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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal.

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ganz heterogenen Geschichtsauffassungen. Von den universalhistorischen Träu¬
mereien einer Epoche der Geschichtschreibung, als deren Hauptvertreter i" diesen:
Jahrhundert Schlosser angesehen werden kaun, siud die modernen Historiker
zurückgekommen. Nicht eine Menschheitsgeschichte in dem Sinne einer zusammen¬
fassenden Darstellung der gesammten menschlichen Kulturentwicklung ist fernerhin
das utopische Ziel, welches sie sich gesteckt haben. Der Begriff des Staates ist
an Stelle des Begriffs der Menschheit getreten, und in der Staatsgeschichte,
die ihrer Natur nach vorwiegend politisch ist, ohne jedoch die Faktoren des
sittlichen und geistigen Lebens außer Rechnung zu lassen, hat die geschichtliche
Wissenschaft das natürlich begrenzte Gebiet ihrer Thätigkeit wiedergefunden.
Darum uicht mehr das Vorwiegen allgemeiner Gesichtspunkte, nicht mehr jene
Gleichgiltigkeit, ja jenes Mißachten der auf die Feststellung der einzelnen histo¬
rischen Thatsache gerichteten Forschung. Im Gegenteil. Unsre heutige Ge¬
schichtsforschung ist in erster Linie exakte Quellenforschung. Sie verlangt eine
möglichst vollständige Sammlung des erreichbaren Materiales, sowie eine pein¬
liche kritische Sichtung des gewonnenen, sie verlangt insbesondre von dem Ge¬
schichtschreiber, dessen Feder die Weiten der neueren Geschichte durchmißt, die
umfassendsten archivalischen Studien.

Und gerade darin liegt, wie gesagt, eine Stärke von Noordeus Werk. Alle
die großen europäischen Archive, welche Akten, Gesandteuberichte und vertraute
Korrespondenzen ans jeuer Epoche berge", siud von ihm besucht und durchforscht
worden. Wien, Berlin, London und Paris, vor allem aber holländische Archive
haben ein reiches Material beigesteuert, sodaß nach dieser Richtung, soweit das
von menschlicher Leistung überhaupt gesagt werden kann, Noordens Werk als
abschließend gelten darf.

Mit Meisterschaft hat Noorden dies gewaltige Qnelleumaterial bewältigt.
Die Darstellung ist getragen, dabei knapp und gedrungen, die Sprache energisch,
bisweilen mehr, als man wünschen möchte, gefeilt und pointirt, stets edel. Fein¬
sinnig und tief durchdacht sind die Charakteristiken, scharf umrissen springt das
Bild der Persönlichkeiten ans dem Rahmen ihrer Handlungen heraus. Gleiche
plastische Gegenständlichkeit zeichnet die Schlachteuschilderungeu aus.

Bei aller Energie, welche die Darstellung dnrchpnlst, ist das Urteil des
Historikers ein maßvoll besonnenes und weise abwägendes. Jedem Standpunkt
sucht er gerecht zu werden, in jede Individualität sich hineinzudenken. Nur wo
sittliche Niedertracht und geistige Impotenz ihm begegnen, schwingt er das Schwert
des unerbittlichen Richters.

Mit großer Kunst baut sich die Erzählung auf. Es war keine leichte Aus¬
übe, in dem Gewirr politischer und militärischer Ereignisse, welche eine Ge¬
schichte des spanischen Erbfvlgekrieges darzustellen hat, das einheitliche Zentrum
der Darstellung se-stznhalteu. Dieses Zentrum war für Noordeu die allgemeine
europäische Politik. Vorwiegend danach, ob die einzelnen Mächte und Staaten-


Grenzboten III. 1882, "9
<L. v. Noordens Lnropäische Geschichte im achtzehnten Jahrhundert.

ganz heterogenen Geschichtsauffassungen. Von den universalhistorischen Träu¬
mereien einer Epoche der Geschichtschreibung, als deren Hauptvertreter i» diesen:
Jahrhundert Schlosser angesehen werden kaun, siud die modernen Historiker
zurückgekommen. Nicht eine Menschheitsgeschichte in dem Sinne einer zusammen¬
fassenden Darstellung der gesammten menschlichen Kulturentwicklung ist fernerhin
das utopische Ziel, welches sie sich gesteckt haben. Der Begriff des Staates ist
an Stelle des Begriffs der Menschheit getreten, und in der Staatsgeschichte,
die ihrer Natur nach vorwiegend politisch ist, ohne jedoch die Faktoren des
sittlichen und geistigen Lebens außer Rechnung zu lassen, hat die geschichtliche
Wissenschaft das natürlich begrenzte Gebiet ihrer Thätigkeit wiedergefunden.
Darum uicht mehr das Vorwiegen allgemeiner Gesichtspunkte, nicht mehr jene
Gleichgiltigkeit, ja jenes Mißachten der auf die Feststellung der einzelnen histo¬
rischen Thatsache gerichteten Forschung. Im Gegenteil. Unsre heutige Ge¬
schichtsforschung ist in erster Linie exakte Quellenforschung. Sie verlangt eine
möglichst vollständige Sammlung des erreichbaren Materiales, sowie eine pein¬
liche kritische Sichtung des gewonnenen, sie verlangt insbesondre von dem Ge¬
schichtschreiber, dessen Feder die Weiten der neueren Geschichte durchmißt, die
umfassendsten archivalischen Studien.

