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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal.

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Dom leipziger Theater.

fragten. Diese vorsichtige Betonung des "Geschäfts" war uns bei den Mei-
ningern neu. Das Publikum war infolge dessen in der Lage einer Tischgesell¬
schaft, die über das Menü im Unklaren gelassen wird. Die eine" halten sich
da an den ersten Gang und denken: Das schmeckt mir gerade; wer weiß, ob
das weitere wieder so gut zubereitet ist. Andre lassen einen Gang vorüber¬
gehen und denken: Es wird schon noch was kommen. Wir glauben, daß die
Meininger mit dieser Praxis sich erheblich geschadet haben; so mancher hat Gang
um Gang vorübergehen lassen und schließlich gar nicht mitgegessen, der, wenn
er die Speisekarte gekannt Hütte, doch hie und da ein Stück zugelangt haben
würde. Wir für unsre Person haben uns an den ersten und an den dritten
Gang gehalten, vom ersten uus sogar zweimal zugelangt; ohne gastronomische
Metapher gesprochen: wir haben zweimal Wallensteins Lager und die Picco¬
lomini, einmal den Tell gesehen; das übrige haben wir uns diesmal geschenkt.
Daß wir die Piccolomini zweimal gesehen, hatte übrigens seinen besondern Grund;
man langt sich manchmal anch ein zweites Stück zu, nicht weil das erste besonders
gut, sondern weil es seltsam und befremdlich geschmeckt hat; mau möchte gern
hinter den wahren Geschmack kommen.

Mit dem Tell hatten wir es ganz unglücklich getroffen. Ein glühend heißer
Abend, ein halbleeres Haus, eine geschäftsmäßig, ohne Weihe und Begeisterung
abgehaspelte Vorstellung. Man hatte den Eindruck, als ob die Schauspieler
einander in den Zwischenakten immer animirt Hütten: Macht nur, daß wir fertig
werden und in den Biergarten zu unserm Abendschoppen kommen! Ein ganz
besondres Mißgeschick war es, daß der Darsteller des Tell, der uns vou früher
her noch im besten Andenken war und auf den wir uus besonders gefreut hatten,
durch einen Berliner Gast vertreten war, der eine der lächerlichsten Erinnerungen
aus unsern Theatererlebnissen heraufbeschwor, die Erinnerung an den langen
Hanisch, der zu Wirsings Zeiten jahrelang in Leipzig die Heldenrollen stampfte,
schnarrte und keuchte. Dieser Berliner Tell bot eine höchst mittelmäßige Leistung:
aus farblosem Gerede, das wohl bieder und gemütlich klingen sollte, und eckigen
Bewegungen und Stellungen, die wohl auch bieder und gemütlich aussehen
sollten, verfiel er an deu bewußten Krnftftellen in ganz gewöhnliches Kulissen
reißen. Aufrichtig leid gethan hat uus deu Abend Arnold von Melchthal, der
mit ehrlichster Begeisterung und edelstem Feuer spielte, aber allein das matte
Ganze uicht mit fortreißen konnte.

Ungleich besser als die Tellnnfführuug waren die von Wallensteins Lager
und den Piccolomini. Man sah, daß alle Beteiligten hier einer Aufgabe gegen¬
überstanden, die ihnen selbst uoch neuer war, und für deren An- und Auffassung
sie speziell in Leipzig erst noch Beifall erringen wollten. Daher mutete einen
hier alles frischer und ursprünglicher an als im Tell, den sie sich wirklich ent¬
setzlich zum Überdruß gespielt zu haben scheinen. Im ganzen waren aber doch
auch diese Aufführungen nur ein mäßiger Genuß.


Dom leipziger Theater.

fragten. Diese vorsichtige Betonung des „Geschäfts" war uns bei den Mei-
ningern neu. Das Publikum war infolge dessen in der Lage einer Tischgesell¬
schaft, die über das Menü im Unklaren gelassen wird. Die eine» halten sich
da an den ersten Gang und denken: Das schmeckt mir gerade; wer weiß, ob
das weitere wieder so gut zubereitet ist. Andre lassen einen Gang vorüber¬
gehen und denken: Es wird schon noch was kommen. Wir glauben, daß die
Meininger mit dieser Praxis sich erheblich geschadet haben; so mancher hat Gang
um Gang vorübergehen lassen und schließlich gar nicht mitgegessen, der, wenn
er die Speisekarte gekannt Hütte, doch hie und da ein Stück zugelangt haben
würde. Wir für unsre Person haben uns an den ersten und an den dritten
Gang gehalten, vom ersten uus sogar zweimal zugelangt; ohne gastronomische
Metapher gesprochen: wir haben zweimal Wallensteins Lager und die Picco¬
lomini, einmal den Tell gesehen; das übrige haben wir uns diesmal geschenkt.
Daß wir die Piccolomini zweimal gesehen, hatte übrigens seinen besondern Grund;
man langt sich manchmal anch ein zweites Stück zu, nicht weil das erste besonders
gut, sondern weil es seltsam und befremdlich geschmeckt hat; mau möchte gern
hinter den wahren Geschmack kommen.

