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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal.

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Der jüngste Tag.

Fremde zu teilen, hegte Andrew eine so gründliche Verachtung vor seinen Nach¬
barn, daß er jedem schon dann gut war, wenn er nicht zu seinem eignen Volke
gehörte. Wenn ein Türke nach Clark Township ausgewandert wäre, so würde
Andrew sich in ihn verliebt und ihm zu seiner speziellen Bequemlichkeit eiuen
Divan gebant haben. Aber er liebte August auch wegen seines sanften Gemütes
und wegen seiner aufrichtigem Hinneigung zu den Büchern. Und nnr August
oder Augusts Mutter, bei welcher Andrew bisweilen Besuche machte, konnte den
Dämon des Menschenhasfes beschwören, den er so lange gehegt und gepflegt
hatte, daß es ihm jetzt hart ankam, ihn zu vertreiben.

Andrew Anderson gehörte zu einer Menschenklasse, die, wie ich nicht zweifle,
jedem scharfen Beobachter des provinziellen Lebens in diesem Lande schon vor¬
gekommen sein wird. Im Hiuterwalde und in entlegenen Gemeinden bringt
literarische Bildung merkwürdige Exzentrizitäten hervor. Der Bücherwurm im
Westen findet niemals den Unterschied zwischen der Ideenwelt und der Welt des
praktischen Lebens heraus. Statt Gedichte oder Nomnnc zu schreiben, gelangt
er dahin, sie zu leben oder wenigstens den Versuch hierzu zu machen. Denke
man sich noch eine Enttäuschung auf dem Gebiete der Liebe hinzu, so fällt er
sicherlich der Klasse anheim, von der Anderson ein Vertreter war. Denn die
Erziehung, die man durch Bücher gewinnt, ist eine kümmerlich einseitige, wenn
sie nicht durch Kenntnisse der Welt aufgewogen wird.

Andrew Anderson war immer als ein Sonderling betrachtet worden. Ein
Mann mit einem guten Teil Idealismus und literarischem Geschmack, der vor
den dunkeln Hintergrund der Gesellschaft einer westlichen Dorfgemeinde in der
ersten Hälfte unsers Jahrhunderts gestellt würde, müßte mit Notwendigkeit
sonderbar erscheinen. Wäre er in Gemeinden mit mehr Kultur verschlagen
worden, so würde sein exzentrisches Wesen, hervorgegangen aus dem Gefühl,
etwas besseres zu sein als seine Umgebung, sich verloren haben. Wenn er sich
glücklich verheiratet hätte, so würden seine Wunderlichkeiten sich gemildert haben.
Aber nichts von diesen Dingen trat ein. Er erzählte Angust eine ganz andre
Geschichte. Denn das Vertrauen seines "teutonischen Freundes" hatte in dem
einsamen Manne den Wunsch erweckt, die Geschichte zu enthüllen, die er so viele
Jahre hindurch hinter Schloß und Riegel gehalten hatte.

Ach, mein Freund, sagte er aufgeregt, baue uicht auf die Treue eines
Weibes. Dann fuhr er, von seinem Sitz auffahrend, fort: Der Hinterwalds-
philosvph warnt dich. Ich bitte dich, sei recht auf deiner Hut. Ich kenne Julia
nicht. Sie ist meine Nichte. Es steht mir schlecht zu Gesicht, ihre Aufrichtig¬
keit anzuzweifeln. Aber ich weiß, wessen Tochter sie ist. Ich bitte dich, nimm
dich recht in Acht, mein teutonischer Freund. Ich kenne die Art ihrer Mutter.
Ich bin nicht gewohnt, viel Worte zu machen. Aber du bist an einem kritischen
Punkt angelangt -- an einem Wendepunkt. Nach der Erfahrung seines eignen
Lebens, aus seinem Kummer heraus geschieht es, wenn der Hiuterwaldsphilosoph


Der jüngste Tag.

Fremde zu teilen, hegte Andrew eine so gründliche Verachtung vor seinen Nach¬
barn, daß er jedem schon dann gut war, wenn er nicht zu seinem eignen Volke
gehörte. Wenn ein Türke nach Clark Township ausgewandert wäre, so würde
Andrew sich in ihn verliebt und ihm zu seiner speziellen Bequemlichkeit eiuen
Divan gebant haben. Aber er liebte August auch wegen seines sanften Gemütes
und wegen seiner aufrichtigem Hinneigung zu den Büchern. Und nnr August
oder Augusts Mutter, bei welcher Andrew bisweilen Besuche machte, konnte den
Dämon des Menschenhasfes beschwören, den er so lange gehegt und gepflegt
hatte, daß es ihm jetzt hart ankam, ihn zu vertreiben.

Andrew Anderson gehörte zu einer Menschenklasse, die, wie ich nicht zweifle,
jedem scharfen Beobachter des provinziellen Lebens in diesem Lande schon vor¬
gekommen sein wird. Im Hiuterwalde und in entlegenen Gemeinden bringt
literarische Bildung merkwürdige Exzentrizitäten hervor. Der Bücherwurm im
Westen findet niemals den Unterschied zwischen der Ideenwelt und der Welt des
praktischen Lebens heraus. Statt Gedichte oder Nomnnc zu schreiben, gelangt
er dahin, sie zu leben oder wenigstens den Versuch hierzu zu machen. Denke
man sich noch eine Enttäuschung auf dem Gebiete der Liebe hinzu, so fällt er
sicherlich der Klasse anheim, von der Anderson ein Vertreter war. Denn die
Erziehung, die man durch Bücher gewinnt, ist eine kümmerlich einseitige, wenn
sie nicht durch Kenntnisse der Welt aufgewogen wird.

