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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal.

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in vieler Gedächtnis. Auf welcher Seite die Schuld liegt, will ich nicht unter¬
suchen, noch weniger will ich die Kunstgelehrten aller Gattungen vou dem Vol>
würfe freisprechen, ihre Aufgabe zuweilen falsch verstanden und in Gebiete über¬
gegriffen zu haben, die ihnen unzugänglich sind. Aber wo Streit ist, da sind
auch Mißverständnisse, und wenn mau diese zurückweist, so thut man dies nicht
um den Streit zu verschärfen, sondern um ihn zu vereinfachen und seinen Aus¬
trag zu ermögliche".

Die Mißverständnisse, die wir hier zu rügen haben, sind teils besondere
und beziehen sich auf bestimmte Anschauungen, die Ludwig bekämpft; andre sind
allgemeiner Natur und treten überall zu Tage, wo Künstler gegen Knustgelehrte
streiten. Jene sind von geringern? Interesse, und eine Auseinandersetzung über
dieselben würde sehr weit führen; eine kurze Bemerkung mag daher genügen.
Ludwig stellt am Anfang seiner Erörterungen denen, die "in der Bildnerei den
Ausdruck allgemein menschlicher Gedanken und Empfindungen suchen," diejenigen
gegenüber, die "das Charakteristische der Bildnerei in das Neiuanschauliche, in
die Erscheinung verlegen." Beide verurteilt er gleichmäßig. Die letztern nennt
er mit Vorliebe "Anschauungsdvgmatiker" und kommt an verschiedenen Stellen
auf dieselben zurück. Zwei Dinge sind es, deren er sie hauptsächlich anklagt,
einmal, daß sie durch die bloße Anschauuugskrcift das "Gesammtbcwußtscin einer
Welt bilden wollten, die noch mit gar vielem sonst als der Erscheinung ans
uns wirke"; dann, daß sie die Anschauuugskrcift vou der Thätigkeit des künst-
lerischen Gestaltens trennten, das Hauptgewicht auf jene legten und in diesem ein
gleichsam selbstverständlich sich ergebendes, nebensächliches und nicht sonderlich
schwieriges Geschäft erblickten. Ich bekenne, nicht zu wissen, welchen kuustphi-
losophischeu Untersuchungen diese Anschauungen entnommen sind; meines Wissens
sprechen die "Auschauungsdvgmatiker" so verkehrte Ansichten nicht aus, und
wenn Ludwig ihren Untersuchungen mehr Aufmerksamkeit gewidmet hätte oder
hätte widmen wollen, so würde er ihnen solchen Widersinn nicht haben unter¬
schieben können. Von einem anschauliche" Weltbewußtseiu sprechen sie nur in
dem Sinne, daß sich in demselben ein vorherrschendes Interesse um der durch den
Gesichtssinn wahrnehmbaren Erscheinung der Dinge dokumentire; von denen aber,
die das Machen des künstlerischen Bildes gegen die geistige Thätigkeit herab¬
setzen, welche diesem Machen vorangeht, unterscheiden sie sich gerade dadurch,
daß sie die Trennung zwischen geistigen! Prozeß und bildnerischer Manipulation
aufheben und die Entwicklung des anschaulichen Bewußtseins selbst in die künst¬
lerisch gestaltende Thätigkeit verlegen.

Merkwürdiger ist mir noch, daß Ludwig bei seiner selbständigen Deuknugs-
nrt sich von jenen hergebrachten allgemeinen Mißverständnissen nicht frei hält.
Zunächst sollte das von den Künstlern viel gebrauchte Argument gänzlich ver¬
schwinden, daß die kunstwissenschaftlicher und kuustphilosophischen Untersuchungen
deshalb wertlos seien, weil sie der künstlerischen Produktion keinen Nutzen


in vieler Gedächtnis. Auf welcher Seite die Schuld liegt, will ich nicht unter¬
suchen, noch weniger will ich die Kunstgelehrten aller Gattungen vou dem Vol>
würfe freisprechen, ihre Aufgabe zuweilen falsch verstanden und in Gebiete über¬
gegriffen zu haben, die ihnen unzugänglich sind. Aber wo Streit ist, da sind
auch Mißverständnisse, und wenn mau diese zurückweist, so thut man dies nicht
um den Streit zu verschärfen, sondern um ihn zu vereinfachen und seinen Aus¬
trag zu ermögliche«.

