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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal.

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Das Testament eines Deutschen.

auseinander gegangen. Das reale Leben, die Arbeit für die materiellen Grund¬
lagen der Kultur und für die staatliche und gesellschaftliche Ordnung, hat sich
schroff von dein religiösen geschieden. Immer von neuem giebt sich das Streben
kund, in der mechanischen Anordnung der Dinge ihre einzige Bedeutung zu er¬
kennen. Demgemäß muß an die Stelle der Ehrfurcht, mit der Andersdenkende
in der Erscheinungswelt die lückenhafte" und vereinzelten Allsprägungen eines
Weltgedankens finden, die Bewunderung des Weltmechanismus treten. Ohne
Zweifel kann ans dieser Art der Betrachtung ein Gefühl entstehen, das dem
religiösen nahe verwandt ist. Dieses Gefühl der Erhabenheit wird um so leben¬
diger werden, als die auf Zergliederung des Mechanismus bedachte Naturwissen¬
schaft tiefere Einsicht und weiteren Anblick gestattet. Allein so sicher es den
Einzelnen über den Wust alltäglicher Empfindung hinaustragen mag, so wenig
wird es ihn darüber belehren können, was nun eigentlich der Sinn dieser er¬
habenen Welt sei, welche Stellung und Aufgabe in ihr der Menschheit und für
diese dem einzelnen Menschen zufalle.

Nun ist es eine kindliche Meinung, es könne jemals in einer Weltanschauung
ein Arkanum gegen das Überwuchern der niedern Triebe, der Leidenschaften,
der Unsittlichkeit gefunden werden. Man wird deshalb von keinem Sittengesetz
fordern dürfen, es müsse Übertretungen unmöglich machen. Aber man wird doch
ein jedes verwerfen müssen, dessen Voraussetzungen nicht eines lebendigen und nach
baldigen Eindrucks auf Verstand und Empfindung der Menschen gewiß sind.
Denn sittlich handeln heißt: in der Überzeugung handeln, daß die Handlung im
Einklange mit der allgemeinen Weltordnung stehe. Aus diesem Grunde hat im
Laufe der Jahrtausende noch jeder Sittenkodex seine Berechtigung und seine
Kraft in der Anlehnung an ein metaphysisches Prinzip gesucht, sei es in der
Form der Offenbarung oder in der des philosophischen Gedankens, und nur
dnrch solche Anlehnung kann ein künftiges Sittengesetz Wert lind Dauer ge¬
winnen. Freilich nicht, weil die Menschheit der Offenbarung bedarf, sondern
weil sie nnr so gewiß ist, daß ein gesetzmäßiges Handeln zugleich auch ein sitt¬
liches, das heißt mit der Weltordnung übereinstinlinendes sein werde. Diese Ge¬
wißheit kann aber nur dann zu einer bleibenden werden, wenn jeder Einzelne
an sich selbst erproben kann, daß jene über Stellung und Zweck des Menschen
Auskunft gebenden metaphysischen Gedanken auch sein Empfinden und Wollen
kräftig anregen, weil sie seinem denkenden Verstände als eine widerspruchslose
und umfassende Anschauung des Übersinnlichen erscheinen. Darin hat jn von
jeher der Schwerpunkt anthropomorpher Anschauungen vom Wesen dieses Über¬
sinnlichen gelegen, daß es auch dem einfachen Verstände faßlich war, und nnr
solange sind solche Anschauungen fruchtbar und deshalb gerechtfertigt, als auch
der einfache Verstand in ihnen nichts Widersprechendes entdeckt.

Wer unter diesen Voraussetzungen in die Gegenwart blickt, sieht kein er¬
freuliches Bild. Je gewisser die mächtige Entwicklung der realen Lebenselemente


Das Testament eines Deutschen.

auseinander gegangen. Das reale Leben, die Arbeit für die materiellen Grund¬
lagen der Kultur und für die staatliche und gesellschaftliche Ordnung, hat sich
schroff von dein religiösen geschieden. Immer von neuem giebt sich das Streben
kund, in der mechanischen Anordnung der Dinge ihre einzige Bedeutung zu er¬
kennen. Demgemäß muß an die Stelle der Ehrfurcht, mit der Andersdenkende
in der Erscheinungswelt die lückenhafte» und vereinzelten Allsprägungen eines
Weltgedankens finden, die Bewunderung des Weltmechanismus treten. Ohne
Zweifel kann ans dieser Art der Betrachtung ein Gefühl entstehen, das dem
religiösen nahe verwandt ist. Dieses Gefühl der Erhabenheit wird um so leben¬
diger werden, als die auf Zergliederung des Mechanismus bedachte Naturwissen¬
schaft tiefere Einsicht und weiteren Anblick gestattet. Allein so sicher es den
Einzelnen über den Wust alltäglicher Empfindung hinaustragen mag, so wenig
wird es ihn darüber belehren können, was nun eigentlich der Sinn dieser er¬
habenen Welt sei, welche Stellung und Aufgabe in ihr der Menschheit und für
diese dem einzelnen Menschen zufalle.