Andrew Anderson war immer als ein Sonderling betrachtet worden. Ein
Mann mit einem guten Teil Idealismus und literarischem Geschmack, der vor
den dunkeln Hintergrund der Gesellschaft einer westlichen Dorfgemeinde in der
ersten Hälfte unsers Jahrhunderts gestellt würde, müßte mit Notwendigkeit
sonderbar erscheinen. Wäre er in Gemeinden mit mehr Kultur verschlagen
worden, so würde sein exzentrisches Wesen, hervorgegangen aus dem Gefühl,
etwas besseres zu sein als seine Umgebung, sich verloren haben. Wenn er sich
glücklich verheiratet hätte, so würden seine Wunderlichkeiten sich gemildert haben.
Aber nichts von diesen Dingen trat ein. Er erzählte Angust eine ganz andre
Geschichte. Denn das Vertrauen seines „teutonischen Freundes" hatte in dem
einsamen Manne den Wunsch erweckt, die Geschichte zu enthüllen, die er so viele
Jahre hindurch hinter Schloß und Riegel gehalten hatte.

Ach, mein Freund, sagte er aufgeregt, baue uicht auf die Treue eines
Weibes. Dann fuhr er, von seinem Sitz auffahrend, fort: Der Hinterwalds-
philosvph warnt dich. Ich bitte dich, sei recht auf deiner Hut. Ich kenne Julia
nicht. Sie ist meine Nichte. Es steht mir schlecht zu Gesicht, ihre Aufrichtig¬
keit anzuzweifeln. Aber ich weiß, wessen Tochter sie ist. Ich bitte dich, nimm
dich recht in Acht, mein teutonischer Freund. Ich kenne die Art ihrer Mutter.
Ich bin nicht gewohnt, viel Worte zu machen. Aber du bist an einem kritischen
Punkt angelangt — an einem Wendepunkt. Nach der Erfahrung seines eignen
Lebens, aus seinem Kummer heraus geschieht es, wenn der Hiuterwaldsphilosoph


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[0293] Der jüngste Tag. Fremde zu teilen, hegte Andrew eine so gründliche Verachtung vor seinen Nach¬ barn, daß er jedem schon dann gut war, wenn er nicht zu seinem eignen Volke gehörte. Wenn ein Türke nach Clark Township ausgewandert wäre, so würde Andrew sich in ihn verliebt und ihm zu seiner speziellen Bequemlichkeit eiuen Divan gebant haben. Aber er liebte August auch wegen seines sanften Gemütes und wegen seiner aufrichtigem Hinneigung zu den Büchern. Und nnr August oder Augusts Mutter, bei welcher Andrew bisweilen Besuche machte, konnte den Dämon des Menschenhasfes beschwören, den er so lange gehegt und gepflegt hatte, daß es ihm jetzt hart ankam, ihn zu vertreiben. Andrew Anderson gehörte zu einer Menschenklasse, die, wie ich nicht zweifle, jedem scharfen Beobachter des provinziellen Lebens in diesem Lande schon vor¬ gekommen sein wird. Im Hiuterwalde und in entlegenen Gemeinden bringt literarische Bildung merkwürdige Exzentrizitäten hervor. Der Bücherwurm im Westen findet niemals den Unterschied zwischen der Ideenwelt und der Welt des praktischen Lebens heraus. Statt Gedichte oder Nomnnc zu schreiben, gelangt er dahin, sie zu leben oder wenigstens den Versuch hierzu zu machen. Denke man sich noch eine Enttäuschung auf dem Gebiete der Liebe hinzu, so fällt er sicherlich der Klasse anheim, von der Anderson ein Vertreter war. Denn die Erziehung, die man durch Bücher gewinnt, ist eine kümmerlich einseitige, wenn sie nicht durch Kenntnisse der Welt aufgewogen wird. Andrew Anderson war immer als ein Sonderling betrachtet worden. Ein Mann mit einem guten Teil Idealismus und literarischem Geschmack, der vor den dunkeln Hintergrund der Gesellschaft einer westlichen Dorfgemeinde in der ersten Hälfte unsers Jahrhunderts gestellt würde, müßte mit Notwendigkeit sonderbar erscheinen. Wäre er in Gemeinden mit mehr Kultur verschlagen worden, so würde sein exzentrisches Wesen, hervorgegangen aus dem Gefühl, etwas besseres zu sein als seine Umgebung, sich verloren haben. Wenn er sich glücklich verheiratet hätte, so würden seine Wunderlichkeiten sich gemildert haben. Aber nichts von diesen Dingen trat ein. Er erzählte Angust eine ganz andre Geschichte. Denn das Vertrauen seines „teutonischen Freundes" hatte in dem einsamen Manne den Wunsch erweckt, die Geschichte zu enthüllen, die er so viele Jahre hindurch hinter Schloß und Riegel gehalten hatte. Ach, mein Freund, sagte er aufgeregt, baue uicht auf die Treue eines Weibes. Dann fuhr er, von seinem Sitz auffahrend, fort: Der Hinterwalds- philosvph warnt dich. Ich bitte dich, sei recht auf deiner Hut. Ich kenne Julia nicht. Sie ist meine Nichte. Es steht mir schlecht zu Gesicht, ihre Aufrichtig¬ keit anzuzweifeln. Aber ich weiß, wessen Tochter sie ist. Ich bitte dich, nimm dich recht in Acht, mein teutonischer Freund. Ich kenne die Art ihrer Mutter. Ich bin nicht gewohnt, viel Worte zu machen. Aber du bist an einem kritischen Punkt angelangt — an einem Wendepunkt. Nach der Erfahrung seines eignen Lebens, aus seinem Kummer heraus geschieht es, wenn der Hiuterwaldsphilosoph

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_193340/293>, abgerufen am 29.06.2024.