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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

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Gin neuprovenzalisches Lpos.

Belvunderuug, die Mistrals Werk in Paris gefunden hat. Der Hauptreiz
desselben liegt darin, daß es nicht mehr und nicht weniger ist als eine dichterische
Verherrlichung der Provence überhaupt, Land und Leute, Beschäftigungen,
Sitten, Gewohnheiten, die verschiedensten ländlichen Verufszweige, der Aber¬
glaube, die Sage, die Geschichte des Landes -- alles wird uns im Spiegelbilde
dieser Erzählung vorgeführt. Hierdurch erhält das Gedacht seine eigenartige
Naturwahrheit, seiue Frische und Lebendigkeit. Trotz der umfassenden Voll¬
ständigkeit der Schilderung tritt nirgends eine Absichtlichkeit des Dichters un-
angenehm herein; alles fügt sich natürlich und von selbst. Bei den Erzählungen
des Vincenz von seinen Beschäftigungen, vom Wunder der heiligen Marien er¬
wacht die Liebe der Mireia; das gemeinschaftliche Abstreife" der Blätter des
Maulbeerbaums giebt den Anlaß, daß beide sich ihre Liebe gestehen; als die
jungen Mädchen versammelt sind, um die Puppen und Seidenwürmer von den
Zweigen zu lösen und sich die Zeit mit Gesprächen vertreiben, wird das Ge¬
heimnis der jungen Liebe verraten; die Vernfszweige der Nebenbuhler des
Vincenz, des Schäfers Alari, des Pferdezüchters Veran, des Ochsentreibers (oder
wohl richtiger Viehhändlers) Ourrias stelle" sich von selbst dar; die verschiednen
Schauplätze der Handlung führen uus das gesamte Gebiet der Provence vor
Augen: den Rhonestrand, die hügligen Ufer, die öde Uferebeue der Crau, das
svnnigheiße Delta der Camargue, Tarascon, Nimes, Avignon; aus dem reichen
Sagenschntz des Laudes quellen unablässig neue Sagen in die Erzählung hinein;
die alte selbständige wie die päpstliche Vergangenheit des Landes leben gleicher¬
maßen in der Erinnerung fort, wie die napoleonische allgemein-französische --
kurz die ganze Lebensfülle des geographisch, literatur- und kulturhistorisch so
eigenartig entwickelten Laudes tritt uus in lebendigster Anschaulichkeit entgegen
in einer Darstellung, der die begeisterte Liebe des Eingebornen gleichermaßen
wie die Begabung des echten Dichters die hellsten Farben und den zartesten Duft
verliehen hat.

Daher die große Wirkung dieses Gedichtes in Frankreich, als es 1359
erschien und zunächst an Lamartine, dem der Dichter empfohlen war, einen be¬
geisterten Lobredner fand. Freilich war es den meisten nnr in der Übersetzung
ins Französische zugänglich, und viele werden es vielleicht nur aus der Oper,
die Gounot daraus gemacht hat, kennen gelernt haben. Daß die französische
Akademie, die das Gedicht um 29. Angust 1W1 krönte, diese Auszeichnung in
der vollen Erkenntnis seines Wertes verliehen hat, könnte fraglich erscheinen,
wenn man liest, daß Mireia als "ein die guten Sitten beförderndes Werk" z"
diesem Ruhmestitel gelangt ist. In einem Aufsatz, der "Die literarische Wieder¬
geburt in der Provence" betitelt ist und den Herr Gustav Dorieux der von
seiner Gemahlin besorgten Übersetzung der Mirein vorausschickt, ist die Würdigung,
die Lamartine dem Epos in seinem (^uni" lanrillcvi- <it; ^lltörilluro angedeihen
läßt, ausführlich wiedergegeben. und die Begeisterung des greisen Meisters für


Gin neuprovenzalisches Lpos.

Belvunderuug, die Mistrals Werk in Paris gefunden hat. Der Hauptreiz
desselben liegt darin, daß es nicht mehr und nicht weniger ist als eine dichterische
Verherrlichung der Provence überhaupt, Land und Leute, Beschäftigungen,
Sitten, Gewohnheiten, die verschiedensten ländlichen Verufszweige, der Aber¬
glaube, die Sage, die Geschichte des Landes — alles wird uns im Spiegelbilde
dieser Erzählung vorgeführt. Hierdurch erhält das Gedacht seine eigenartige
Naturwahrheit, seiue Frische und Lebendigkeit. Trotz der umfassenden Voll¬
ständigkeit der Schilderung tritt nirgends eine Absichtlichkeit des Dichters un-
angenehm herein; alles fügt sich natürlich und von selbst. Bei den Erzählungen
des Vincenz von seinen Beschäftigungen, vom Wunder der heiligen Marien er¬
wacht die Liebe der Mireia; das gemeinschaftliche Abstreife» der Blätter des
Maulbeerbaums giebt den Anlaß, daß beide sich ihre Liebe gestehen; als die
jungen Mädchen versammelt sind, um die Puppen und Seidenwürmer von den
Zweigen zu lösen und sich die Zeit mit Gesprächen vertreiben, wird das Ge¬
heimnis der jungen Liebe verraten; die Vernfszweige der Nebenbuhler des
Vincenz, des Schäfers Alari, des Pferdezüchters Veran, des Ochsentreibers (oder
wohl richtiger Viehhändlers) Ourrias stelle» sich von selbst dar; die verschiednen
Schauplätze der Handlung führen uus das gesamte Gebiet der Provence vor
Augen: den Rhonestrand, die hügligen Ufer, die öde Uferebeue der Crau, das
svnnigheiße Delta der Camargue, Tarascon, Nimes, Avignon; aus dem reichen
Sagenschntz des Laudes quellen unablässig neue Sagen in die Erzählung hinein;
die alte selbständige wie die päpstliche Vergangenheit des Landes leben gleicher¬
maßen in der Erinnerung fort, wie die napoleonische allgemein-französische —
kurz die ganze Lebensfülle des geographisch, literatur- und kulturhistorisch so
eigenartig entwickelten Laudes tritt uus in lebendigster Anschaulichkeit entgegen
in einer Darstellung, der die begeisterte Liebe des Eingebornen gleichermaßen
wie die Begabung des echten Dichters die hellsten Farben und den zartesten Duft
verliehen hat.

