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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

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in keinem unmittelbaren Zusammenhang, die Überlieferung zwischen beiden ist
unterbrochen. Nur eine -- wenn man will -- unterirdische Verbindung beider
Perioden könnte mau annehmen; denn nicht uur die Sprache hat fortexistirt,
eines die Dichtkunst hat im Volksmunde ein unbeachtetes Dasein gefristet; und
in dieser haben wir die Quelle zu suchen, aus der die ueuprovenzalische Dichtung
entsprungen oder sagen wir richtiger abgeleitet worden ist. Wenigstens sagt der
Dichter des hervorragendsten unter den neuproveuzalischeu Dichtwerkeu, des Epos
"Mireia," Friedrich Mistral,*) in seiner Selbstbiographie von den pro-
benzalischen Gesängen, die er aus dem Munde seiner Mutter vernommen, daß
sie sein Herz immer mit Sehnsucht erfüllt und seine Liebe für die Provence und
ihre Eigenart entfacht hätten.

Die neuproveuzalische Dichterschule hat in Frankreich selbst nur eine ver¬
hältnismäßig geringe Beachtung gefunden; größere Aufmerksamkeit hat man ihr
nur geschenkt, als es sich um deu Vorwurf handelte, daß sie politische Trenuuugs-
gelüste hege und an eine besondre Gestaltung Südfrankreichs oder an eine An¬
lehnung an das Sprachverwandte Spanien denke. In diesen: Sinne hat man den
Bund der Felibres gedeutet, deu unter Roumanilles Leitung eine Anzahl be¬
geisterter Freunde ihres Landes und ihrer Sprache schlössen, um den proven-
zalischen Dialekt und die provenzalische Dichtkunst zu pflegen. Nur eines der
Erzeugnisse eines Gliedes dieses Bundes hat auch im übrigen Frankreich, d. h.

Paris. Beachtuug, ja begeisterte Ausnahme gefunden und sogar den Triumph
der Preiskrönung durch die französische Akademie davongetragen: das eben ge¬
nannte Gedicht "Mireia" (oder in der provenzalischen Form wohl Mireio).
Uns Deutschen ist es dnrch eine Übersetzung der Frau B.-M. Dvrieux-Brot-
beck zugänglich gemacht worden, die zugleich manchen interessanten Veitrag
zur nähern Kenntnis des Dichters und seiner und verwandter Bestrebungen
beibringt.

Mireia ist der Name der Heldin, eines provenzalischen Mädchens; das
Gedicht schildert die Liebe dieser wohlhabenden Gutsbesitzerstochter zu Vincenz,
dem Sohne des armen Korbflechters Ambrosius, eine Liebe, die von den Eltern
der Mireia gemißbilligt wird und nach mannichfachen Anfechtungen damit endet,
daß Mireia, um einer verhaßten, ihr aufgezwungenen Heirat zu entgehen, vom
Haust entflieht und zu den "heiligen Marien" flüchtet, anf der Wanderung
durch die öde Ccuuargue aber von: Sonnenstich getroffen wird und zu deu Füßen
der Heiliqeu stirbt.

Wiewohl diese einfach-rührende Geschichte mit großer Zartheit und Wärme
^'zahlt ist, so erklärt sich doch daraus allein nicht der große Erfolg und die



^ Friedrich Mistral, Mireia. Prooenzalisches Gedicht in zwölf Gesängen. Preis-
^krönt von der französischen Akademie. Mit selbstbiographischer Vorrede des Verfassers,
Einleitung, Anmerkungen n. f. w. Übersetzung in Versen von Frau B.-M. Dorten
Vrotbeck. Heilbronn, Gebr. Henninger, 1880. 1'nriK, I.idrmrio Msmimüv v. Hau.r.
Grenzboten IV. Z882.

in keinem unmittelbaren Zusammenhang, die Überlieferung zwischen beiden ist
unterbrochen. Nur eine — wenn man will — unterirdische Verbindung beider
Perioden könnte mau annehmen; denn nicht uur die Sprache hat fortexistirt,
eines die Dichtkunst hat im Volksmunde ein unbeachtetes Dasein gefristet; und
in dieser haben wir die Quelle zu suchen, aus der die ueuprovenzalische Dichtung
entsprungen oder sagen wir richtiger abgeleitet worden ist. Wenigstens sagt der
Dichter des hervorragendsten unter den neuproveuzalischeu Dichtwerkeu, des Epos
„Mireia," Friedrich Mistral,*) in seiner Selbstbiographie von den pro-
benzalischen Gesängen, die er aus dem Munde seiner Mutter vernommen, daß
sie sein Herz immer mit Sehnsucht erfüllt und seine Liebe für die Provence und
ihre Eigenart entfacht hätten.

Die neuproveuzalische Dichterschule hat in Frankreich selbst nur eine ver¬
hältnismäßig geringe Beachtung gefunden; größere Aufmerksamkeit hat man ihr
nur geschenkt, als es sich um deu Vorwurf handelte, daß sie politische Trenuuugs-
gelüste hege und an eine besondre Gestaltung Südfrankreichs oder an eine An¬
lehnung an das Sprachverwandte Spanien denke. In diesen: Sinne hat man den
Bund der Felibres gedeutet, deu unter Roumanilles Leitung eine Anzahl be¬
geisterter Freunde ihres Landes und ihrer Sprache schlössen, um den proven-
zalischen Dialekt und die provenzalische Dichtkunst zu pflegen. Nur eines der
Erzeugnisse eines Gliedes dieses Bundes hat auch im übrigen Frankreich, d. h.

