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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

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Das Mädchen von Tisza-Eszlar.

scheinbar zufällig von einem Juden an der Hand beim Backen verwundet und
genötigt niurdeu, das aus der Wunde fließende Blut in das Brot zu kneten,
oder gegen ein Geldgeschenk verleitet winden, einem Juden "einige Tropfen
Blut" abzulassen, immer zur Zeit des jüdischen Osterfestes.

Am Sonnabend vor dem jüdischen Osterfeste des Jahres 1880 machte die
Gemahlin eines Gutsbesitzers, Frau von Lehoczky, in Begleitung mehrerer
Lnndedellente einen Spaziergang außerhalb der Stadt Balassa-Gycirmcit. Als
die Gesellschaft bei der Synagoge der dortigen Judengemeinde vorüberkam,
drangen plötzlich laute, dann unterdrückte Hilferufe aus dem Innern der Syna¬
goge. Da das Hauptthor versperrt war, so schlugen die Edelleute mit der Axt
eines eben vorübergehenden Handwerkers eine Thür ein, welche auf die Fraucn-
galeric der Synagoge führte. Als sie eingedrungen waren, fanden sie mehrere
Juden um ein 15--löjcihriges Mu'beben beschäftigt, welche gebunden und bereits
bis auf das Hemd entkleidet war. Die Juden waren einen Augenblick bestürzt;
bald aber sammelten sie sich und erklärten nun, das Mädchen habe einem von
ihnen die Brieftasche gestohlen, und weil es geläugnet, habe man es entkleidet
und die bei ihr vorgefundene Brieftasche ihr abgenommen. Man habe es deshalb
gebunden, weil die über so frechen Diebstahl entrüsteten Gläubigen das Mädchen,
welches sie in ihrer Andacht gestört habe, der Behörde hätten übergeben wollen.
Das Mädchen schwur, nachdem es wieder zu sich gekommen war, hoch und teuer,
daß es nnter einem nichtigen Vorwand in die Synagoge gelockt worden sei; da
aber sämmtliche Juden schworen, daß das Mädchen den Diebstahl verübt habe,
die Brieftasche auch wirklich in den Kleidern des Mädchens vorgefunden wurde
und kein Belastungszeuge vorhanden war, so mußte die gegen die Juden an¬
gestrengte Untersuchung eingestellt werden. Das junge Mädchen, namens Minna
Bartok, siechte seitdem infolge der ausgestandenen Todesangst dahin und starb
nach dreiviertel Jahren.

Ein ungarischer Reichstngsdepntirter meldet aus dem Zalaer Komitatc nnter
Beifügung amtlicher Beweismittel dem Redakteur des Függetlenseg, eines un¬
garischen nichtsemitischen Blattes, Julins Verhvvay, folgenden Fall. Un¬
mittelbar vor den jüdischen Ostern dieses Jahres schickte der zu Kovaevi im
Barfer Kvmitate wohnhafte Jude Leopold Grünwald die bei ihm in Dienst ge¬
wesene siebzehnjährige Barbara Kleemann, eine Zipser Sächsin, abends 19 Uhr
in das benachbarte Dorf Peßer mit dem Auftrage, sie möge eine im dortigen
Wirtshause vergessene Geldtasche heimholen. Als das Mädchen dort eintrat,
fand sie nnr den jüngern Vrnder ihres Auftraggebers und den Schuaster der
Judengemeinde vor. Ewige Minnten nach ihrem Erscheinen trat plötzlich mich
ihr Dienstherr, der ihr also ans dem Fuße gefolgt war, in das Zimmer des
verlassenen, abseits stehenden Wirtshauses. Nun machten sich die drei Juden
über das Mädchen her, entkleideten es vollständig und banden ihm Hände und
Füße. Aber ehe man dem Mädchen hatte den Mund verstopfen können, hatte


Das Mädchen von Tisza-Eszlar.

scheinbar zufällig von einem Juden an der Hand beim Backen verwundet und
genötigt niurdeu, das aus der Wunde fließende Blut in das Brot zu kneten,
oder gegen ein Geldgeschenk verleitet winden, einem Juden „einige Tropfen
Blut" abzulassen, immer zur Zeit des jüdischen Osterfestes.

Am Sonnabend vor dem jüdischen Osterfeste des Jahres 1880 machte die
Gemahlin eines Gutsbesitzers, Frau von Lehoczky, in Begleitung mehrerer
Lnndedellente einen Spaziergang außerhalb der Stadt Balassa-Gycirmcit. Als
die Gesellschaft bei der Synagoge der dortigen Judengemeinde vorüberkam,
drangen plötzlich laute, dann unterdrückte Hilferufe aus dem Innern der Syna¬
goge. Da das Hauptthor versperrt war, so schlugen die Edelleute mit der Axt
eines eben vorübergehenden Handwerkers eine Thür ein, welche auf die Fraucn-
galeric der Synagoge führte. Als sie eingedrungen waren, fanden sie mehrere
Juden um ein 15—löjcihriges Mu'beben beschäftigt, welche gebunden und bereits
bis auf das Hemd entkleidet war. Die Juden waren einen Augenblick bestürzt;
bald aber sammelten sie sich und erklärten nun, das Mädchen habe einem von
ihnen die Brieftasche gestohlen, und weil es geläugnet, habe man es entkleidet
und die bei ihr vorgefundene Brieftasche ihr abgenommen. Man habe es deshalb
gebunden, weil die über so frechen Diebstahl entrüsteten Gläubigen das Mädchen,
welches sie in ihrer Andacht gestört habe, der Behörde hätten übergeben wollen.
Das Mädchen schwur, nachdem es wieder zu sich gekommen war, hoch und teuer,
daß es nnter einem nichtigen Vorwand in die Synagoge gelockt worden sei; da
aber sämmtliche Juden schworen, daß das Mädchen den Diebstahl verübt habe,
die Brieftasche auch wirklich in den Kleidern des Mädchens vorgefunden wurde
und kein Belastungszeuge vorhanden war, so mußte die gegen die Juden an¬
gestrengte Untersuchung eingestellt werden. Das junge Mädchen, namens Minna
Bartok, siechte seitdem infolge der ausgestandenen Todesangst dahin und starb
nach dreiviertel Jahren.

Ein ungarischer Reichstngsdepntirter meldet aus dem Zalaer Komitatc nnter
Beifügung amtlicher Beweismittel dem Redakteur des Függetlenseg, eines un¬
garischen nichtsemitischen Blattes, Julins Verhvvay, folgenden Fall. Un¬
mittelbar vor den jüdischen Ostern dieses Jahres schickte der zu Kovaevi im
Barfer Kvmitate wohnhafte Jude Leopold Grünwald die bei ihm in Dienst ge¬
wesene siebzehnjährige Barbara Kleemann, eine Zipser Sächsin, abends 19 Uhr
in das benachbarte Dorf Peßer mit dem Auftrage, sie möge eine im dortigen
Wirtshause vergessene Geldtasche heimholen. Als das Mädchen dort eintrat,
fand sie nnr den jüngern Vrnder ihres Auftraggebers und den Schuaster der
Judengemeinde vor. Ewige Minnten nach ihrem Erscheinen trat plötzlich mich
ihr Dienstherr, der ihr also ans dem Fuße gefolgt war, in das Zimmer des
verlassenen, abseits stehenden Wirtshauses. Nun machten sich die drei Juden
über das Mädchen her, entkleideten es vollständig und banden ihm Hände und
Füße. Aber ehe man dem Mädchen hatte den Mund verstopfen können, hatte


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/290>, abgerufen am 29.06.2024.