Die Mißverständnisse, die wir hier zu rügen haben, sind teils besondere
und beziehen sich auf bestimmte Anschauungen, die Ludwig bekämpft; andre sind
allgemeiner Natur und treten überall zu Tage, wo Künstler gegen Knustgelehrte
streiten. Jene sind von geringern? Interesse, und eine Auseinandersetzung über
dieselben würde sehr weit führen; eine kurze Bemerkung mag daher genügen.
Ludwig stellt am Anfang seiner Erörterungen denen, die „in der Bildnerei den
Ausdruck allgemein menschlicher Gedanken und Empfindungen suchen," diejenigen
gegenüber, die „das Charakteristische der Bildnerei in das Neiuanschauliche, in
die Erscheinung verlegen." Beide verurteilt er gleichmäßig. Die letztern nennt
er mit Vorliebe „Anschauungsdvgmatiker" und kommt an verschiedenen Stellen
auf dieselben zurück. Zwei Dinge sind es, deren er sie hauptsächlich anklagt,
einmal, daß sie durch die bloße Anschauuugskrcift das „Gesammtbcwußtscin einer
Welt bilden wollten, die noch mit gar vielem sonst als der Erscheinung ans
uns wirke"; dann, daß sie die Anschauuugskrcift vou der Thätigkeit des künst-
lerischen Gestaltens trennten, das Hauptgewicht auf jene legten und in diesem ein
gleichsam selbstverständlich sich ergebendes, nebensächliches und nicht sonderlich
schwieriges Geschäft erblickten. Ich bekenne, nicht zu wissen, welchen kuustphi-
losophischeu Untersuchungen diese Anschauungen entnommen sind; meines Wissens
sprechen die „Auschauungsdvgmatiker" so verkehrte Ansichten nicht aus, und
wenn Ludwig ihren Untersuchungen mehr Aufmerksamkeit gewidmet hätte oder
hätte widmen wollen, so würde er ihnen solchen Widersinn nicht haben unter¬
schieben können. Von einem anschauliche» Weltbewußtseiu sprechen sie nur in
dem Sinne, daß sich in demselben ein vorherrschendes Interesse um der durch den
Gesichtssinn wahrnehmbaren Erscheinung der Dinge dokumentire; von denen aber,
die das Machen des künstlerischen Bildes gegen die geistige Thätigkeit herab¬
setzen, welche diesem Machen vorangeht, unterscheiden sie sich gerade dadurch,
daß sie die Trennung zwischen geistigen! Prozeß und bildnerischer Manipulation
aufheben und die Entwicklung des anschaulichen Bewußtseins selbst in die künst¬
lerisch gestaltende Thätigkeit verlegen.

Merkwürdiger ist mir noch, daß Ludwig bei seiner selbständigen Deuknugs-
nrt sich von jenen hergebrachten allgemeinen Mißverständnissen nicht frei hält.
Zunächst sollte das von den Künstlern viel gebrauchte Argument gänzlich ver¬
schwinden, daß die kunstwissenschaftlicher und kuustphilosophischen Untersuchungen
deshalb wertlos seien, weil sie der künstlerischen Produktion keinen Nutzen


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[0255] in vieler Gedächtnis. Auf welcher Seite die Schuld liegt, will ich nicht unter¬ suchen, noch weniger will ich die Kunstgelehrten aller Gattungen vou dem Vol> würfe freisprechen, ihre Aufgabe zuweilen falsch verstanden und in Gebiete über¬ gegriffen zu haben, die ihnen unzugänglich sind. Aber wo Streit ist, da sind auch Mißverständnisse, und wenn mau diese zurückweist, so thut man dies nicht um den Streit zu verschärfen, sondern um ihn zu vereinfachen und seinen Aus¬ trag zu ermögliche«. Die Mißverständnisse, die wir hier zu rügen haben, sind teils besondere und beziehen sich auf bestimmte Anschauungen, die Ludwig bekämpft; andre sind allgemeiner Natur und treten überall zu Tage, wo Künstler gegen Knustgelehrte streiten. Jene sind von geringern? Interesse, und eine Auseinandersetzung über dieselben würde sehr weit führen; eine kurze Bemerkung mag daher genügen. Ludwig stellt am Anfang seiner Erörterungen denen, die „in der Bildnerei den Ausdruck allgemein menschlicher Gedanken und Empfindungen suchen," diejenigen gegenüber, die „das Charakteristische der Bildnerei in das Neiuanschauliche, in die Erscheinung verlegen." Beide verurteilt er gleichmäßig. Die letztern nennt er mit Vorliebe „Anschauungsdvgmatiker" und kommt an verschiedenen Stellen auf dieselben zurück. Zwei Dinge sind es, deren er sie hauptsächlich anklagt, einmal, daß sie durch die bloße Anschauuugskrcift das „Gesammtbcwußtscin einer Welt bilden wollten, die noch mit gar vielem sonst als der Erscheinung ans uns wirke"; dann, daß sie die Anschauuugskrcift vou der Thätigkeit des künst- lerischen Gestaltens trennten, das Hauptgewicht auf jene legten und in diesem ein gleichsam selbstverständlich sich ergebendes, nebensächliches und nicht sonderlich schwieriges Geschäft erblickten. Ich bekenne, nicht zu wissen, welchen kuustphi- losophischeu Untersuchungen diese Anschauungen entnommen sind; meines Wissens sprechen die „Auschauungsdvgmatiker" so verkehrte Ansichten nicht aus, und wenn Ludwig ihren Untersuchungen mehr Aufmerksamkeit gewidmet hätte oder hätte widmen wollen, so würde er ihnen solchen Widersinn nicht haben unter¬ schieben können. Von einem anschauliche» Weltbewußtseiu sprechen sie nur in dem Sinne, daß sich in demselben ein vorherrschendes Interesse um der durch den Gesichtssinn wahrnehmbaren Erscheinung der Dinge dokumentire; von denen aber, die das Machen des künstlerischen Bildes gegen die geistige Thätigkeit herab¬ setzen, welche diesem Machen vorangeht, unterscheiden sie sich gerade dadurch, daß sie die Trennung zwischen geistigen! Prozeß und bildnerischer Manipulation aufheben und die Entwicklung des anschaulichen Bewußtseins selbst in die künst¬ lerisch gestaltende Thätigkeit verlegen. Merkwürdiger ist mir noch, daß Ludwig bei seiner selbständigen Deuknugs- nrt sich von jenen hergebrachten allgemeinen Mißverständnissen nicht frei hält. Zunächst sollte das von den Künstlern viel gebrauchte Argument gänzlich ver¬ schwinden, daß die kunstwissenschaftlicher und kuustphilosophischen Untersuchungen deshalb wertlos seien, weil sie der künstlerischen Produktion keinen Nutzen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_193340/255>, abgerufen am 22.07.2024.