Nun ist es eine kindliche Meinung, es könne jemals in einer Weltanschauung
ein Arkanum gegen das Überwuchern der niedern Triebe, der Leidenschaften,
der Unsittlichkeit gefunden werden. Man wird deshalb von keinem Sittengesetz
fordern dürfen, es müsse Übertretungen unmöglich machen. Aber man wird doch
ein jedes verwerfen müssen, dessen Voraussetzungen nicht eines lebendigen und nach
baldigen Eindrucks auf Verstand und Empfindung der Menschen gewiß sind.
Denn sittlich handeln heißt: in der Überzeugung handeln, daß die Handlung im
Einklange mit der allgemeinen Weltordnung stehe. Aus diesem Grunde hat im
Laufe der Jahrtausende noch jeder Sittenkodex seine Berechtigung und seine
Kraft in der Anlehnung an ein metaphysisches Prinzip gesucht, sei es in der
Form der Offenbarung oder in der des philosophischen Gedankens, und nur
dnrch solche Anlehnung kann ein künftiges Sittengesetz Wert lind Dauer ge¬
winnen. Freilich nicht, weil die Menschheit der Offenbarung bedarf, sondern
weil sie nnr so gewiß ist, daß ein gesetzmäßiges Handeln zugleich auch ein sitt¬
liches, das heißt mit der Weltordnung übereinstinlinendes sein werde. Diese Ge¬
wißheit kann aber nur dann zu einer bleibenden werden, wenn jeder Einzelne
an sich selbst erproben kann, daß jene über Stellung und Zweck des Menschen
Auskunft gebenden metaphysischen Gedanken auch sein Empfinden und Wollen
kräftig anregen, weil sie seinem denkenden Verstände als eine widerspruchslose
und umfassende Anschauung des Übersinnlichen erscheinen. Darin hat jn von
jeher der Schwerpunkt anthropomorpher Anschauungen vom Wesen dieses Über¬
sinnlichen gelegen, daß es auch dem einfachen Verstände faßlich war, und nnr
solange sind solche Anschauungen fruchtbar und deshalb gerechtfertigt, als auch
der einfache Verstand in ihnen nichts Widersprechendes entdeckt.

Wer unter diesen Voraussetzungen in die Gegenwart blickt, sieht kein er¬
freuliches Bild. Je gewisser die mächtige Entwicklung der realen Lebenselemente


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[0079] Das Testament eines Deutschen. auseinander gegangen. Das reale Leben, die Arbeit für die materiellen Grund¬ lagen der Kultur und für die staatliche und gesellschaftliche Ordnung, hat sich schroff von dein religiösen geschieden. Immer von neuem giebt sich das Streben kund, in der mechanischen Anordnung der Dinge ihre einzige Bedeutung zu er¬ kennen. Demgemäß muß an die Stelle der Ehrfurcht, mit der Andersdenkende in der Erscheinungswelt die lückenhafte» und vereinzelten Allsprägungen eines Weltgedankens finden, die Bewunderung des Weltmechanismus treten. Ohne Zweifel kann ans dieser Art der Betrachtung ein Gefühl entstehen, das dem religiösen nahe verwandt ist. Dieses Gefühl der Erhabenheit wird um so leben¬ diger werden, als die auf Zergliederung des Mechanismus bedachte Naturwissen¬ schaft tiefere Einsicht und weiteren Anblick gestattet. Allein so sicher es den Einzelnen über den Wust alltäglicher Empfindung hinaustragen mag, so wenig wird es ihn darüber belehren können, was nun eigentlich der Sinn dieser er¬ habenen Welt sei, welche Stellung und Aufgabe in ihr der Menschheit und für diese dem einzelnen Menschen zufalle. Nun ist es eine kindliche Meinung, es könne jemals in einer Weltanschauung ein Arkanum gegen das Überwuchern der niedern Triebe, der Leidenschaften, der Unsittlichkeit gefunden werden. Man wird deshalb von keinem Sittengesetz fordern dürfen, es müsse Übertretungen unmöglich machen. Aber man wird doch ein jedes verwerfen müssen, dessen Voraussetzungen nicht eines lebendigen und nach baldigen Eindrucks auf Verstand und Empfindung der Menschen gewiß sind. Denn sittlich handeln heißt: in der Überzeugung handeln, daß die Handlung im Einklange mit der allgemeinen Weltordnung stehe. Aus diesem Grunde hat im Laufe der Jahrtausende noch jeder Sittenkodex seine Berechtigung und seine Kraft in der Anlehnung an ein metaphysisches Prinzip gesucht, sei es in der Form der Offenbarung oder in der des philosophischen Gedankens, und nur dnrch solche Anlehnung kann ein künftiges Sittengesetz Wert lind Dauer ge¬ winnen. Freilich nicht, weil die Menschheit der Offenbarung bedarf, sondern weil sie nnr so gewiß ist, daß ein gesetzmäßiges Handeln zugleich auch ein sitt¬ liches, das heißt mit der Weltordnung übereinstinlinendes sein werde. Diese Ge¬ wißheit kann aber nur dann zu einer bleibenden werden, wenn jeder Einzelne an sich selbst erproben kann, daß jene über Stellung und Zweck des Menschen Auskunft gebenden metaphysischen Gedanken auch sein Empfinden und Wollen kräftig anregen, weil sie seinem denkenden Verstände als eine widerspruchslose und umfassende Anschauung des Übersinnlichen erscheinen. Darin hat jn von jeher der Schwerpunkt anthropomorpher Anschauungen vom Wesen dieses Über¬ sinnlichen gelegen, daß es auch dem einfachen Verstände faßlich war, und nnr solange sind solche Anschauungen fruchtbar und deshalb gerechtfertigt, als auch der einfache Verstand in ihnen nichts Widersprechendes entdeckt. Wer unter diesen Voraussetzungen in die Gegenwart blickt, sieht kein er¬ freuliches Bild. Je gewisser die mächtige Entwicklung der realen Lebenselemente

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_193340/79>, abgerufen am 01.07.2024.