Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Der llanzelvortrag und seine Bedeutung,

das einen Theophrast wegen seines Accents tadelte. Also ganz kategorisch: Wir
verbitten uns den Dialekt, der uns zerreißt, der uns national zerkleinert und
unsern Geist verengt; wir verbitten uns die fehlerhafte Artikulation und Accen-
tuation, das entsetzliche monotone Drohen und Gurgeln, überhaupt alle ver¬
stümmelten Sprachtöne und alle geschraubten "Kanzeltöne"; wir verbitten uns
den Mangel an richtiger Modulation, das näselnde Portament und die über¬
haspelte, jede Interpunktion verachtende Vvlubilitüt; wir verbitten nus das hohle,
Psalmodirende Pathos, das zwitschernde Tremuliren und das ohrzerreißende
Divhthongircn der Vokale, auch die gänzlich mißglückte Kraftanstrengung mit¬
leiderregender Gestikulation, wie namentlich in diesem Punkte das banausische
Heimsuchen der Kanzel mit sündezermalmenden Faustschlägen. Dazu haben
wir das Recht und die Pflicht. Wer öffentlich auftritt, verfällt dadurch dem
Urteile des Volkes. Alle öffentlichen Redner, die als Organ einer Gesammt¬
heit auftreten, müssen sich die rücksichtsloseste Kritik gefallen lassen -- es liegt
kein Grund vor, die Kanzelredner davon auszunehmen, vielmehr die Pflicht,
dieselben an ihre sehr ernste und vercmtworliche Stellung als Hüter und
Förderer der Muttersprache zu erinnern. Die einzige Zufluchtsstätte und der
Herd der gebildeten, nationalen Aussprache ist nur uoch die Bühne. Weshalb
"icht die Kanzel? Es ist wahrlich nicht ihr Verdienst, daß unsere Sprache in
eignen Heimat nicht schon heimatlos ist. Es muß anders werden. Die
Kanzel ist berufen zum Sprachhort. Das kann nicht genugsam hervor¬
gehoben werden.

Es ist wahrlich nur ein sehr vorläufiges Postulat, wenn man verlangt, daß
der Kanzelredner, wie jeder öffentliche Redner, wenigstens das Bewußtsein des
lebendigen Sprachgeistes, das Bewußtsein, über das Material seiner Kunst, über
>e Technik des Redens orientirt zu sei", in sich trage und das Streben er-
enilen lasse, hier nicht im Dunkeln zu tappen und die bloße Gewohnheit seine
lebe Amme zu nennen. Die Sprache ist das Material, dessen er sich zur Ver-
^"lichung des geistigen Inhalts, zur Vernnschaulichung seiner Ideale bedient,
^e Sprachorgane müssen also derart ausgebildet sein, dieser geistigen, idealen
^ete eine adäquate Form durch die Sprache verleihen zu tonnen. Die Predigt
^ ein Kunstwerk, in welchem Inhalt und Form einander entsprechen müssen.