Und gerade darin liegt, wie gesagt, eine Stärke von Noordeus Werk. Alle
die großen europäischen Archive, welche Akten, Gesandteuberichte und vertraute
Korrespondenzen ans jeuer Epoche berge», siud von ihm besucht und durchforscht
worden. Wien, Berlin, London und Paris, vor allem aber holländische Archive
haben ein reiches Material beigesteuert, sodaß nach dieser Richtung, soweit das
von menschlicher Leistung überhaupt gesagt werden kann, Noordens Werk als
abschließend gelten darf.

Mit Meisterschaft hat Noorden dies gewaltige Qnelleumaterial bewältigt.
Die Darstellung ist getragen, dabei knapp und gedrungen, die Sprache energisch,
bisweilen mehr, als man wünschen möchte, gefeilt und pointirt, stets edel. Fein¬
sinnig und tief durchdacht sind die Charakteristiken, scharf umrissen springt das
Bild der Persönlichkeiten ans dem Rahmen ihrer Handlungen heraus. Gleiche
plastische Gegenständlichkeit zeichnet die Schlachteuschilderungeu aus.

Bei aller Energie, welche die Darstellung dnrchpnlst, ist das Urteil des
Historikers ein maßvoll besonnenes und weise abwägendes. Jedem Standpunkt
sucht er gerecht zu werden, in jede Individualität sich hineinzudenken. Nur wo
sittliche Niedertracht und geistige Impotenz ihm begegnen, schwingt er das Schwert
des unerbittlichen Richters.

Mit großer Kunst baut sich die Erzählung auf. Es war keine leichte Aus¬
übe, in dem Gewirr politischer und militärischer Ereignisse, welche eine Ge¬
schichte des spanischen Erbfvlgekrieges darzustellen hat, das einheitliche Zentrum
der Darstellung se-stznhalteu. Dieses Zentrum war für Noordeu die allgemeine
europäische Politik. Vorwiegend danach, ob die einzelnen Mächte und Staaten-


Grenzboten III. 1882, «9
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[0553] <L. v. Noordens Lnropäische Geschichte im achtzehnten Jahrhundert. ganz heterogenen Geschichtsauffassungen. Von den universalhistorischen Träu¬ mereien einer Epoche der Geschichtschreibung, als deren Hauptvertreter i» diesen: Jahrhundert Schlosser angesehen werden kaun, siud die modernen Historiker zurückgekommen. Nicht eine Menschheitsgeschichte in dem Sinne einer zusammen¬ fassenden Darstellung der gesammten menschlichen Kulturentwicklung ist fernerhin das utopische Ziel, welches sie sich gesteckt haben. Der Begriff des Staates ist an Stelle des Begriffs der Menschheit getreten, und in der Staatsgeschichte, die ihrer Natur nach vorwiegend politisch ist, ohne jedoch die Faktoren des sittlichen und geistigen Lebens außer Rechnung zu lassen, hat die geschichtliche Wissenschaft das natürlich begrenzte Gebiet ihrer Thätigkeit wiedergefunden. Darum uicht mehr das Vorwiegen allgemeiner Gesichtspunkte, nicht mehr jene Gleichgiltigkeit, ja jenes Mißachten der auf die Feststellung der einzelnen histo¬ rischen Thatsache gerichteten Forschung. Im Gegenteil. Unsre heutige Ge¬ schichtsforschung ist in erster Linie exakte Quellenforschung. Sie verlangt eine möglichst vollständige Sammlung des erreichbaren Materiales, sowie eine pein¬ liche kritische Sichtung des gewonnenen, sie verlangt insbesondre von dem Ge¬ schichtschreiber, dessen Feder die Weiten der neueren Geschichte durchmißt, die umfassendsten archivalischen Studien. Und gerade darin liegt, wie gesagt, eine Stärke von Noordeus Werk. Alle die großen europäischen Archive, welche Akten, Gesandteuberichte und vertraute Korrespondenzen ans jeuer Epoche berge», siud von ihm besucht und durchforscht worden. Wien, Berlin, London und Paris, vor allem aber holländische Archive haben ein reiches Material beigesteuert, sodaß nach dieser Richtung, soweit das von menschlicher Leistung überhaupt gesagt werden kann, Noordens Werk als abschließend gelten darf. Mit Meisterschaft hat Noorden dies gewaltige Qnelleumaterial bewältigt. Die Darstellung ist getragen, dabei knapp und gedrungen, die Sprache energisch, bisweilen mehr, als man wünschen möchte, gefeilt und pointirt, stets edel. Fein¬ sinnig und tief durchdacht sind die Charakteristiken, scharf umrissen springt das Bild der Persönlichkeiten ans dem Rahmen ihrer Handlungen heraus. Gleiche plastische Gegenständlichkeit zeichnet die Schlachteuschilderungeu aus. Bei aller Energie, welche die Darstellung dnrchpnlst, ist das Urteil des Historikers ein maßvoll besonnenes und weise abwägendes. Jedem Standpunkt sucht er gerecht zu werden, in jede Individualität sich hineinzudenken. Nur wo sittliche Niedertracht und geistige Impotenz ihm begegnen, schwingt er das Schwert des unerbittlichen Richters. Mit großer Kunst baut sich die Erzählung auf. Es war keine leichte Aus¬ übe, in dem Gewirr politischer und militärischer Ereignisse, welche eine Ge¬ schichte des spanischen Erbfvlgekrieges darzustellen hat, das einheitliche Zentrum der Darstellung se-stznhalteu. Dieses Zentrum war für Noordeu die allgemeine europäische Politik. Vorwiegend danach, ob die einzelnen Mächte und Staaten- Grenzboten III. 1882, «9

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_193340/553>, abgerufen am 22.07.2024.