Paris. Beachtuug, ja begeisterte Ausnahme gefunden und sogar den Triumph
der Preiskrönung durch die französische Akademie davongetragen: das eben ge¬
nannte Gedicht „Mireia" (oder in der provenzalischen Form wohl Mireio).
Uns Deutschen ist es dnrch eine Übersetzung der Frau B.-M. Dvrieux-Brot-
beck zugänglich gemacht worden, die zugleich manchen interessanten Veitrag
zur nähern Kenntnis des Dichters und seiner und verwandter Bestrebungen
beibringt.

Mireia ist der Name der Heldin, eines provenzalischen Mädchens; das
Gedicht schildert die Liebe dieser wohlhabenden Gutsbesitzerstochter zu Vincenz,
dem Sohne des armen Korbflechters Ambrosius, eine Liebe, die von den Eltern
der Mireia gemißbilligt wird und nach mannichfachen Anfechtungen damit endet,
daß Mireia, um einer verhaßten, ihr aufgezwungenen Heirat zu entgehen, vom
Haust entflieht und zu den „heiligen Marien" flüchtet, anf der Wanderung
durch die öde Ccuuargue aber von: Sonnenstich getroffen wird und zu deu Füßen
der Heiliqeu stirbt.

Wiewohl diese einfach-rührende Geschichte mit großer Zartheit und Wärme
^'zahlt ist, so erklärt sich doch daraus allein nicht der große Erfolg und die



^ Friedrich Mistral, Mireia. Prooenzalisches Gedicht in zwölf Gesängen. Preis-
^krönt von der französischen Akademie. Mit selbstbiographischer Vorrede des Verfassers,
Einleitung, Anmerkungen n. f. w. Übersetzung in Versen von Frau B.-M. Dorten
Vrotbeck. Heilbronn, Gebr. Henninger, 1880. 1'nriK, I.idrmrio Msmimüv v. Hau.r.
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[0229] in keinem unmittelbaren Zusammenhang, die Überlieferung zwischen beiden ist unterbrochen. Nur eine — wenn man will — unterirdische Verbindung beider Perioden könnte mau annehmen; denn nicht uur die Sprache hat fortexistirt, eines die Dichtkunst hat im Volksmunde ein unbeachtetes Dasein gefristet; und in dieser haben wir die Quelle zu suchen, aus der die ueuprovenzalische Dichtung entsprungen oder sagen wir richtiger abgeleitet worden ist. Wenigstens sagt der Dichter des hervorragendsten unter den neuproveuzalischeu Dichtwerkeu, des Epos „Mireia," Friedrich Mistral,*) in seiner Selbstbiographie von den pro- benzalischen Gesängen, die er aus dem Munde seiner Mutter vernommen, daß sie sein Herz immer mit Sehnsucht erfüllt und seine Liebe für die Provence und ihre Eigenart entfacht hätten. Die neuproveuzalische Dichterschule hat in Frankreich selbst nur eine ver¬ hältnismäßig geringe Beachtung gefunden; größere Aufmerksamkeit hat man ihr nur geschenkt, als es sich um deu Vorwurf handelte, daß sie politische Trenuuugs- gelüste hege und an eine besondre Gestaltung Südfrankreichs oder an eine An¬ lehnung an das Sprachverwandte Spanien denke. In diesen: Sinne hat man den Bund der Felibres gedeutet, deu unter Roumanilles Leitung eine Anzahl be¬ geisterter Freunde ihres Landes und ihrer Sprache schlössen, um den proven- zalischen Dialekt und die provenzalische Dichtkunst zu pflegen. Nur eines der Erzeugnisse eines Gliedes dieses Bundes hat auch im übrigen Frankreich, d. h. Paris. Beachtuug, ja begeisterte Ausnahme gefunden und sogar den Triumph der Preiskrönung durch die französische Akademie davongetragen: das eben ge¬ nannte Gedicht „Mireia" (oder in der provenzalischen Form wohl Mireio). Uns Deutschen ist es dnrch eine Übersetzung der Frau B.-M. Dvrieux-Brot- beck zugänglich gemacht worden, die zugleich manchen interessanten Veitrag zur nähern Kenntnis des Dichters und seiner und verwandter Bestrebungen beibringt. Mireia ist der Name der Heldin, eines provenzalischen Mädchens; das Gedicht schildert die Liebe dieser wohlhabenden Gutsbesitzerstochter zu Vincenz, dem Sohne des armen Korbflechters Ambrosius, eine Liebe, die von den Eltern der Mireia gemißbilligt wird und nach mannichfachen Anfechtungen damit endet, daß Mireia, um einer verhaßten, ihr aufgezwungenen Heirat zu entgehen, vom Haust entflieht und zu den „heiligen Marien" flüchtet, anf der Wanderung durch die öde Ccuuargue aber von: Sonnenstich getroffen wird und zu deu Füßen der Heiliqeu stirbt. Wiewohl diese einfach-rührende Geschichte mit großer Zartheit und Wärme ^'zahlt ist, so erklärt sich doch daraus allein nicht der große Erfolg und die ^ Friedrich Mistral, Mireia. Prooenzalisches Gedicht in zwölf Gesängen. Preis- ^krönt von der französischen Akademie. Mit selbstbiographischer Vorrede des Verfassers, Einleitung, Anmerkungen n. f. w. Übersetzung in Versen von Frau B.-M. Dorten Vrotbeck. Heilbronn, Gebr. Henninger, 1880. 1'nriK, I.idrmrio Msmimüv v. Hau.r. Grenzboten IV. Z882.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/229>, abgerufen am 29.06.2024.