^ erweckt ein tiefes, tiefes Bedauern, wenn mau bedenkt, wie geschickt, wie
^haltsreich, wie aus dem tiefsten religiösen Gemüt entsprungen manche Predigt
^uf dem Papiere fertig wird, die, gut vorgetragen, die allcrbedeutsamste, er¬
schütterndste und erhebendste Wirkung verspräche; wie sie vorgetragen aber so¬
wohl den Redner als die Zuhörer um alle Freude betrügt. Die Wirkung
Icheitert daran, daß der Redner das unmittelbare, sichere Übersetzen aus der
Innerlichkeit der Seele in die Äußerlicherkeit der Rede nicht zu vollziehen per-
che. Man denke sich dagegen eine solche Predigt von einem tüchtigen und
würdigen, in den Talar gesteckten, den Zuhörern unbekannten Schauspieler vor-


Der llanzelvortrag und seine Bedeutung,

das einen Theophrast wegen seines Accents tadelte. Also ganz kategorisch: Wir
verbitten uns den Dialekt, der uns zerreißt, der uns national zerkleinert und
unsern Geist verengt; wir verbitten uns die fehlerhafte Artikulation und Accen-
tuation, das entsetzliche monotone Drohen und Gurgeln, überhaupt alle ver¬
stümmelten Sprachtöne und alle geschraubten „Kanzeltöne"; wir verbitten uns
den Mangel an richtiger Modulation, das näselnde Portament und die über¬
haspelte, jede Interpunktion verachtende Vvlubilitüt; wir verbitten nus das hohle,
Psalmodirende Pathos, das zwitschernde Tremuliren und das ohrzerreißende
Divhthongircn der Vokale, auch die gänzlich mißglückte Kraftanstrengung mit¬
leiderregender Gestikulation, wie namentlich in diesem Punkte das banausische
Heimsuchen der Kanzel mit sündezermalmenden Faustschlägen. Dazu haben
wir das Recht und die Pflicht. Wer öffentlich auftritt, verfällt dadurch dem
Urteile des Volkes. Alle öffentlichen Redner, die als Organ einer Gesammt¬
heit auftreten, müssen sich die rücksichtsloseste Kritik gefallen lassen — es liegt
kein Grund vor, die Kanzelredner davon auszunehmen, vielmehr die Pflicht,
dieselben an ihre sehr ernste und vercmtworliche Stellung als Hüter und
Förderer der Muttersprache zu erinnern. Die einzige Zufluchtsstätte und der
Herd der gebildeten, nationalen Aussprache ist nur uoch die Bühne. Weshalb
"icht die Kanzel? Es ist wahrlich nicht ihr Verdienst, daß unsere Sprache in
eignen Heimat nicht schon heimatlos ist. Es muß anders werden. Die
Kanzel ist berufen zum Sprachhort. Das kann nicht genugsam hervor¬
gehoben werden.

Es ist wahrlich nur ein sehr vorläufiges Postulat, wenn man verlangt, daß
der Kanzelredner, wie jeder öffentliche Redner, wenigstens das Bewußtsein des
lebendigen Sprachgeistes, das Bewußtsein, über das Material seiner Kunst, über
>e Technik des Redens orientirt zu sei«, in sich trage und das Streben er-
enilen lasse, hier nicht im Dunkeln zu tappen und die bloße Gewohnheit seine
lebe Amme zu nennen. Die Sprache ist das Material, dessen er sich zur Ver-
^"lichung des geistigen Inhalts, zur Vernnschaulichung seiner Ideale bedient,
^e Sprachorgane müssen also derart ausgebildet sein, dieser geistigen, idealen
^ete eine adäquate Form durch die Sprache verleihen zu tonnen. Die Predigt
^ ein Kunstwerk, in welchem Inhalt und Form einander entsprechen müssen.
