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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal.

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seit zwei Jahrhunderten Zeugnis von der ungebrochenen Kraft unsers Volks
ablegt, um so aufrichtiger ist es zu beklagen, daß es nicht hat gelingen wollen,
das religiöse Bewußtsein in der Gesammtheit der Nation lebendig zu erhalten.
Durch ein vorurteilsloses Zusammengehen mit der wissenschaftlichen Arbeit Hütte
eine sittliche -- sit, vsnia vsrdv -- einerseits die Ideen über das Jenseitige aus
der mittelalterlichen Form erlösen und zu lebendiger Wirkung erneuern können
und andrerseits die Wissenschaft von der Nntnr und vom Menschen vor ein¬
seitig mechanischer Auffassung ihres eigenen Gegenstandes fernhalten müssen.
Anstatt dessen ist die Reformationsidee, die befreiendste seit fast zweitausend
Jahren, in ihrer Entwicklung verkümmert und verflacht, die Weltanschauung sehr
weiter Kreise ist, vou deu Erfolgen des Ntomismus berauscht, zur Leugnung
jedes nicht unmittelbar sinnlich faßlichen Elements in der Natnrerklärnng ge¬
schritten, und in gerechter Besorgnis vor den Folgen dieser Anschauungsweise
ist von gutgesinnten, aber nicht vorzugsweise klarsehenden der Versuch, der hoff¬
nungsloseste von allen, gemacht worden, durch geflissentliche Stärkung konfessio¬
neller Anschauungen die allgemein religiösen zu retten.

Nur durch eine Kritik des naturwissenschaftlich-uiechanischen Standpunktes,
welche die Lückenhaftigkeit seiner Voraussetzungen, die Mangelhaftigkeit seiner
Schlüsse bloslegt, läßt sich ein fester Boden für die Neugestaltung religiösen
Lebens gewinnen. Das alte Wort des Epikur, daß die Götter in den Zwischen¬
räumen der Welt wohnen, hat ein moderner Forscher dahin geändert: in den
Zwischenräumen unsrer Erkenntnis der Welt. Und nichts kann treffender sein.
Wenn ein Prinzip von so außerordentlicher Faßlichkeit, von so unwiderstehlicher
Anwendbarkeit wie das mechanisch-atomistische uicht uur um vielen entscheidenden
Punkten ans unlösbare Widersprüche gerät, sondern im Verlauf feiner Anwen¬
dung selbst zur Verflüchtigung seines eignen Begriffs führt, so darf man mit
Sicherheit schließen, daß es unbeschadet seines Herrscherrechts im Gebiete der
sinnlichen Natur doch deu Zusammenhang der Dinge nicht aus seinem letzten
Grunde, der ja notwendig ein einheitlicher sein muß, verständlich macht. Es
gilt innerhalb der sinnlichen Welt nach einer übersinnlichen zu suchen, und es
sind Gründe geung vorHandel,, welche uns annehmen lassen, daß die Gesammt¬
heit der nnserm Begreifen zugänglichen Dinge uur das Bruchstück einer um-
fassenderen Ordnung ist. Die Gesetze, die für den Teil gelten sollen, müssen
freilich anch für das Ganze gelten; wie sollten wir sonst der Hoffnung leben,
jemals ahnen zu können, ob eine und die andre Tcilerscheinung dem Sinne des
Ganzen zuwiderläuft oder entspricht? Aber dem Blicke, der nur bis an die
Grenzen des Teils reicht, erscheinen auch die Gesetze dieses Theils anders als
dem vom Mittelpunkte des Ganzen ausgehenden; überall sieht er gerade die
Punkte in falscher Perspektive, in denen der Teil mit dem Ganzen zusammenhängt.

