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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal.

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Zukunft? - Philosophie.

könnten sie alles beweisen, was sie sagen. Jeder glaubt etwas finden zu können,
von dem Kant noch nichts wußte, und so liegt es denn nahe, das Ding an sich,
eben weil es.Kant für unerkennbar erklärte, für das Rätsel zu halten, welches
vor allein die künftige Forschung interessiren müsse, und mau weiß uicht, daß
Kant es keineswegs für den Kern und Urgrund der Welt, die uns erscheint,
ausgegeben hat, sondern für einen bloßen Gedanken von uns, dem leine Realität
entspricht, und nach dem in der Erfahrung nie gefragt wird.

Dennoch können wir im menschlichen Gemüte ein großes, umfangreiches
Gebiet anerkennen, welches bis jetzt nicht von dem Lichte der Erkenntnistheorie
durchleuchtet ist. Ein unbewußtes Geistesleben widerstreitet durchaus uicht den
Lehren Kants, der für die geistigen Funktionen uur das Kriterium aufstellte,
daß sie mögliches Bewußtsein sein müßten, uicht daß sie immer uns bewußt wären.
Und wenn wir für dies Gebiet den Namen Gefühl acceptiren, so ist uns mir
das eine rätselhaft, wie man glauben kann, in diesem Gebiete wissenschaftlich
weiter vordringen zu können, auf anderem Wege als mit den Kräfte" unsers
Erkenntnisvermögens, wie sie Kant analysirt hat. Der Konsequenz, daß alles
Erkennen uur durch unsre apriorischen Erkenntnislräfte möglich ist, kann sich kein
Mensch entziehen, wenn er nicht von dem Pferde, das er reitet, abgeworfen
werden und den Hals brechen will. Durch Empfindung werden uns Dinge
gegeben, durch den Verstand werden sie gedacht, nnr beide zusammen als Rezep-
tivität und Spontaneität geben Erkenntnisse; eins für sich allein ist entweder
blind oder erzeugt leere Begriffe und Hirngespinste wie das Ding an sich.
Anstatt dieser uuumstöhlicheu Regel konsequent zu folgen, ziehen es aber die
Tagesphilvsophen vor, lieber direkt mit beiden Beinen wieder in den Sumpf
hineinzuspringen, aus dem Kant uns mit vieler Mühe hat herausziehen wollen.

Man weiß die Theorie Kants eben nicht anzuwenden, darin liegt das Hanpt-
unglück. Vielleicht daß dazu Kant selber deu Anlaß gegeben hat, da er in der
"Kritik der praktischen Vernunft" seiue Methode selbst uicht inne hielt. Indessen
Hütte mau aus den metaphysischen Aufnugsgründen der Naturwissenschaft wenigstens
soviel entnehmen können, daß man die Bedeutung der Kategorien für die Er-
fahrungswissenschaft hätte einsehen können. Das ist aber uicht der Fall ge¬
wesen, keiner weiß etwas Rechtes mit den Kategorien anzufangen, jedem ist es
willkommen, daß Schopenhauer und andre sie alle in dem einen Begriff der
Kausalität vereinigen zu können glaubten, und im allgemeinen ist man noch heute
geneigt, sie sür eine überkünstliche Zersplitterung des Erkenntnisvermögens zu
halten. Nun hat aber Albrecht Krause (Gesetze des menschlichen Herzens) bei
gründlicher Untersuchung gefunden, daß das System der Kategorien nicht daran
leidet, daß ihrer zu viele, sondern darnu, daß es zu wenige sind. Denn die
aristotelischen Urteilsfvrmeu, aus denen Kant sie abstrahirte, sind bei genauer
Betrachtung uicht zwölf, souderu sogar sechzehn, sodaß er darnach eine Ver¬
vollständigung der Tafel vornehmen mußte. Aber der Hauptgedanke Kants,


Zukunft? - Philosophie.

könnten sie alles beweisen, was sie sagen. Jeder glaubt etwas finden zu können,
von dem Kant noch nichts wußte, und so liegt es denn nahe, das Ding an sich,
eben weil es.Kant für unerkennbar erklärte, für das Rätsel zu halten, welches
vor allein die künftige Forschung interessiren müsse, und mau weiß uicht, daß
Kant es keineswegs für den Kern und Urgrund der Welt, die uns erscheint,
ausgegeben hat, sondern für einen bloßen Gedanken von uns, dem leine Realität
entspricht, und nach dem in der Erfahrung nie gefragt wird.

Dennoch können wir im menschlichen Gemüte ein großes, umfangreiches
Gebiet anerkennen, welches bis jetzt nicht von dem Lichte der Erkenntnistheorie
durchleuchtet ist. Ein unbewußtes Geistesleben widerstreitet durchaus uicht den
Lehren Kants, der für die geistigen Funktionen uur das Kriterium aufstellte,
daß sie mögliches Bewußtsein sein müßten, uicht daß sie immer uns bewußt wären.
Und wenn wir für dies Gebiet den Namen Gefühl acceptiren, so ist uns mir
das eine rätselhaft, wie man glauben kann, in diesem Gebiete wissenschaftlich
weiter vordringen zu können, auf anderem Wege als mit den Kräfte» unsers
Erkenntnisvermögens, wie sie Kant analysirt hat. Der Konsequenz, daß alles
Erkennen uur durch unsre apriorischen Erkenntnislräfte möglich ist, kann sich kein
Mensch entziehen, wenn er nicht von dem Pferde, das er reitet, abgeworfen
werden und den Hals brechen will. Durch Empfindung werden uns Dinge
gegeben, durch den Verstand werden sie gedacht, nnr beide zusammen als Rezep-
tivität und Spontaneität geben Erkenntnisse; eins für sich allein ist entweder
blind oder erzeugt leere Begriffe und Hirngespinste wie das Ding an sich.
Anstatt dieser uuumstöhlicheu Regel konsequent zu folgen, ziehen es aber die
Tagesphilvsophen vor, lieber direkt mit beiden Beinen wieder in den Sumpf
hineinzuspringen, aus dem Kant uns mit vieler Mühe hat herausziehen wollen.

Man weiß die Theorie Kants eben nicht anzuwenden, darin liegt das Hanpt-
unglück. Vielleicht daß dazu Kant selber deu Anlaß gegeben hat, da er in der
„Kritik der praktischen Vernunft" seiue Methode selbst uicht inne hielt. Indessen
Hütte mau aus den metaphysischen Aufnugsgründen der Naturwissenschaft wenigstens
soviel entnehmen können, daß man die Bedeutung der Kategorien für die Er-
fahrungswissenschaft hätte einsehen können. Das ist aber uicht der Fall ge¬
wesen, keiner weiß etwas Rechtes mit den Kategorien anzufangen, jedem ist es
willkommen, daß Schopenhauer und andre sie alle in dem einen Begriff der
Kausalität vereinigen zu können glaubten, und im allgemeinen ist man noch heute
geneigt, sie sür eine überkünstliche Zersplitterung des Erkenntnisvermögens zu
halten. Nun hat aber Albrecht Krause (Gesetze des menschlichen Herzens) bei
gründlicher Untersuchung gefunden, daß das System der Kategorien nicht daran
leidet, daß ihrer zu viele, sondern darnu, daß es zu wenige sind. Denn die
aristotelischen Urteilsfvrmeu, aus denen Kant sie abstrahirte, sind bei genauer
Betrachtung uicht zwölf, souderu sogar sechzehn, sodaß er darnach eine Ver¬
vollständigung der Tafel vornehmen mußte. Aber der Hauptgedanke Kants,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_193340/408>, abgerufen am 25.08.2024.