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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

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Das Mädchen von Tisza-Lszlcir.

harrte derselbe bei der unter Thräne" vorgebrachten Erklärung, daß er lieber
zehnmahl hätte sterben als seiner Geliebten ein Leid zufügen mögen. So wurde
er schließlich freigelassen. Durch den Tisza-Eszlarer Fall wurde die Behörde
veranlaßt, die eingestellte Untersuchung wieder aufzunehmen und dem Verdacht,
daß der Schächter der Mörder des Mädchens gewesen sei, nachzugehen; aber
dieser verschwand aus dem Orte und ist seitdem verschollen.

Im Jahre 1881 verschwand zu Naschau die Tochter des zu Makarantz
wohnhaften Biudermeisters Josef Kotsisch auf rätselhafte Weise. Nach zwei
Wochen fand man sie mit durchschnittenem Halse in einem Brunnen. Im Biharer
Komitat verschwanden am 9. Juni 1378 ein neunjähriger Knabe und ein zehn¬
jähriges Mädchen, Adoptivkinder des Franz Szabo, Bürgers zu Sznlatsch.
Nach drei Tagen fand man sie in einer Neqnisitenlade zu einer Feuerspritze mit
klaffenden Schnittwunde" am Halse; das Blut war vollkommen abgelassen.
An dem Abende, wo man die Kinder vermißte, waren eine Menge fremder
Juden im Hofe des jüdischen Gutsbesitzers Alexander Ehrenfeld gesehen worden;
am nächstell Tage bemerkte der Kirchendiener der dortigen evangelischen Gemeinde,
als er bei dem Hofe des Juden vorbei nach der Kirche ging, Blutstropfen auf
der Erde, die sich längs der Ehrenfeldschen Hofmauer bis zu jener Remise, etwa
fünfzig Schritte weit, fortsetzten, wo die Leichen dann gefunden wurden.

Marezianyi versichert, daß täglich aus deu verschiedensten Gegenden Ungarns
durchweg obrigkeitlich bestätigte Meldungen über verschwundene Christenmädchen
bei deu Reichstagsabgeordneten von Jstvezy und von Onody einliefen. Auf¬
fällig und zugleich charakteristisch ist die Thatsache, daß sämmtliche abhanden ge¬
kommene Mädchen den ärmeren Volksklassen angehört hatten und die Kinder von
Leuten waren, von denen die Juden voraussetzen konnten, daß ihr Verlust kein be-
besvndres Aufsehn erregen werde. In keinem der bekannt gewordenen Fälle ver¬
schwanden Mädchen angesehener Familien, von denen anzunehmen koar, daß sie, falls
ihnen ein Kind abhanden käme, nach demselben eifrige Nachforschungen anstellen
würden. So verschwanden in den Jahren 1873 bis 1881 alljährlich zu Steinamanger
regelmäßig vor dem jüdischen Osterfeste oder dein Pasfahfeste ein Mädchen: zwei
Stubenmädchen, deren Eltern auf dem Lande wohnten, die Tochter eines armen
Schuhmachers und das achtjährige Töchterchen des Kutschers eines jüdischen
Gutspächters, deren Spur nie mehr aufgefunden wurde. In allen vier Fällen
wurde zwar Untersuchung eingeleitet, blieb aber in allen Fällen erfolglos; der
Verdacht richtete sich auf die Juden.