^ erweckt ein tiefes, tiefes Bedauern, wenn mau bedenkt, wie geschickt, wie
^haltsreich, wie aus dem tiefsten religiösen Gemüt entsprungen manche Predigt
^uf dem Papiere fertig wird, die, gut vorgetragen, die allcrbedeutsamste, er¬
schütterndste und erhebendste Wirkung verspräche; wie sie vorgetragen aber so¬
wohl den Redner als die Zuhörer um alle Freude betrügt. Die Wirkung
Icheitert daran, daß der Redner das unmittelbare, sichere Übersetzen aus der
Innerlichkeit der Seele in die Äußerlicherkeit der Rede nicht zu vollziehen per-
che. Man denke sich dagegen eine solche Predigt von einem tüchtigen und
würdigen, in den Talar gesteckten, den Zuhörern unbekannten Schauspieler vor-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0603" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/193944"/>
          <fw type="header" place="top"> Der llanzelvortrag und seine Bedeutung,</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2082" prev="#ID_2081"> das einen Theophrast wegen seines Accents tadelte. Also ganz kategorisch: Wir<lb/>
verbitten uns den Dialekt, der uns zerreißt, der uns national zerkleinert und<lb/>
unsern Geist verengt; wir verbitten uns die fehlerhafte Artikulation und Accen-<lb/>
tuation, das entsetzliche monotone Drohen und Gurgeln, überhaupt alle ver¬<lb/>
stümmelten Sprachtöne und alle geschraubten &#x201E;Kanzeltöne"; wir verbitten uns<lb/>
den Mangel an richtiger Modulation, das näselnde Portament und die über¬<lb/>
haspelte, jede Interpunktion verachtende Vvlubilitüt; wir verbitten nus das hohle,<lb/>
Psalmodirende Pathos, das zwitschernde Tremuliren und das ohrzerreißende<lb/>
Divhthongircn der Vokale, auch die gänzlich mißglückte Kraftanstrengung mit¬<lb/>
leiderregender Gestikulation, wie namentlich in diesem Punkte das banausische<lb/>
Heimsuchen der Kanzel mit sündezermalmenden Faustschlägen. Dazu haben<lb/>
wir das Recht und die Pflicht. Wer öffentlich auftritt, verfällt dadurch dem<lb/>
Urteile des Volkes. Alle öffentlichen Redner, die als Organ einer Gesammt¬<lb/>
heit auftreten, müssen sich die rücksichtsloseste Kritik gefallen lassen &#x2014; es liegt<lb/>
kein Grund vor, die Kanzelredner davon auszunehmen, vielmehr die Pflicht,<lb/>
dieselben an ihre sehr ernste und vercmtworliche Stellung als Hüter und<lb/>
Förderer der Muttersprache zu erinnern. Die einzige Zufluchtsstätte und der<lb/>
Herd der gebildeten, nationalen Aussprache ist nur uoch die Bühne. Weshalb<lb/>
"icht die Kanzel? Es ist wahrlich nicht ihr Verdienst, daß unsere Sprache in<lb/>
eignen Heimat nicht schon heimatlos ist. Es muß anders werden. Die<lb/>
Kanzel ist berufen zum Sprachhort. Das kann nicht genugsam hervor¬<lb/>
gehoben werden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2083" next="#ID_2084"> Es ist wahrlich nur ein sehr vorläufiges Postulat, wenn man verlangt, daß<lb/>
der Kanzelredner, wie jeder öffentliche Redner, wenigstens das Bewußtsein des<lb/>
lebendigen Sprachgeistes, das Bewußtsein, über das Material seiner Kunst, über<lb/>
&gt;e Technik des Redens orientirt zu sei«, in sich trage und das Streben er-<lb/>
enilen lasse, hier nicht im Dunkeln zu tappen und die bloße Gewohnheit seine<lb/>
lebe Amme zu nennen. Die Sprache ist das Material, dessen er sich zur Ver-<lb/>
^"lichung des geistigen Inhalts, zur Vernnschaulichung seiner Ideale bedient,<lb/>
^e Sprachorgane müssen also derart ausgebildet sein, dieser geistigen, idealen<lb/>
^ete eine adäquate Form durch die Sprache verleihen zu tonnen. Die Predigt<lb/>
^ ein Kunstwerk, in welchem Inhalt und Form einander entsprechen müssen.<lb/>
^ erweckt ein tiefes, tiefes Bedauern, wenn mau bedenkt, wie geschickt, wie<lb/>
^haltsreich, wie aus dem tiefsten religiösen Gemüt entsprungen manche Predigt<lb/>
^uf dem Papiere fertig wird, die, gut vorgetragen, die allcrbedeutsamste, er¬<lb/>
