Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal.Das Testament eines Deutschen. as Streben der modernen Welt, von Zeit zu Zeit die Gesetze ihrer Wir wollen darüber nicht klagen. Klingt gleich aus dem Unbehagen eines Bisher freilich, bis hart an die Schwelle unsrer Tage, sind die beiden Rich¬ Das Testament eines Deutschen. as Streben der modernen Welt, von Zeit zu Zeit die Gesetze ihrer Wir wollen darüber nicht klagen. Klingt gleich aus dem Unbehagen eines Bisher freilich, bis hart an die Schwelle unsrer Tage, sind die beiden Rich¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0078" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/193419"/> </div> <div n="1"> <head> Das Testament eines Deutschen.</head><lb/> <p xml:id="ID_248"> as Streben der modernen Welt, von Zeit zu Zeit die Gesetze ihrer<lb/> Entwicklung zu prüfen und eine geschichtsphilosophische Theorie<lb/> zu bilde», aus welcher auch die Gestaltung der Zukunft erkennbar<lb/> wird, kann nur dein flüchtigen Urteil als eine starke Seite<lb/> unsrer Kultur erscheinen. Nicht der freudigen Sicherheit ent¬<lb/> springt es, mit der ein rüstiger Wanderer von erklommener Höhe weit in die<lb/> Runde schaut; es gleicht vielmehr der Ängstlichkeit, mit der ein des Weges un¬<lb/> sicherer nach Wegweiser und Markstein späht, und wer Skeptiker sein will, mag<lb/> die Ansicht verteidigen, daß durch solches Umschauen nud Abwägen mehr ver¬<lb/> loren als gewonnen wird. Freilich werden wir ihm, wenn er sich dabei ans<lb/> die antike Welt beruft, der diese Art von Selbstbespiegelung fern lag, mit Recht<lb/> entgegenhalten, das ewig wandelbare System der modernen Kulturstaaten sei<lb/> nur mit starkem Vorbehalt der geschlossen nationalen Form antiker Bildung zu<lb/> vergleichen. Aber zugeben müssen wir doch, daß diese letztere den unermeßlichen<lb/> Vorteil einer thatkräftigen Unbefangenheit besaß. Uns ist im Sturme einer<lb/> neuen Zeit, die mit dem Eintritt des Christentums begann und mit der Über¬<lb/> flutung des Römerreichs dnrch die germanische Welt bleibenden Charakter ge¬<lb/> wann, jene Zierde verloren gegangen, welche die Jugend der Völker und der<lb/> Individuen gleichmäßig schmückt. In dem Chaos zerstörter antiker Kultur und<lb/> zertrümmerten nationalen Lebens, in dein gährenden Element einer neuen Religion<lb/> ging die unbewußte Harmonie des persönlichen Wollens mit dem nationalen In¬<lb/> stinkt unter. Und weil in der Kindheit der Völker, bei dem Fehlen einer be¬<lb/> grifflichen und dem Vorwiegen einer bildlichen Auffassung der Welt, auch die<lb/> geheimnisvollen Mächte, die Leib und Seele beherrschen, zum Abbild nationalen<lb/> Empfindens und Strebens werden, so mußte auch die fraglose Hingabe des Ein¬<lb/> zelnen an das Übersinnliche in Gestalt nationaler Gottheiten zu Grunde gehen.</p><lb/> <p xml:id="ID_249"> Wir wollen darüber nicht klagen. Klingt gleich aus dem Unbehagen eines<lb/> zwiespältigen Seelenlebens heraus das Märchen von einem goldenen Zeitalter<lb/> wie leises Heimweh der Menschen nach einer glücklichen Jugendzeit, so wissen<lb/> wir doch, daß jene zerstörenden Elemente auch den Keim zu einer höheren Kultur¬<lb/> ordnung in sich trugen. Der Keim zersprengte die Scholle, die ihn barg, aber<lb/> er wuchs auch empor. Wir haben ein Recht zu hoffen, daß dereinst nnter dem<lb/> Schutze seiner Äste wiederum ein harmonisches und zugleich ein ferneres Leben<lb/> erblühen werde.</p><lb/> <p xml:id="ID_250" next="#ID_251"> Bisher freilich, bis hart an die Schwelle unsrer Tage, sind die beiden Rich¬<lb/> tungen, in denen sich das Dasein der Menschen erschöpft, weiter und weiter</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0078]
Das Testament eines Deutschen.
as Streben der modernen Welt, von Zeit zu Zeit die Gesetze ihrer
Entwicklung zu prüfen und eine geschichtsphilosophische Theorie
zu bilde», aus welcher auch die Gestaltung der Zukunft erkennbar
wird, kann nur dein flüchtigen Urteil als eine starke Seite
unsrer Kultur erscheinen. Nicht der freudigen Sicherheit ent¬
springt es, mit der ein rüstiger Wanderer von erklommener Höhe weit in die
Runde schaut; es gleicht vielmehr der Ängstlichkeit, mit der ein des Weges un¬
sicherer nach Wegweiser und Markstein späht, und wer Skeptiker sein will, mag
die Ansicht verteidigen, daß durch solches Umschauen nud Abwägen mehr ver¬
loren als gewonnen wird. Freilich werden wir ihm, wenn er sich dabei ans
die antike Welt beruft, der diese Art von Selbstbespiegelung fern lag, mit Recht
entgegenhalten, das ewig wandelbare System der modernen Kulturstaaten sei
nur mit starkem Vorbehalt der geschlossen nationalen Form antiker Bildung zu
vergleichen. Aber zugeben müssen wir doch, daß diese letztere den unermeßlichen
Vorteil einer thatkräftigen Unbefangenheit besaß. Uns ist im Sturme einer
neuen Zeit, die mit dem Eintritt des Christentums begann und mit der Über¬
flutung des Römerreichs dnrch die germanische Welt bleibenden Charakter ge¬
wann, jene Zierde verloren gegangen, welche die Jugend der Völker und der
Individuen gleichmäßig schmückt. In dem Chaos zerstörter antiker Kultur und
zertrümmerten nationalen Lebens, in dein gährenden Element einer neuen Religion
ging die unbewußte Harmonie des persönlichen Wollens mit dem nationalen In¬
stinkt unter. Und weil in der Kindheit der Völker, bei dem Fehlen einer be¬
grifflichen und dem Vorwiegen einer bildlichen Auffassung der Welt, auch die
geheimnisvollen Mächte, die Leib und Seele beherrschen, zum Abbild nationalen
Empfindens und Strebens werden, so mußte auch die fraglose Hingabe des Ein¬
zelnen an das Übersinnliche in Gestalt nationaler Gottheiten zu Grunde gehen.
Wir wollen darüber nicht klagen. Klingt gleich aus dem Unbehagen eines
zwiespältigen Seelenlebens heraus das Märchen von einem goldenen Zeitalter
wie leises Heimweh der Menschen nach einer glücklichen Jugendzeit, so wissen
wir doch, daß jene zerstörenden Elemente auch den Keim zu einer höheren Kultur¬
ordnung in sich trugen. Der Keim zersprengte die Scholle, die ihn barg, aber
er wuchs auch empor. Wir haben ein Recht zu hoffen, daß dereinst nnter dem
Schutze seiner Äste wiederum ein harmonisches und zugleich ein ferneres Leben
erblühen werde.
Bisher freilich, bis hart an die Schwelle unsrer Tage, sind die beiden Rich¬
tungen, in denen sich das Dasein der Menschen erschöpft, weiter und weiter
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