Marezicmyi giebt noch mehrere Fülle an, von denen besonders ein 1331
in Petersburg vorgekommener von Interesse ist, wo Juden wegen Ermordung
eines Mädchens verurteilt wurden. Zwei Richter erklärten, daß der Mord aus
religiösem Aberwitz erfolgt sei; ein dritter konstatirte ebenfalls, daß die rituelle
Unthat erwiesen sei, hielt aber den Wahn der Verbrecher, Gott damit ein wohl¬
gefälliges Opfer darzubringen, für einen Milderungsgrnnd; derselben Ansicht


Das Mädchen von Tisza-Lszlcir.

harrte derselbe bei der unter Thräne» vorgebrachten Erklärung, daß er lieber
zehnmahl hätte sterben als seiner Geliebten ein Leid zufügen mögen. So wurde
er schließlich freigelassen. Durch den Tisza-Eszlarer Fall wurde die Behörde
veranlaßt, die eingestellte Untersuchung wieder aufzunehmen und dem Verdacht,
daß der Schächter der Mörder des Mädchens gewesen sei, nachzugehen; aber
dieser verschwand aus dem Orte und ist seitdem verschollen.

Im Jahre 1881 verschwand zu Naschau die Tochter des zu Makarantz
wohnhaften Biudermeisters Josef Kotsisch auf rätselhafte Weise. Nach zwei
Wochen fand man sie mit durchschnittenem Halse in einem Brunnen. Im Biharer
Komitat verschwanden am 9. Juni 1378 ein neunjähriger Knabe und ein zehn¬
jähriges Mädchen, Adoptivkinder des Franz Szabo, Bürgers zu Sznlatsch.
Nach drei Tagen fand man sie in einer Neqnisitenlade zu einer Feuerspritze mit
klaffenden Schnittwunde» am Halse; das Blut war vollkommen abgelassen.
An dem Abende, wo man die Kinder vermißte, waren eine Menge fremder
Juden im Hofe des jüdischen Gutsbesitzers Alexander Ehrenfeld gesehen worden;
am nächstell Tage bemerkte der Kirchendiener der dortigen evangelischen Gemeinde,
als er bei dem Hofe des Juden vorbei nach der Kirche ging, Blutstropfen auf
der Erde, die sich längs der Ehrenfeldschen Hofmauer bis zu jener Remise, etwa
fünfzig Schritte weit, fortsetzten, wo die Leichen dann gefunden wurden.

Marezianyi versichert, daß täglich aus deu verschiedensten Gegenden Ungarns
durchweg obrigkeitlich bestätigte Meldungen über verschwundene Christenmädchen
bei deu Reichstagsabgeordneten von Jstvezy und von Onody einliefen. Auf¬
fällig und zugleich charakteristisch ist die Thatsache, daß sämmtliche abhanden ge¬
kommene Mädchen den ärmeren Volksklassen angehört hatten und die Kinder von
Leuten waren, von denen die Juden voraussetzen konnten, daß ihr Verlust kein be-
besvndres Aufsehn erregen werde. In keinem der bekannt gewordenen Fälle ver¬
schwanden Mädchen angesehener Familien, von denen anzunehmen koar, daß sie, falls
ihnen ein Kind abhanden käme, nach demselben eifrige Nachforschungen anstellen
würden. So verschwanden in den Jahren 1873 bis 1881 alljährlich zu Steinamanger
regelmäßig vor dem jüdischen Osterfeste oder dein Pasfahfeste ein Mädchen: zwei
Stubenmädchen, deren Eltern auf dem Lande wohnten, die Tochter eines armen
Schuhmachers und das achtjährige Töchterchen des Kutschers eines jüdischen
Gutspächters, deren Spur nie mehr aufgefunden wurde. In allen vier Fällen
wurde zwar Untersuchung eingeleitet, blieb aber in allen Fällen erfolglos; der
Verdacht richtete sich auf die Juden.

