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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal.

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hören, die Jahre lang in Frankreich gelebt und sich Fertigkeit im mündlichen
und schriftlichen Ausdrucke angeeignet haben, sprechen doch das nasale n und
das 1 invuillv genau so, wie sie es nach ihrer Schulgrammatik und von einem
Lehrer gelernt haben, der wahrscheinlich selbst nie gutes Französisch gehört hatte;
und wenn man sie darauf aufmerksam macht, wollen sie den Tadel durchaus
nicht als begründet zugeben. Und mit dem Italienischen und Englischen ergeht
es den meisten von uns, die diese Sprachen aus Büchern gelernt haben, nicht
anders. Wer zuerst in die Fremde kommt, hat seiue volle Aufmerksamkeit anzu¬
spannen, damit er verstehe, was zu ihm gesagt wird, und damit er sich selbst
verstündlich mache; auf Feinheiten der Aussprache kann er daher anfangs nicht
achten. Aber er hört die Namen der Städte häufig nennen, und kommt z. B.
in Italien dahinter, daß die Städte, welche er schriftgemäß ?^äovÄ und N^ntov"
nennt, im Munde des Einheimischen viel eher Padua und Mantua heißen, daß
in LolciAim und I>iLto^ nicht der Konsonant j, sondern ein zwischen diesem und
dem Vokal i in der Mitte stehender Laut erklingt u. tgi. in. Er hat sich daheim
redlich abgeplagt mit der Leiter englischer Laute, zu deren Einübung die schönen
Sätze dienen 1'it<z ma.n kennt Ä it^t er<z llkg-et u. s. w., aber im Lande wird
er die Existenz von allerlei Zwischenstufen inne, von denen sein Buch nichts zu
erzählen wußte. Das heißt, er merkt das, wenn er ebeu aufmerkt, und das
können -- oder wollen? -- Unzählige nicht. Es scheint fast, als ob in der
Ebene das musikalische Gehör entweder von Natur weniger fein oder weniger
ausgebildet sei. Wir wagen nicht, darüber ein Urteil abzugeben, die Frage müßte
unter verschiedenen Gesichtspunkten geprüft werden. Immerhin ist es bemerkens¬
wert, daß musikalisches Schaffen im Volke selbst eigentlich erst mit dem Gebirgs-
charakter des Landes beginnt, im Norden die Lieder und Tänze aus den obere"
Schichten in die unteren dringen, und, falls sie dazu geeignet sind, Volksweisen
werden, im Süden die echten Volksmelodien von der gebildeten Welt aufge¬
nommen werden.

Und auf einen Mangel um Übung des Ohrs weist unzweifelhaft auch die
Behandlung der Muttersprache sast in allen den Gegenden hin, welche dereinst
zum Gebiet der niederdeutschen Sprache gehörten. Wo das niederdeutsche Schrift¬
sprache geworden ist, also in Holland und in gewisser Beziehung auch in Däne¬
mark, da bestehen Eigentümlichkeiten zu Recht, welche das Hochdeutsche so wenig
dulden dürfte, wie die aus derselben Quelle kommende Verwechslung von mir
und mich. Wir schreibe" Grab, Glas, Gras, gieb, Hof, Ding, Klang, genug,
wenig, König, Bad, Jagd, und sprechen Grapp oder Jrapp, Graß oder Jrnß,
Glaß oderJlaß, jipp, Hoff, Dink, Klank, jeunes, wenich, Könich, Bald,
Jacht, kürzen also in einsilbigen Wörtern den Vokal, der doch in zweisilbiger
Formen: Gläser, Jäger, Bäder, geben n. s. w. lang bleibt. Dabei machen wir
uns gern uoch über die deutschen Brüder lustig, die bemüht sind, jede" Vokal
und jeden Konsonanten, überall wo er auch stehen mag, zur vollen Geltung


hören, die Jahre lang in Frankreich gelebt und sich Fertigkeit im mündlichen
und schriftlichen Ausdrucke angeeignet haben, sprechen doch das nasale n und
das 1 invuillv genau so, wie sie es nach ihrer Schulgrammatik und von einem
Lehrer gelernt haben, der wahrscheinlich selbst nie gutes Französisch gehört hatte;
und wenn man sie darauf aufmerksam macht, wollen sie den Tadel durchaus
nicht als begründet zugeben. Und mit dem Italienischen und Englischen ergeht
es den meisten von uns, die diese Sprachen aus Büchern gelernt haben, nicht
anders. Wer zuerst in die Fremde kommt, hat seiue volle Aufmerksamkeit anzu¬
spannen, damit er verstehe, was zu ihm gesagt wird, und damit er sich selbst
verstündlich mache; auf Feinheiten der Aussprache kann er daher anfangs nicht
achten. Aber er hört die Namen der Städte häufig nennen, und kommt z. B.
in Italien dahinter, daß die Städte, welche er schriftgemäß ?^äovÄ und N^ntov»
nennt, im Munde des Einheimischen viel eher Padua und Mantua heißen, daß
in LolciAim und I>iLto^ nicht der Konsonant j, sondern ein zwischen diesem und
dem Vokal i in der Mitte stehender Laut erklingt u. tgi. in. Er hat sich daheim
redlich abgeplagt mit der Leiter englischer Laute, zu deren Einübung die schönen
Sätze dienen 1'it<z ma.n kennt Ä it^t er<z llkg-et u. s. w., aber im Lande wird
er die Existenz von allerlei Zwischenstufen inne, von denen sein Buch nichts zu
erzählen wußte. Das heißt, er merkt das, wenn er ebeu aufmerkt, und das
können — oder wollen? — Unzählige nicht. Es scheint fast, als ob in der
Ebene das musikalische Gehör entweder von Natur weniger fein oder weniger
ausgebildet sei. Wir wagen nicht, darüber ein Urteil abzugeben, die Frage müßte
unter verschiedenen Gesichtspunkten geprüft werden. Immerhin ist es bemerkens¬
wert, daß musikalisches Schaffen im Volke selbst eigentlich erst mit dem Gebirgs-
charakter des Landes beginnt, im Norden die Lieder und Tänze aus den obere»
Schichten in die unteren dringen, und, falls sie dazu geeignet sind, Volksweisen
werden, im Süden die echten Volksmelodien von der gebildeten Welt aufge¬
nommen werden.