schütterndste und erhebendste Wirkung verspräche; wie sie vorgetragen aber so¬<lb/>
wohl den Redner als die Zuhörer um alle Freude betrügt.  Die Wirkung<lb/>
Icheitert daran, daß der Redner das unmittelbare, sichere Übersetzen aus der<lb/>
Innerlichkeit der Seele in die Äußerlicherkeit der Rede nicht zu vollziehen per-<lb/>
che.  Man denke sich dagegen eine solche Predigt von einem tüchtigen und<lb/>
würdigen, in den Talar gesteckten, den Zuhörern unbekannten Schauspieler vor-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0603] Der llanzelvortrag und seine Bedeutung, das einen Theophrast wegen seines Accents tadelte. Also ganz kategorisch: Wir verbitten uns den Dialekt, der uns zerreißt, der uns national zerkleinert und unsern Geist verengt; wir verbitten uns die fehlerhafte Artikulation und Accen- tuation, das entsetzliche monotone Drohen und Gurgeln, überhaupt alle ver¬ stümmelten Sprachtöne und alle geschraubten „Kanzeltöne"; wir verbitten uns den Mangel an richtiger Modulation, das näselnde Portament und die über¬ haspelte, jede Interpunktion verachtende Vvlubilitüt; wir verbitten nus das hohle, Psalmodirende Pathos, das zwitschernde Tremuliren und das ohrzerreißende Divhthongircn der Vokale, auch die gänzlich mißglückte Kraftanstrengung mit¬ leiderregender Gestikulation, wie namentlich in diesem Punkte das banausische Heimsuchen der Kanzel mit sündezermalmenden Faustschlägen. Dazu haben wir das Recht und die Pflicht. Wer öffentlich auftritt, verfällt dadurch dem Urteile des Volkes. Alle öffentlichen Redner, die als Organ einer Gesammt¬ heit auftreten, müssen sich die rücksichtsloseste Kritik gefallen lassen — es liegt kein Grund vor, die Kanzelredner davon auszunehmen, vielmehr die Pflicht, dieselben an ihre sehr ernste und vercmtworliche Stellung als Hüter und Förderer der Muttersprache zu erinnern. Die einzige Zufluchtsstätte und der Herd der gebildeten, nationalen Aussprache ist nur uoch die Bühne. Weshalb "icht die Kanzel? Es ist wahrlich nicht ihr Verdienst, daß unsere Sprache in eignen Heimat nicht schon heimatlos ist. Es muß anders werden. Die Kanzel ist berufen zum Sprachhort. Das kann nicht genugsam hervor¬ gehoben werden. Es ist wahrlich nur ein sehr vorläufiges Postulat, wenn man verlangt, daß der Kanzelredner, wie jeder öffentliche Redner, wenigstens das Bewußtsein des lebendigen Sprachgeistes, das Bewußtsein, über das Material seiner Kunst, über >e Technik des Redens orientirt zu sei«, in sich trage und das Streben er- enilen lasse, hier nicht im Dunkeln zu tappen und die bloße Gewohnheit seine lebe Amme zu nennen. Die Sprache ist das Material, dessen er sich zur Ver- ^"lichung des geistigen Inhalts, zur Vernnschaulichung seiner Ideale bedient, ^e Sprachorgane müssen also derart ausgebildet sein, dieser geistigen, idealen ^ete eine adäquate Form durch die Sprache verleihen zu tonnen. Die Predigt ^ ein Kunstwerk, in welchem Inhalt und Form einander entsprechen müssen. ^ erweckt ein tiefes, tiefes Bedauern, wenn mau bedenkt, wie geschickt, wie ^haltsreich, wie aus dem tiefsten religiösen Gemüt entsprungen manche Predigt ^uf dem Papiere fertig wird, die, gut vorgetragen, die allcrbedeutsamste, er¬ schütterndste und erhebendste Wirkung verspräche; wie sie vorgetragen aber so¬ wohl den Redner als die Zuhörer um alle Freude betrügt. Die Wirkung Icheitert daran, daß der Redner das unmittelbare, sichere Übersetzen aus der Innerlichkeit der Seele in die Äußerlicherkeit der Rede nicht zu vollziehen per- che. Man denke sich dagegen eine solche Predigt von einem tüchtigen und würdigen, in den Talar gesteckten, den Zuhörern unbekannten Schauspieler vor-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_193340
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_193340/603
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_193340/603>, abgerufen am 25.08.2024.