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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal.

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Das Testament eines Deutschen.

eine Richtschnur für sein Verhalten gegen den übrigen Inhalt des Teils, für
sein sittliches Verhalten gewinnen. Und so gewiß von den einfachen Verhält¬
nissen der rohesten Stämme bis zu dem unendlich bereicherten Leben der Gegen¬
wart die Gedanken der Menschen über das Übersinnliche das bestimmende
Zentrum für alle Richtungen ihrer Kultur gebildet haben, so gewiß muß für
die Geschlechter unsrer Zeit eine Ausgestaltung des metaphysischen Gedankens
gefunden werden, die den Ansprüchen des Philosophen wie denen des Arbeiters
genügt. Wollen wir unser Volk vor den Stürmen bewahren, die ein entfesselter
Kultus der Interessen der eignen Person mit sich bringt, so ist es gut, zeitig
den Gedanken hvchznhnlten, daß der Einzelne sich der Allgemeinheit nicht bloß
in der Erfüllung staatlicher Gesetze unterzuordnen hat, sondern in seinem ganzen
Wollen, in der Führung seines Lebens, in der Gestaltung seines Lebensideals.

Die vorstehenden Erwägungen haben uns mitten in den Gedankcngnng eines
Buches geführt, in dem alles, was wir uns nur anzudeuten erlauben konnten,
ausführlich und in anregendster Weise entwickelt ist. Ans dem Nachlasse von
K. Chr. Planck ist als Testament eines Deutschen eine "Philosophie der
Natur und der Menschheit" erschienen, der wir die nachhaltigste Veherzigung
wünschen.^) Nicht freilich, als sei nur zu loben. Schon der erste Teil des
Buches ruft energischen Widerspruch hervor. Er enthält den Versuch, der mo¬
dernen Atomlehre eine Ansicht über das Wesen des Realen entgegenzusetzen,
welche als einfachsten Ausdruck desselben den "stetigen Unterschied eines Aus¬
gedehnten" erkennt. Schon der Beweggrund zu diesem Versuch ist schwer zu
begreifen. sollen wir wirklich den Vorwurf als stichhaltig gelten lassen, daß
die Atomlehre, weil sie das Weltall in unzählige für sich bestehende Teilchen
zerreißt, den Individualismus, die Eigensucht fördert, die ein Krebsschaden unsrer
Kultur ist? Hebt nicht vielmehr die Annahme, daß nicht die Atome für sich,
sondern ihre wechselseitige Lage und die von dieser Lage abhängende Wirkung
aufeinander das System der Naturkräfte hervorbringt, jede Sonderstellung des
Einzelnen auf? Sind nicht alle Besonnenen darüber einig, daß nur der plumpste
Materialismus die Atome als eigenschaftsbegabte Körper betrachtet? Liegt nicht
in der Nötigung, dieselben rein als Angriffspunkte der Kraft zu denken, gerade
die Möglichkeit, über die körperhafte Materie hiunuszugelangeu? Wir würden
einen Schritt zurück thun, wenn wir dem mathematischen Kalkül, der uns im
Labyrinth der Erscheinungen am sichersten vor wissenschaftlichen Irrungen be¬
wahrt, durch Aufgebung eines passendsten Substrats den Boden uuter den Füßen
fortzögen; wir wollen uns mit aller Kraft dagegen wehren, daß ein allgemeines
Prinzip früher zur Voraussetzung der Naturwissenschaft gemacht werde, ehe es
das Resultat derselben war.



") Tübingen, Fues, 1382.
Grenzboten III. 18L2,ti)
Das Testament eines Deutschen.

eine Richtschnur für sein Verhalten gegen den übrigen Inhalt des Teils, für
sein sittliches Verhalten gewinnen. Und so gewiß von den einfachen Verhält¬
nissen der rohesten Stämme bis zu dem unendlich bereicherten Leben der Gegen¬
wart die Gedanken der Menschen über das Übersinnliche das bestimmende
Zentrum für alle Richtungen ihrer Kultur gebildet haben, so gewiß muß für
die Geschlechter unsrer Zeit eine Ausgestaltung des metaphysischen Gedankens
gefunden werden, die den Ansprüchen des Philosophen wie denen des Arbeiters
genügt. Wollen wir unser Volk vor den Stürmen bewahren, die ein entfesselter
Kultus der Interessen der eignen Person mit sich bringt, so ist es gut, zeitig
den Gedanken hvchznhnlten, daß der Einzelne sich der Allgemeinheit nicht bloß
in der Erfüllung staatlicher Gesetze unterzuordnen hat, sondern in seinem ganzen
Wollen, in der Führung seines Lebens, in der Gestaltung seines Lebensideals.

