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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal.

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<L. v. Noordens Europäische Geschichte im achtzehnten Jahrhundert.

grnppen in den großen Fragen der europäischen Politik die entscheidende Rolle
üben, hat er Umfang und Interesse bemessen, welches sie in seiner Darstellung
zu beanspruchen haben.

Für die Epoche des spanischen Erbfolgekrieges steht naturgemäß England
im Vordergründe der Erzählung. Ein englischer König war der Trüger des
Gedankens, welcher die europäische!? Kabinette zu einheitlichem Widerstande gegen
das französische Übergewicht verband, englische Staatsmänner so gut wie eng¬
lische Subsidien haben im Verlaufe des großen Krieges diesen Gedanken am
wirksamsten aufrecht erhalten. Mit Recht wird darum Krone und Parlament,
Gesellschaft und Wirtschaft, kirchliches und geistiges Leben auf dem englischen
Inselreiche von Nvvrden einer besonders eingehenden Betrachtung unterzogen.
Diese Partien gehören zu deu glänzendsten seines Werkes.

Aber auch sonst wird das innere Stantsleben und die geistige wie die
materielle Entwicklung der Rationell nicht hintangesetzt. Nur freilich ist die
Schilderung der Kulturentwicklung nicht Selbstzweck, sie wird nur soweit in die
Darstellung gezogen, als sie die Wandlungen der politischen Lebensäußerungen
bedingt. Erst damit aber ist jene organische Verbindung zwischen politischer und
"Bildungsgeschichte" hergestellt, welche die nniversallMorische Richtung der Ge¬
schichtschreibung gänzlich vermissen ließ.

Es ist hier nicht der Ort, auch nur in den Grundzügen auszuführen, wie
viel des neuen die Forschung Noordens ans Licht gefördert hat. Jedes Kapitel,
jede Seite legt Zeugnis davon ab, und mau kauu ohne Übertreibung behaupten,
daß wir erst jetzt einen tieferen Einblick in die geheimen politischen Motive ge¬
wonnen haben, welche die kriegführenden Teile hüben und drüben bestimmten.
Wo sich Schlosser und neuere landläufige Darstellungen mit moralischer Be¬
urteilung des Geschehenen lind der Handelnde" begnügten -- wie denn so häufig,
wo die Erkenntnis politischer Triebfedern dem Historiker versagt, das moralische
Urteil an die Stelle tritt --, da lernen wir jetzt um der Hand vertrauter In¬
struktionen und Korrespondenzen das politische Wollen auf beiden Seiten ver¬
stehen lind würdigem. Nur ein Beispiel möge herausgehoben sein. Man hat
die verbündeten Mächte von jeher scharf getadelt, daß sie die weitgehenden
Friedenscmerbietnngen Ludwigs XIV. in den Jahren 1709 und 1710 nicht an¬
nahmen, fondern unersättlich jedes seiner Zugeständnisse und Angebote durch
eine neue Forderung überboten, zuletzt gar verlangten, er solle mit eignen
Waffen seinen Enkel ans Spanien vertreiben. Nicht bloß "einen großen Mangel um
Voraussicht und Staatsweisheit" wollte man darin sehen, auch "Leidenschaft und
Befangenheit" und "hochmütiges Selbstvertrauen" (F. v. Raumer in der Ge¬
schichte Europas seit dem Ende des fünfzehnten Jahrhunderts). Der bald
daraus eintretende Umschwung der politischen Verhältnisse, der die Lage zu
Gunsten Ludwigs verwandelte, erschien dieser Auffnssnug wie ein Akt göttlicher
Nemesis. "Es war, als wollte die göttliche Strafgerechtigkeit nunmehr auch


<L. v. Noordens Europäische Geschichte im achtzehnten Jahrhundert.

grnppen in den großen Fragen der europäischen Politik die entscheidende Rolle
üben, hat er Umfang und Interesse bemessen, welches sie in seiner Darstellung
zu beanspruchen haben.

Für die Epoche des spanischen Erbfolgekrieges steht naturgemäß England
im Vordergründe der Erzählung. Ein englischer König war der Trüger des
Gedankens, welcher die europäische!? Kabinette zu einheitlichem Widerstande gegen
das französische Übergewicht verband, englische Staatsmänner so gut wie eng¬
lische Subsidien haben im Verlaufe des großen Krieges diesen Gedanken am
wirksamsten aufrecht erhalten. Mit Recht wird darum Krone und Parlament,
Gesellschaft und Wirtschaft, kirchliches und geistiges Leben auf dem englischen
Inselreiche von Nvvrden einer besonders eingehenden Betrachtung unterzogen.
Diese Partien gehören zu deu glänzendsten seines Werkes.

Aber auch sonst wird das innere Stantsleben und die geistige wie die
materielle Entwicklung der Rationell nicht hintangesetzt. Nur freilich ist die
Schilderung der Kulturentwicklung nicht Selbstzweck, sie wird nur soweit in die
Darstellung gezogen, als sie die Wandlungen der politischen Lebensäußerungen
bedingt. Erst damit aber ist jene organische Verbindung zwischen politischer und
„Bildungsgeschichte" hergestellt, welche die nniversallMorische Richtung der Ge¬
schichtschreibung gänzlich vermissen ließ.

Es ist hier nicht der Ort, auch nur in den Grundzügen auszuführen, wie
viel des neuen die Forschung Noordens ans Licht gefördert hat. Jedes Kapitel,
jede Seite legt Zeugnis davon ab, und mau kauu ohne Übertreibung behaupten,
daß wir erst jetzt einen tieferen Einblick in die geheimen politischen Motive ge¬
wonnen haben, welche die kriegführenden Teile hüben und drüben bestimmten.
Wo sich Schlosser und neuere landläufige Darstellungen mit moralischer Be¬
urteilung des Geschehenen lind der Handelnde» begnügten — wie denn so häufig,
wo die Erkenntnis politischer Triebfedern dem Historiker versagt, das moralische
Urteil an die Stelle tritt —, da lernen wir jetzt um der Hand vertrauter In¬
struktionen und Korrespondenzen das politische Wollen auf beiden Seiten ver¬
stehen lind würdigem. Nur ein Beispiel möge herausgehoben sein. Man hat
die verbündeten Mächte von jeher scharf getadelt, daß sie die weitgehenden
Friedenscmerbietnngen Ludwigs XIV. in den Jahren 1709 und 1710 nicht an¬
nahmen, fondern unersättlich jedes seiner Zugeständnisse und Angebote durch
eine neue Forderung überboten, zuletzt gar verlangten, er solle mit eignen
Waffen seinen Enkel ans Spanien vertreiben. Nicht bloß „einen großen Mangel um
Voraussicht und Staatsweisheit" wollte man darin sehen, auch „Leidenschaft und
Befangenheit" und „hochmütiges Selbstvertrauen" (F. v. Raumer in der Ge¬
schichte Europas seit dem Ende des fünfzehnten Jahrhunderts). Der bald
daraus eintretende Umschwung der politischen Verhältnisse, der die Lage zu
Gunsten Ludwigs verwandelte, erschien dieser Auffnssnug wie ein Akt göttlicher
Nemesis. „Es war, als wollte die göttliche Strafgerechtigkeit nunmehr auch


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_193340/554>, abgerufen am 22.07.2024.