Marezicmyi giebt noch mehrere Fülle an, von denen besonders ein 1331
in Petersburg vorgekommener von Interesse ist, wo Juden wegen Ermordung
eines Mädchens verurteilt wurden. Zwei Richter erklärten, daß der Mord aus
religiösem Aberwitz erfolgt sei; ein dritter konstatirte ebenfalls, daß die rituelle
Unthat erwiesen sei, hielt aber den Wahn der Verbrecher, Gott damit ein wohl¬
gefälliges Opfer darzubringen, für einen Milderungsgrnnd; derselben Ansicht


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[0292] Das Mädchen von Tisza-Lszlcir. harrte derselbe bei der unter Thräne» vorgebrachten Erklärung, daß er lieber zehnmahl hätte sterben als seiner Geliebten ein Leid zufügen mögen. So wurde er schließlich freigelassen. Durch den Tisza-Eszlarer Fall wurde die Behörde veranlaßt, die eingestellte Untersuchung wieder aufzunehmen und dem Verdacht, daß der Schächter der Mörder des Mädchens gewesen sei, nachzugehen; aber dieser verschwand aus dem Orte und ist seitdem verschollen. Im Jahre 1881 verschwand zu Naschau die Tochter des zu Makarantz wohnhaften Biudermeisters Josef Kotsisch auf rätselhafte Weise. Nach zwei Wochen fand man sie mit durchschnittenem Halse in einem Brunnen. Im Biharer Komitat verschwanden am 9. Juni 1378 ein neunjähriger Knabe und ein zehn¬ jähriges Mädchen, Adoptivkinder des Franz Szabo, Bürgers zu Sznlatsch. Nach drei Tagen fand man sie in einer Neqnisitenlade zu einer Feuerspritze mit klaffenden Schnittwunde» am Halse; das Blut war vollkommen abgelassen. An dem Abende, wo man die Kinder vermißte, waren eine Menge fremder Juden im Hofe des jüdischen Gutsbesitzers Alexander Ehrenfeld gesehen worden; am nächstell Tage bemerkte der Kirchendiener der dortigen evangelischen Gemeinde, als er bei dem Hofe des Juden vorbei nach der Kirche ging, Blutstropfen auf der Erde, die sich längs der Ehrenfeldschen Hofmauer bis zu jener Remise, etwa fünfzig Schritte weit, fortsetzten, wo die Leichen dann gefunden wurden. Marezianyi versichert, daß täglich aus deu verschiedensten Gegenden Ungarns durchweg obrigkeitlich bestätigte Meldungen über verschwundene Christenmädchen bei deu Reichstagsabgeordneten von Jstvezy und von Onody einliefen. Auf¬ fällig und zugleich charakteristisch ist die Thatsache, daß sämmtliche abhanden ge¬ kommene Mädchen den ärmeren Volksklassen angehört hatten und die Kinder von Leuten waren, von denen die Juden voraussetzen konnten, daß ihr Verlust kein be- besvndres Aufsehn erregen werde. In keinem der bekannt gewordenen Fälle ver¬ schwanden Mädchen angesehener Familien, von denen anzunehmen koar, daß sie, falls ihnen ein Kind abhanden käme, nach demselben eifrige Nachforschungen anstellen würden. So verschwanden in den Jahren 1873 bis 1881 alljährlich zu Steinamanger regelmäßig vor dem jüdischen Osterfeste oder dein Pasfahfeste ein Mädchen: zwei Stubenmädchen, deren Eltern auf dem Lande wohnten, die Tochter eines armen Schuhmachers und das achtjährige Töchterchen des Kutschers eines jüdischen Gutspächters, deren Spur nie mehr aufgefunden wurde. In allen vier Fällen wurde zwar Untersuchung eingeleitet, blieb aber in allen Fällen erfolglos; der Verdacht richtete sich auf die Juden. Marezicmyi giebt noch mehrere Fülle an, von denen besonders ein 1331 in Petersburg vorgekommener von Interesse ist, wo Juden wegen Ermordung eines Mädchens verurteilt wurden. Zwei Richter erklärten, daß der Mord aus religiösem Aberwitz erfolgt sei; ein dritter konstatirte ebenfalls, daß die rituelle Unthat erwiesen sei, hielt aber den Wahn der Verbrecher, Gott damit ein wohl¬ gefälliges Opfer darzubringen, für einen Milderungsgrnnd; derselben Ansicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/292>, abgerufen am 29.06.2024.