Die vorstehenden Erwägungen haben uns mitten in den Gedankcngnng eines
Buches geführt, in dem alles, was wir uns nur anzudeuten erlauben konnten,
ausführlich und in anregendster Weise entwickelt ist. Ans dem Nachlasse von
K. Chr. Planck ist als Testament eines Deutschen eine „Philosophie der
Natur und der Menschheit" erschienen, der wir die nachhaltigste Veherzigung
wünschen.^) Nicht freilich, als sei nur zu loben. Schon der erste Teil des
Buches ruft energischen Widerspruch hervor. Er enthält den Versuch, der mo¬
dernen Atomlehre eine Ansicht über das Wesen des Realen entgegenzusetzen,
welche als einfachsten Ausdruck desselben den „stetigen Unterschied eines Aus¬
gedehnten" erkennt. Schon der Beweggrund zu diesem Versuch ist schwer zu
begreifen. sollen wir wirklich den Vorwurf als stichhaltig gelten lassen, daß
die Atomlehre, weil sie das Weltall in unzählige für sich bestehende Teilchen
zerreißt, den Individualismus, die Eigensucht fördert, die ein Krebsschaden unsrer
Kultur ist? Hebt nicht vielmehr die Annahme, daß nicht die Atome für sich,
sondern ihre wechselseitige Lage und die von dieser Lage abhängende Wirkung
aufeinander das System der Naturkräfte hervorbringt, jede Sonderstellung des
Einzelnen auf? Sind nicht alle Besonnenen darüber einig, daß nur der plumpste
Materialismus die Atome als eigenschaftsbegabte Körper betrachtet? Liegt nicht
in der Nötigung, dieselben rein als Angriffspunkte der Kraft zu denken, gerade
die Möglichkeit, über die körperhafte Materie hiunuszugelangeu? Wir würden
einen Schritt zurück thun, wenn wir dem mathematischen Kalkül, der uns im
Labyrinth der Erscheinungen am sichersten vor wissenschaftlichen Irrungen be¬
wahrt, durch Aufgebung eines passendsten Substrats den Boden uuter den Füßen
fortzögen; wir wollen uns mit aller Kraft dagegen wehren, daß ein allgemeines
Prinzip früher zur Voraussetzung der Naturwissenschaft gemacht werde, ehe es
das Resultat derselben war.



») Tübingen, Fues, 1382.
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[0081] Das Testament eines Deutschen. eine Richtschnur für sein Verhalten gegen den übrigen Inhalt des Teils, für sein sittliches Verhalten gewinnen. Und so gewiß von den einfachen Verhält¬ nissen der rohesten Stämme bis zu dem unendlich bereicherten Leben der Gegen¬ wart die Gedanken der Menschen über das Übersinnliche das bestimmende Zentrum für alle Richtungen ihrer Kultur gebildet haben, so gewiß muß für die Geschlechter unsrer Zeit eine Ausgestaltung des metaphysischen Gedankens gefunden werden, die den Ansprüchen des Philosophen wie denen des Arbeiters genügt. Wollen wir unser Volk vor den Stürmen bewahren, die ein entfesselter Kultus der Interessen der eignen Person mit sich bringt, so ist es gut, zeitig den Gedanken hvchznhnlten, daß der Einzelne sich der Allgemeinheit nicht bloß in der Erfüllung staatlicher Gesetze unterzuordnen hat, sondern in seinem ganzen Wollen, in der Führung seines Lebens, in der Gestaltung seines Lebensideals. Die vorstehenden Erwägungen haben uns mitten in den Gedankcngnng eines Buches geführt, in dem alles, was wir uns nur anzudeuten erlauben konnten, ausführlich und in anregendster Weise entwickelt ist. Ans dem Nachlasse von K. Chr. Planck ist als Testament eines Deutschen eine „Philosophie der Natur und der Menschheit" erschienen, der wir die nachhaltigste Veherzigung wünschen.^) Nicht freilich, als sei nur zu loben. Schon der erste Teil des Buches ruft energischen Widerspruch hervor. Er enthält den Versuch, der mo¬ dernen Atomlehre eine Ansicht über das Wesen des Realen entgegenzusetzen, welche als einfachsten Ausdruck desselben den „stetigen Unterschied eines Aus¬ gedehnten" erkennt. Schon der Beweggrund zu diesem Versuch ist schwer zu begreifen. sollen wir wirklich den Vorwurf als stichhaltig gelten lassen, daß die Atomlehre, weil sie das Weltall in unzählige für sich bestehende Teilchen zerreißt, den Individualismus, die Eigensucht fördert, die ein Krebsschaden unsrer Kultur ist? Hebt nicht vielmehr die Annahme, daß nicht die Atome für sich, sondern ihre wechselseitige Lage und die von dieser Lage abhängende Wirkung aufeinander das System der Naturkräfte hervorbringt, jede Sonderstellung des Einzelnen auf? Sind nicht alle Besonnenen darüber einig, daß nur der plumpste Materialismus die Atome als eigenschaftsbegabte Körper betrachtet? Liegt nicht in der Nötigung, dieselben rein als Angriffspunkte der Kraft zu denken, gerade die Möglichkeit, über die körperhafte Materie hiunuszugelangeu? Wir würden einen Schritt zurück thun, wenn wir dem mathematischen Kalkül, der uns im Labyrinth der Erscheinungen am sichersten vor wissenschaftlichen Irrungen be¬ wahrt, durch Aufgebung eines passendsten Substrats den Boden uuter den Füßen fortzögen; wir wollen uns mit aller Kraft dagegen wehren, daß ein allgemeines Prinzip früher zur Voraussetzung der Naturwissenschaft gemacht werde, ehe es das Resultat derselben war. ») Tübingen, Fues, 1382. Grenzboten III. 18L2,ti)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_193340/81>, abgerufen am 03.07.2024.