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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal.

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Zur Geschichte des deutschen Liberalismus.

nationalen Gliederung erweitert! Und auf welchem rühmlicheren gewissenhafteren
Wege als diesem kann das neue Reich zugleich seine eigne historische Mitschuld
an einer sozialen Krankheit sühnen, deren aus Frankreich importirte Keime ihre
Entwicklung und Verbreitung auf deutschem Boden doch hauptsächlich, zunächst
der Zerfahrenheit des alten Reichs und letzten Interregnums, daun aber be¬
sonders der wühlerischen Bauerukriegsberedtsamkeit verdanken, mit der in den
Jahren 1843 und 1849 wandernde Apostel eines mehr oder minder entarteten
deutschen Liberalismus das Volk im Namen des künftigen Reichs zum Kampfe
gegen die bestehenden Verhältnisse aufwiegelten! Die demagogische Redekunst und
Sophistik, die damals unter schwarzrvtgvldnem Banner gegen Bundestag und
Kleinstaaterei, gegen Militär- und Polizeistaat donnerte lind den Flamberg
schwang, ist für die, so heute unter roter Fahne gegen Geld, Besitz und Sitte
donnert und das Messer zuckt, ein unverkennbares Vorbild gewesen und hat
dann wieder -- zum Beweise des fortlaufenden, aber freilich hier an keine Schuld
und Sühne denkenden Zusammenhangs -- in den letzten sezessionistisch-fortschritt-
lichen Wahlreden, nur jetzt mit umgedrehter, gegen das Reich gekehrter Wind¬
fahne, ein unverkennbares Nachspiel gefeiert.

Als ich am Abend des 27. Oktober v. I. mich nach den letzten Ergebnissen
der Berliner Reichstagswahlen zu erkundigen ging, geriet ich in den Straßeu-
anfruhr eines fortschrittlichen Wahlsieges und glaubte mich, inmitten dieses
tausendfachen Jubels, dieses den Sieg des "Volkes" gegen "Reaktion, Absolu-
tismus nud Junkertum" verkündenden Triumphgeschreies, wirklich einen Angenblick
in die Strömung des Jahres 1848, in den wüsten Enthusiasmus der Berliner
Märztage und Frankfurter Septembertage zurückversetzt; konnte aber dann, bei
dem Gedanken an alle die seitdem eingetretenen großen Ereignisse, nicht umhin,
an einige der jubelnden Männer neben mir die Frage zu richten, wann und
wie und von welcher Seite denn bellte eine Reaktion zu befürchten sei? Doch
gewiß nicht, sagte ich, von Kaiser Wilhelm, unserm allgeliebten, gerechten und
pflichtgetreueu Rcichsvberhaupte; und ebensowenig von dem, nicht minder ver¬
fassungstreuen und nicht minder nativnalgesinnten, geliebten Thronfolger; und
ebensowenig von dem Reichskanzler, der, sagte ich, dnrch sein tapferes, siegreiches
Mitwirken all unserm, ohne ihn nimmermehr zustande gekommenen, Eiuheitswerke
doch gewiß nicht den Verdacht verdient hat, als könne er je daran denken, diesen
großen Sieg durch einen reaktionären Rückzug preiszugeben. Dn ich aber ni"f
diese Fragen keine andre Antwort erhielt, als verwunderte Blicke und wiederholte
Schmähungen ans "Steuerdruck," "Stcnerschwindel," "Kvrnwucher," "Junker¬
tum," "Pfaffentnni," sogar aus das -- "Deutschtum," da überkam mich das
Gefühl, als sei die heutige Entartung des deutschen Liberalismus noch el"c
schlimmere als die im Jahre 1848, als sei der demagogische Mißbrnnch, der
damals mit dem nationalen Gedanken getrieben wurde, doch für unsre deutsche
Sitte und Gesinnung viel weniger verderblich gewesen, als der dem Volke heute