Und auf einen Mangel um Übung des Ohrs weist unzweifelhaft auch die
Behandlung der Muttersprache sast in allen den Gegenden hin, welche dereinst
zum Gebiet der niederdeutschen Sprache gehörten. Wo das niederdeutsche Schrift¬
sprache geworden ist, also in Holland und in gewisser Beziehung auch in Däne¬
mark, da bestehen Eigentümlichkeiten zu Recht, welche das Hochdeutsche so wenig
dulden dürfte, wie die aus derselben Quelle kommende Verwechslung von mir
und mich. Wir schreibe» Grab, Glas, Gras, gieb, Hof, Ding, Klang, genug,
wenig, König, Bad, Jagd, und sprechen Grapp oder Jrapp, Graß oder Jrnß,
Glaß oderJlaß, jipp, Hoff, Dink, Klank, jeunes, wenich, Könich, Bald,
Jacht, kürzen also in einsilbigen Wörtern den Vokal, der doch in zweisilbiger
Formen: Gläser, Jäger, Bäder, geben n. s. w. lang bleibt. Dabei machen wir
uns gern uoch über die deutschen Brüder lustig, die bemüht sind, jede» Vokal
und jeden Konsonanten, überall wo er auch stehen mag, zur vollen Geltung


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[0610] hören, die Jahre lang in Frankreich gelebt und sich Fertigkeit im mündlichen und schriftlichen Ausdrucke angeeignet haben, sprechen doch das nasale n und das 1 invuillv genau so, wie sie es nach ihrer Schulgrammatik und von einem Lehrer gelernt haben, der wahrscheinlich selbst nie gutes Französisch gehört hatte; und wenn man sie darauf aufmerksam macht, wollen sie den Tadel durchaus nicht als begründet zugeben. Und mit dem Italienischen und Englischen ergeht es den meisten von uns, die diese Sprachen aus Büchern gelernt haben, nicht anders. Wer zuerst in die Fremde kommt, hat seiue volle Aufmerksamkeit anzu¬ spannen, damit er verstehe, was zu ihm gesagt wird, und damit er sich selbst verstündlich mache; auf Feinheiten der Aussprache kann er daher anfangs nicht achten. Aber er hört die Namen der Städte häufig nennen, und kommt z. B. in Italien dahinter, daß die Städte, welche er schriftgemäß ?^äovÄ und N^ntov» nennt, im Munde des Einheimischen viel eher Padua und Mantua heißen, daß in LolciAim und I>iLto^ nicht der Konsonant j, sondern ein zwischen diesem und dem Vokal i in der Mitte stehender Laut erklingt u. tgi. in. Er hat sich daheim redlich abgeplagt mit der Leiter englischer Laute, zu deren Einübung die schönen Sätze dienen 1'it<z ma.n kennt Ä it^t er<z llkg-et u. s. w., aber im Lande wird er die Existenz von allerlei Zwischenstufen inne, von denen sein Buch nichts zu erzählen wußte. Das heißt, er merkt das, wenn er ebeu aufmerkt, und das können — oder wollen? — Unzählige nicht. Es scheint fast, als ob in der Ebene das musikalische Gehör entweder von Natur weniger fein oder weniger ausgebildet sei. Wir wagen nicht, darüber ein Urteil abzugeben, die Frage müßte unter verschiedenen Gesichtspunkten geprüft werden. Immerhin ist es bemerkens¬ wert, daß musikalisches Schaffen im Volke selbst eigentlich erst mit dem Gebirgs- charakter des Landes beginnt, im Norden die Lieder und Tänze aus den obere» Schichten in die unteren dringen, und, falls sie dazu geeignet sind, Volksweisen werden, im Süden die echten Volksmelodien von der gebildeten Welt aufge¬ nommen werden. Und auf einen Mangel um Übung des Ohrs weist unzweifelhaft auch die Behandlung der Muttersprache sast in allen den Gegenden hin, welche dereinst zum Gebiet der niederdeutschen Sprache gehörten. Wo das niederdeutsche Schrift¬ sprache geworden ist, also in Holland und in gewisser Beziehung auch in Däne¬ mark, da bestehen Eigentümlichkeiten zu Recht, welche das Hochdeutsche so wenig dulden dürfte, wie die aus derselben Quelle kommende Verwechslung von mir und mich. Wir schreibe» Grab, Glas, Gras, gieb, Hof, Ding, Klang, genug, wenig, König, Bad, Jagd, und sprechen Grapp oder Jrapp, Graß oder Jrnß, Glaß oderJlaß, jipp, Hoff, Dink, Klank, jeunes, wenich, Könich, Bald, Jacht, kürzen also in einsilbigen Wörtern den Vokal, der doch in zweisilbiger Formen: Gläser, Jäger, Bäder, geben n. s. w. lang bleibt. Dabei machen wir uns gern uoch über die deutschen Brüder lustig, die bemüht sind, jede» Vokal und jeden Konsonanten, überall wo er auch stehen mag, zur vollen Geltung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_193340/610>, abgerufen am 01.10.2024.