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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal.

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Der Aanzelvortrag und seine Bedeutung.

selbst der schwächste Versuch, eine unangebrachte Schönrednerei auf Kosten der
Wahrheit geltend zu machen, wie an einem Felsen zerschellen würde. Die geist¬
liche Veredtsamkeit tritt aber ja überhaupt gar nicht mit der Ungewißheit auf,
Recht oder Unrecht zu behalten, sie hat die anerkannte Wahrheit zum Inhalte.
Eben deshalb ist es eine geradezu absurde Antipathie, welche die Geistliche" dem
Überreden entgegenbringen. Als ob es sich um etwas andres handele, als aus
Überzeugung zum Guten überzeugend zu überreden, ohne die Wahrheit zu ver¬
schönern, aber auch ohne in falscher Würde auf das Recht zu verzichten, auf
das Gefühl, diesen mächtigsten Hebel zur Religiosität, durch die Mittel gott¬
gefälliger Überredungskunst zu wirken. Wo ist denu da das Verwerfliche oder
gar Uumoralische, wenn man jemanden derart vom Guten überzeugt, daß mau
ihn zum Guten überredet? Ich kaun nicht sagen, daß mir der längst vergessene
Thomas Campanella mißfiele, wenn er die geistliche Veredtsamkeit als die "zum
Guten überredende und von dem Schlechten abratende Kunst" nennt. Es ist
vielmehr die Mißachtung der Thatsachen den Kanzelrednern als Unterlassungs¬
sünde anzurechnen, der Thatsachen, daß der Mensch leicht und eher zum Guten
zu überreden als zu überzeugen und daß die Überzeugung eine nachgeborne
Schwester der Überredung ist, insofern als die Gründe der Überzeugung erst
daun ihre volle Kraft äußern, nachdem das Herz durch Überredung gewonnen
ist. Und hat Euripides, wenn er die Überredung die "einzige Führerin der
Menschen" nennt, nicht insofern Recht, als die ganze Erziehung zumeist auf
Überredung fußt? Diese Unterlassungssünde freilich ist den Kanzelrednern nicht
allzuhoch anzurechnen; denn wenn sie auch beabsichtigt hätten, überzeugend zu
überreden, sie hätten es nicht vermocht. Sie können nicht überreden, weil sie
nicht reden können. Hier ist der Knoten und das Ende des Ariadnefadens.
Sie können nicht reden, wohlverstanden, nicht vortragen. Wo auch hätte" sie
den Vortrag studiren sollen? Doch wohl auf den Universitäten, d. i. den päda¬
gogisch-homiletischen Seminarien. O, das sind ehrwürdige Institute mit ehr¬
würdigen Namen; aber man braucht sie nicht aus Autopsie zu kennen, um zu
wissen, daß sie den Zweck, den Vortrag auszubilden, auch nicht im entferntesten
erfüllen. Und sonstige praktische Anleitung für den Vortrag auf den Universi¬
täten giebt es nicht? Giebt es nicht! -- Sprachakademieu, Rhetorschnlen, Lehrer
für den Vortrag giebt es nicht? Giebt es nicht! Es ist ein schauerliches Echo!
Man sollte es kaum glauben, umsoweniger, als diese Mängel seit mehr als
einem Jahrhundert lebhaft empfunden werden, was unschwer historisch zu be¬
legen wäre.

Es ist die höchste Zeit, daß es einmal kategorisch ausgesprochen wird: Sie
gefallen uns uicht, unsre Kanzelredner. Wir sind ein musikalisch gebildetes Volk,
und unser Ohr will nicht beleidigt, sondern, wie unsre Seele, auch durch äußere
Harmonie ausgefüllt sein. Überall giebt es Hunderte und tausende, die einen
so guten Geschmack haben wie jenes gemeine Weib aus dem Athener Volke,


Der Aanzelvortrag und seine Bedeutung.

selbst der schwächste Versuch, eine unangebrachte Schönrednerei auf Kosten der
Wahrheit geltend zu machen, wie an einem Felsen zerschellen würde. Die geist¬
liche Veredtsamkeit tritt aber ja überhaupt gar nicht mit der Ungewißheit auf,
Recht oder Unrecht zu behalten, sie hat die anerkannte Wahrheit zum Inhalte.
Eben deshalb ist es eine geradezu absurde Antipathie, welche die Geistliche« dem
Überreden entgegenbringen. Als ob es sich um etwas andres handele, als aus
Überzeugung zum Guten überzeugend zu überreden, ohne die Wahrheit zu ver¬
schönern, aber auch ohne in falscher Würde auf das Recht zu verzichten, auf
das Gefühl, diesen mächtigsten Hebel zur Religiosität, durch die Mittel gott¬
gefälliger Überredungskunst zu wirken. Wo ist denu da das Verwerfliche oder
gar Uumoralische, wenn man jemanden derart vom Guten überzeugt, daß mau
ihn zum Guten überredet? Ich kaun nicht sagen, daß mir der längst vergessene
Thomas Campanella mißfiele, wenn er die geistliche Veredtsamkeit als die „zum
Guten überredende und von dem Schlechten abratende Kunst" nennt. Es ist
vielmehr die Mißachtung der Thatsachen den Kanzelrednern als Unterlassungs¬
sünde anzurechnen, der Thatsachen, daß der Mensch leicht und eher zum Guten
zu überreden als zu überzeugen und daß die Überzeugung eine nachgeborne
Schwester der Überredung ist, insofern als die Gründe der Überzeugung erst
daun ihre volle Kraft äußern, nachdem das Herz durch Überredung gewonnen
ist. Und hat Euripides, wenn er die Überredung die „einzige Führerin der
Menschen" nennt, nicht insofern Recht, als die ganze Erziehung zumeist auf
Überredung fußt? Diese Unterlassungssünde freilich ist den Kanzelrednern nicht
allzuhoch anzurechnen; denn wenn sie auch beabsichtigt hätten, überzeugend zu
überreden, sie hätten es nicht vermocht. Sie können nicht überreden, weil sie
nicht reden können. Hier ist der Knoten und das Ende des Ariadnefadens.
Sie können nicht reden, wohlverstanden, nicht vortragen. Wo auch hätte» sie
den Vortrag studiren sollen? Doch wohl auf den Universitäten, d. i. den päda¬
gogisch-homiletischen Seminarien. O, das sind ehrwürdige Institute mit ehr¬
würdigen Namen; aber man braucht sie nicht aus Autopsie zu kennen, um zu
wissen, daß sie den Zweck, den Vortrag auszubilden, auch nicht im entferntesten
erfüllen. Und sonstige praktische Anleitung für den Vortrag auf den Universi¬
täten giebt es nicht? Giebt es nicht! — Sprachakademieu, Rhetorschnlen, Lehrer
für den Vortrag giebt es nicht? Giebt es nicht! Es ist ein schauerliches Echo!
Man sollte es kaum glauben, umsoweniger, als diese Mängel seit mehr als
einem Jahrhundert lebhaft empfunden werden, was unschwer historisch zu be¬
legen wäre.