Zur Geschichte des deutschen Liberalismus.

nationalen Gliederung erweitert! Und auf welchem rühmlicheren gewissenhafteren
Wege als diesem kann das neue Reich zugleich seine eigne historische Mitschuld
an einer sozialen Krankheit sühnen, deren aus Frankreich importirte Keime ihre
Entwicklung und Verbreitung auf deutschem Boden doch hauptsächlich, zunächst
der Zerfahrenheit des alten Reichs und letzten Interregnums, daun aber be¬
sonders der wühlerischen Bauerukriegsberedtsamkeit verdanken, mit der in den
Jahren 1843 und 1849 wandernde Apostel eines mehr oder minder entarteten
deutschen Liberalismus das Volk im Namen des künftigen Reichs zum Kampfe
gegen die bestehenden Verhältnisse aufwiegelten! Die demagogische Redekunst und
Sophistik, die damals unter schwarzrvtgvldnem Banner gegen Bundestag und
Kleinstaaterei, gegen Militär- und Polizeistaat donnerte lind den Flamberg
schwang, ist für die, so heute unter roter Fahne gegen Geld, Besitz und Sitte
donnert und das Messer zuckt, ein unverkennbares Vorbild gewesen und hat
dann wieder — zum Beweise des fortlaufenden, aber freilich hier an keine Schuld
und Sühne denkenden Zusammenhangs — in den letzten sezessionistisch-fortschritt-
lichen Wahlreden, nur jetzt mit umgedrehter, gegen das Reich gekehrter Wind¬
fahne, ein unverkennbares Nachspiel gefeiert.

Als ich am Abend des 27. Oktober v. I. mich nach den letzten Ergebnissen
der Berliner Reichstagswahlen zu erkundigen ging, geriet ich in den Straßeu-
anfruhr eines fortschrittlichen Wahlsieges und glaubte mich, inmitten dieses
tausendfachen Jubels, dieses den Sieg des „Volkes" gegen „Reaktion, Absolu-
tismus nud Junkertum" verkündenden Triumphgeschreies, wirklich einen Angenblick
in die Strömung des Jahres 1848, in den wüsten Enthusiasmus der Berliner
Märztage und Frankfurter Septembertage zurückversetzt; konnte aber dann, bei
dem Gedanken an alle die seitdem eingetretenen großen Ereignisse, nicht umhin,
an einige der jubelnden Männer neben mir die Frage zu richten, wann und
wie und von welcher Seite denn bellte eine Reaktion zu befürchten sei? Doch
gewiß nicht, sagte ich, von Kaiser Wilhelm, unserm allgeliebten, gerechten und
pflichtgetreueu Rcichsvberhaupte; und ebensowenig von dem, nicht minder ver¬
fassungstreuen und nicht minder nativnalgesinnten, geliebten Thronfolger; und
ebensowenig von dem Reichskanzler, der, sagte ich, dnrch sein tapferes, siegreiches
Mitwirken all unserm, ohne ihn nimmermehr zustande gekommenen, Eiuheitswerke
doch gewiß nicht den Verdacht verdient hat, als könne er je daran denken, diesen
großen Sieg durch einen reaktionären Rückzug preiszugeben. Dn ich aber ni»f
diese Fragen keine andre Antwort erhielt, als verwunderte Blicke und wiederholte
Schmähungen ans „Steuerdruck," „Stcnerschwindel," „Kvrnwucher," „Junker¬
tum," „Pfaffentnni," sogar aus das — „Deutschtum," da überkam mich das
Gefühl, als sei die heutige Entartung des deutschen Liberalismus noch el»c
schlimmere als die im Jahre 1848, als sei der demagogische Mißbrnnch, der
damals mit dem nationalen Gedanken getrieben wurde, doch für unsre deutsche
Sitte und Gesinnung viel weniger verderblich gewesen, als der dem Volke heute


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_193340/460>, abgerufen am 25.08.2024.