. Darum wirken genossene Speisen zugleich auf
den Geist des Menschen ein. Das Fleisch der klugen Schlange macht selbst klug,
Nachtigallenfleisch verursacht schlaflose Nächte. In dem Liede der Edda geben
dem Guthorm, dem Mörder des Sigurd (Siegfrid), die Brüder Geierfleisch und
Wolfsfleisch, ehe sie in Mordbegierde die Hände an den Helden legen mögen.

Daher erklären sich nun auch die Ansichten über den Einfluß und das Wesen
des Blutes lebender Geschöpfe. Mit dein Blute strömt das Leben ans, lehrt
die Erfahrung; so erblickt man denn in ihm das animalische Leben, ja sogar
die Seele selbst. Bei Homer erlangen die Schatten der Unterwelt erst Erkenntnis¬
vermögen und Sprache, nachdem sie von dem Blut der geschlachteten Tiere ge¬
trunken haben. Blut ist das Correlat von Leben, weil ein Leben ohne Blut
nicht besteht; wie nun Gleiches mit Gleichem aufgehoben wird, so wird sündiges
Leben mit Leben versöhnt, indem das Opfer gebracht und Blut vergossen wird.

Zahllos sind auch die Berichte, nach welchen das Blut eines Erschlagenen
wieder zu fließen anfängt, wenn der Mörder entweder die Wunde berührt oder
in die Nähe des Toten kommt. Siegfrids Wunden hinten wieder, als Hilger
sich naht, und noch bei Shakespeare ruft Anna aus, sobald Richard an den
Leichnam Heinrichs VI. tritt:


Ihr HerrenI seht, des tuten Heinrichs Wunden
Öffnen den starren Mund und bluten frisch.

Es ist eine Weiterführung des Wortes der Schrift, daß das Blut Abels gen
Himmel schreie. Der Leichucun eines Weibes, das von seinem eignen Mann
mit einem Kissen erstickt worden war, fing in Gegenwart des Mörders Blut
zu schwitzen an. Großartig ist die Sage vom Blut des Propheten Zacharia,
den die Juden im Tempel erschlagen hatten. Es hörte nicht auf zu wallen;


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[0331] Die Symbolik des Blutes. Die Lehre von der Heilung des Aussatzes durch Blut führt uach Ägypten zurück. Die Homöopathie ist keine Erfindung der neuern Zeit, schon Hippokrates empfahl mehrfach die Heilung des Übels durch deu verwandten Stoff, und vor ihm läßt sich diese Anschauung in vielen mythischen Berichten erkennen. Die Wunde, welche Achill dem Telephos mit der Lanze geschlagen, heilte er wieder mit den abgeschabten Spänen derselben Lanze. Als Hrrakles bei der Besiegung der Hydra gefährliche Biffe davongetragen hat, muß er zu seiner Heilung im Osten ein Kraut suchen, das der Hydra ähnlich gebildet ist. Melampus hob ein durch Verwundung mit einem Messer hervorgerufenes Übel dadurch, daß er den Rost dieses Messers trinken ließ. So heilte man 3inri1ig. sinülibas. Noch in der neuesten Zeit glaubte man in unserm Vaterlande, daß, wenn man sich an einem Messer verwundet habe, die Wunde, sobald dasselbe zu rösten beginne, zuheile. Diese Anschauungen weisen auf Ägypten zurück. Ein wichtiger Satz der alten ägyptischen Naturansicht ist der Glaube an eine organische Identität des Leibes und der Seele, oder mindestens an den entschiedensten gegenseitigen Einfluß von Materie und Geist. Darum wirken genossene Speisen zugleich auf den Geist des Menschen ein. Das Fleisch der klugen Schlange macht selbst klug, Nachtigallenfleisch verursacht schlaflose Nächte. In dem Liede der Edda geben dem Guthorm, dem Mörder des Sigurd (Siegfrid), die Brüder Geierfleisch und Wolfsfleisch, ehe sie in Mordbegierde die Hände an den Helden legen mögen. Daher erklären sich nun auch die Ansichten über den Einfluß und das Wesen des Blutes lebender Geschöpfe. Mit dein Blute strömt das Leben ans, lehrt die Erfahrung; so erblickt man denn in ihm das animalische Leben, ja sogar die Seele selbst. Bei Homer erlangen die Schatten der Unterwelt erst Erkenntnis¬ vermögen und Sprache, nachdem sie von dem Blut der geschlachteten Tiere ge¬ trunken haben. Blut ist das Correlat von Leben, weil ein Leben ohne Blut nicht besteht; wie nun Gleiches mit Gleichem aufgehoben wird, so wird sündiges Leben mit Leben versöhnt, indem das Opfer gebracht und Blut vergossen wird. Zahllos sind auch die Berichte, nach welchen das Blut eines Erschlagenen wieder zu fließen anfängt, wenn der Mörder entweder die Wunde berührt oder in die Nähe des Toten kommt. Siegfrids Wunden hinten wieder, als Hilger sich naht, und noch bei Shakespeare ruft Anna aus, sobald Richard an den Leichnam Heinrichs VI. tritt: Ihr HerrenI seht, des tuten Heinrichs Wunden Öffnen den starren Mund und bluten frisch. Es ist eine Weiterführung des Wortes der Schrift, daß das Blut Abels gen Himmel schreie. Der Leichucun eines Weibes, das von seinem eignen Mann mit einem Kissen erstickt worden war, fing in Gegenwart des Mörders Blut zu schwitzen an. Großartig ist die Sage vom Blut des Propheten Zacharia, den die Juden im Tempel erschlagen hatten. Es hörte nicht auf zu wallen;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/331>, abgerufen am 26.06.2024.