In dem. was sich innerhalb des Teils über das Ganze denken läßt, muß
der Mensch einen Anhaltepunkt sür seine eigne Bedeutung und dementsprechend


seit zwei Jahrhunderten Zeugnis von der ungebrochenen Kraft unsers Volks
ablegt, um so aufrichtiger ist es zu beklagen, daß es nicht hat gelingen wollen,
das religiöse Bewußtsein in der Gesammtheit der Nation lebendig zu erhalten.
Durch ein vorurteilsloses Zusammengehen mit der wissenschaftlichen Arbeit Hütte
eine sittliche — sit, vsnia vsrdv — einerseits die Ideen über das Jenseitige aus
der mittelalterlichen Form erlösen und zu lebendiger Wirkung erneuern können
und andrerseits die Wissenschaft von der Nntnr und vom Menschen vor ein¬
seitig mechanischer Auffassung ihres eigenen Gegenstandes fernhalten müssen.
Anstatt dessen ist die Reformationsidee, die befreiendste seit fast zweitausend
Jahren, in ihrer Entwicklung verkümmert und verflacht, die Weltanschauung sehr
weiter Kreise ist, vou deu Erfolgen des Ntomismus berauscht, zur Leugnung
jedes nicht unmittelbar sinnlich faßlichen Elements in der Natnrerklärnng ge¬
schritten, und in gerechter Besorgnis vor den Folgen dieser Anschauungsweise
ist von gutgesinnten, aber nicht vorzugsweise klarsehenden der Versuch, der hoff¬
nungsloseste von allen, gemacht worden, durch geflissentliche Stärkung konfessio¬
neller Anschauungen die allgemein religiösen zu retten.

Nur durch eine Kritik des naturwissenschaftlich-uiechanischen Standpunktes,
welche die Lückenhaftigkeit seiner Voraussetzungen, die Mangelhaftigkeit seiner
Schlüsse bloslegt, läßt sich ein fester Boden für die Neugestaltung religiösen
Lebens gewinnen. Das alte Wort des Epikur, daß die Götter in den Zwischen¬
räumen der Welt wohnen, hat ein moderner Forscher dahin geändert: in den
Zwischenräumen unsrer Erkenntnis der Welt. Und nichts kann treffender sein.
Wenn ein Prinzip von so außerordentlicher Faßlichkeit, von so unwiderstehlicher
Anwendbarkeit wie das mechanisch-atomistische uicht uur um vielen entscheidenden
Punkten ans unlösbare Widersprüche gerät, sondern im Verlauf feiner Anwen¬
dung selbst zur Verflüchtigung seines eignen Begriffs führt, so darf man mit
Sicherheit schließen, daß es unbeschadet seines Herrscherrechts im Gebiete der
sinnlichen Natur doch deu Zusammenhang der Dinge nicht aus seinem letzten
Grunde, der ja notwendig ein einheitlicher sein muß, verständlich macht. Es
gilt innerhalb der sinnlichen Welt nach einer übersinnlichen zu suchen, und es
sind Gründe geung vorHandel,, welche uns annehmen lassen, daß die Gesammt¬
heit der nnserm Begreifen zugänglichen Dinge uur das Bruchstück einer um-
fassenderen Ordnung ist. Die Gesetze, die für den Teil gelten sollen, müssen
freilich anch für das Ganze gelten; wie sollten wir sonst der Hoffnung leben,
jemals ahnen zu können, ob eine und die andre Tcilerscheinung dem Sinne des
Ganzen zuwiderläuft oder entspricht? Aber dem Blicke, der nur bis an die
Grenzen des Teils reicht, erscheinen auch die Gesetze dieses Theils anders als
dem vom Mittelpunkte des Ganzen ausgehenden; überall sieht er gerade die
Punkte in falscher Perspektive, in denen der Teil mit dem Ganzen zusammenhängt.

In dem. was sich innerhalb des Teils über das Ganze denken läßt, muß
der Mensch einen Anhaltepunkt sür seine eigne Bedeutung und dementsprechend


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_193340/80>, abgerufen am 03.07.2024.