Es ist die höchste Zeit, daß es einmal kategorisch ausgesprochen wird: Sie
gefallen uns uicht, unsre Kanzelredner. Wir sind ein musikalisch gebildetes Volk,
und unser Ohr will nicht beleidigt, sondern, wie unsre Seele, auch durch äußere
Harmonie ausgefüllt sein. Überall giebt es Hunderte und tausende, die einen
so guten Geschmack haben wie jenes gemeine Weib aus dem Athener Volke,


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[0602] Der Aanzelvortrag und seine Bedeutung. selbst der schwächste Versuch, eine unangebrachte Schönrednerei auf Kosten der Wahrheit geltend zu machen, wie an einem Felsen zerschellen würde. Die geist¬ liche Veredtsamkeit tritt aber ja überhaupt gar nicht mit der Ungewißheit auf, Recht oder Unrecht zu behalten, sie hat die anerkannte Wahrheit zum Inhalte. Eben deshalb ist es eine geradezu absurde Antipathie, welche die Geistliche« dem Überreden entgegenbringen. Als ob es sich um etwas andres handele, als aus Überzeugung zum Guten überzeugend zu überreden, ohne die Wahrheit zu ver¬ schönern, aber auch ohne in falscher Würde auf das Recht zu verzichten, auf das Gefühl, diesen mächtigsten Hebel zur Religiosität, durch die Mittel gott¬ gefälliger Überredungskunst zu wirken. Wo ist denu da das Verwerfliche oder gar Uumoralische, wenn man jemanden derart vom Guten überzeugt, daß mau ihn zum Guten überredet? Ich kaun nicht sagen, daß mir der längst vergessene Thomas Campanella mißfiele, wenn er die geistliche Veredtsamkeit als die „zum Guten überredende und von dem Schlechten abratende Kunst" nennt. Es ist vielmehr die Mißachtung der Thatsachen den Kanzelrednern als Unterlassungs¬ sünde anzurechnen, der Thatsachen, daß der Mensch leicht und eher zum Guten zu überreden als zu überzeugen und daß die Überzeugung eine nachgeborne Schwester der Überredung ist, insofern als die Gründe der Überzeugung erst daun ihre volle Kraft äußern, nachdem das Herz durch Überredung gewonnen ist. Und hat Euripides, wenn er die Überredung die „einzige Führerin der Menschen" nennt, nicht insofern Recht, als die ganze Erziehung zumeist auf Überredung fußt? Diese Unterlassungssünde freilich ist den Kanzelrednern nicht allzuhoch anzurechnen; denn wenn sie auch beabsichtigt hätten, überzeugend zu überreden, sie hätten es nicht vermocht. Sie können nicht überreden, weil sie nicht reden können. Hier ist der Knoten und das Ende des Ariadnefadens. Sie können nicht reden, wohlverstanden, nicht vortragen. Wo auch hätte» sie den Vortrag studiren sollen? Doch wohl auf den Universitäten, d. i. den päda¬ gogisch-homiletischen Seminarien. O, das sind ehrwürdige Institute mit ehr¬ würdigen Namen; aber man braucht sie nicht aus Autopsie zu kennen, um zu wissen, daß sie den Zweck, den Vortrag auszubilden, auch nicht im entferntesten erfüllen. Und sonstige praktische Anleitung für den Vortrag auf den Universi¬ täten giebt es nicht? Giebt es nicht! — Sprachakademieu, Rhetorschnlen, Lehrer für den Vortrag giebt es nicht? Giebt es nicht! Es ist ein schauerliches Echo! Man sollte es kaum glauben, umsoweniger, als diese Mängel seit mehr als einem Jahrhundert lebhaft empfunden werden, was unschwer historisch zu be¬ legen wäre. Es ist die höchste Zeit, daß es einmal kategorisch ausgesprochen wird: Sie gefallen uns uicht, unsre Kanzelredner. Wir sind ein musikalisch gebildetes Volk, und unser Ohr will nicht beleidigt, sondern, wie unsre Seele, auch durch äußere Harmonie ausgefüllt sein. Überall giebt es Hunderte und tausende, die einen so guten Geschmack haben wie jenes gemeine Weib aus dem Athener Volke,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_193340/602>, abgerufen am 25.08.2024.