Daher die große Wirkung dieses Gedichtes in Frankreich, als es 1359
erschien und zunächst an Lamartine, dem der Dichter empfohlen war, einen be¬
geisterten Lobredner fand. Freilich war es den meisten nnr in der Übersetzung
ins Französische zugänglich, und viele werden es vielleicht nur aus der Oper,
die Gounot daraus gemacht hat, kennen gelernt haben. Daß die französische
Akademie, die das Gedicht um 29. Angust 1W1 krönte, diese Auszeichnung in
der vollen Erkenntnis seines Wertes verliehen hat, könnte fraglich erscheinen,
wenn man liest, daß Mireia als „ein die guten Sitten beförderndes Werk" z»
diesem Ruhmestitel gelangt ist. In einem Aufsatz, der „Die literarische Wieder¬
geburt in der Provence" betitelt ist und den Herr Gustav Dorieux der von
seiner Gemahlin besorgten Übersetzung der Mirein vorausschickt, ist die Würdigung,
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[0230] Gin neuprovenzalisches Lpos. Belvunderuug, die Mistrals Werk in Paris gefunden hat. Der Hauptreiz desselben liegt darin, daß es nicht mehr und nicht weniger ist als eine dichterische Verherrlichung der Provence überhaupt, Land und Leute, Beschäftigungen, Sitten, Gewohnheiten, die verschiedensten ländlichen Verufszweige, der Aber¬ glaube, die Sage, die Geschichte des Landes — alles wird uns im Spiegelbilde dieser Erzählung vorgeführt. Hierdurch erhält das Gedacht seine eigenartige Naturwahrheit, seiue Frische und Lebendigkeit. Trotz der umfassenden Voll¬ ständigkeit der Schilderung tritt nirgends eine Absichtlichkeit des Dichters un- angenehm herein; alles fügt sich natürlich und von selbst. Bei den Erzählungen des Vincenz von seinen Beschäftigungen, vom Wunder der heiligen Marien er¬ wacht die Liebe der Mireia; das gemeinschaftliche Abstreife» der Blätter des Maulbeerbaums giebt den Anlaß, daß beide sich ihre Liebe gestehen; als die jungen Mädchen versammelt sind, um die Puppen und Seidenwürmer von den Zweigen zu lösen und sich die Zeit mit Gesprächen vertreiben, wird das Ge¬ heimnis der jungen Liebe verraten; die Vernfszweige der Nebenbuhler des Vincenz, des Schäfers Alari, des Pferdezüchters Veran, des Ochsentreibers (oder wohl richtiger Viehhändlers) Ourrias stelle» sich von selbst dar; die verschiednen Schauplätze der Handlung führen uus das gesamte Gebiet der Provence vor Augen: den Rhonestrand, die hügligen Ufer, die öde Uferebeue der Crau, das svnnigheiße Delta der Camargue, Tarascon, Nimes, Avignon; aus dem reichen Sagenschntz des Laudes quellen unablässig neue Sagen in die Erzählung hinein; die alte selbständige wie die päpstliche Vergangenheit des Landes leben gleicher¬ maßen in der Erinnerung fort, wie die napoleonische allgemein-französische — kurz die ganze Lebensfülle des geographisch, literatur- und kulturhistorisch so eigenartig entwickelten Laudes tritt uus in lebendigster Anschaulichkeit entgegen in einer Darstellung, der die begeisterte Liebe des Eingebornen gleichermaßen wie die Begabung des echten Dichters die hellsten Farben und den zartesten Duft verliehen hat. Daher die große Wirkung dieses Gedichtes in Frankreich, als es 1359 erschien und zunächst an Lamartine, dem der Dichter empfohlen war, einen be¬ geisterten Lobredner fand. Freilich war es den meisten nnr in der Übersetzung ins Französische zugänglich, und viele werden es vielleicht nur aus der Oper, die Gounot daraus gemacht hat, kennen gelernt haben. Daß die französische Akademie, die das Gedicht um 29. Angust 1W1 krönte, diese Auszeichnung in der vollen Erkenntnis seines Wertes verliehen hat, könnte fraglich erscheinen, wenn man liest, daß Mireia als „ein die guten Sitten beförderndes Werk" z» diesem Ruhmestitel gelangt ist. In einem Aufsatz, der „Die literarische Wieder¬ geburt in der Provence" betitelt ist und den Herr Gustav Dorieux der von seiner Gemahlin besorgten Übersetzung der Mirein vorausschickt, ist die Würdigung, die Lamartine dem Epos in seinem (^uni« lanrillcvi- <it; ^lltörilluro angedeihen läßt, ausführlich wiedergegeben. und die Begeisterung des greisen Meisters für

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/230>, abgerufen am 29.06.2024.