Mit dem Tell hatten wir es ganz unglücklich getroffen. Ein glühend heißer
Abend, ein halbleeres Haus, eine geschäftsmäßig, ohne Weihe und Begeisterung
abgehaspelte Vorstellung. Man hatte den Eindruck, als ob die Schauspieler
einander in den Zwischenakten immer animirt Hütten: Macht nur, daß wir fertig
werden und in den Biergarten zu unserm Abendschoppen kommen! Ein ganz
besondres Mißgeschick war es, daß der Darsteller des Tell, der uns vou früher
her noch im besten Andenken war und auf den wir uus besonders gefreut hatten,
durch einen Berliner Gast vertreten war, der eine der lächerlichsten Erinnerungen
aus unsern Theatererlebnissen heraufbeschwor, die Erinnerung an den langen
Hanisch, der zu Wirsings Zeiten jahrelang in Leipzig die Heldenrollen stampfte,
schnarrte und keuchte. Dieser Berliner Tell bot eine höchst mittelmäßige Leistung:
aus farblosem Gerede, das wohl bieder und gemütlich klingen sollte, und eckigen
Bewegungen und Stellungen, die wohl auch bieder und gemütlich aussehen
sollten, verfiel er an deu bewußten Krnftftellen in ganz gewöhnliches Kulissen
reißen. Aufrichtig leid gethan hat uus deu Abend Arnold von Melchthal, der
mit ehrlichster Begeisterung und edelstem Feuer spielte, aber allein das matte
Ganze uicht mit fortreißen konnte.

Ungleich besser als die Tellnnfführuug waren die von Wallensteins Lager
und den Piccolomini. Man sah, daß alle Beteiligten hier einer Aufgabe gegen¬
überstanden, die ihnen selbst uoch neuer war, und für deren An- und Auffassung
sie speziell in Leipzig erst noch Beifall erringen wollten. Daher mutete einen
hier alles frischer und ursprünglicher an als im Tell, den sie sich wirklich ent¬
setzlich zum Überdruß gespielt zu haben scheinen. Im ganzen waren aber doch
auch diese Aufführungen nur ein mäßiger Genuß.


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[0234] Dom leipziger Theater. fragten. Diese vorsichtige Betonung des „Geschäfts" war uns bei den Mei- ningern neu. Das Publikum war infolge dessen in der Lage einer Tischgesell¬ schaft, die über das Menü im Unklaren gelassen wird. Die eine» halten sich da an den ersten Gang und denken: Das schmeckt mir gerade; wer weiß, ob das weitere wieder so gut zubereitet ist. Andre lassen einen Gang vorüber¬ gehen und denken: Es wird schon noch was kommen. Wir glauben, daß die Meininger mit dieser Praxis sich erheblich geschadet haben; so mancher hat Gang um Gang vorübergehen lassen und schließlich gar nicht mitgegessen, der, wenn er die Speisekarte gekannt Hütte, doch hie und da ein Stück zugelangt haben würde. Wir für unsre Person haben uns an den ersten und an den dritten Gang gehalten, vom ersten uus sogar zweimal zugelangt; ohne gastronomische Metapher gesprochen: wir haben zweimal Wallensteins Lager und die Picco¬ lomini, einmal den Tell gesehen; das übrige haben wir uns diesmal geschenkt. Daß wir die Piccolomini zweimal gesehen, hatte übrigens seinen besondern Grund; man langt sich manchmal anch ein zweites Stück zu, nicht weil das erste besonders gut, sondern weil es seltsam und befremdlich geschmeckt hat; mau möchte gern hinter den wahren Geschmack kommen. Mit dem Tell hatten wir es ganz unglücklich getroffen. Ein glühend heißer Abend, ein halbleeres Haus, eine geschäftsmäßig, ohne Weihe und Begeisterung abgehaspelte Vorstellung. Man hatte den Eindruck, als ob die Schauspieler einander in den Zwischenakten immer animirt Hütten: Macht nur, daß wir fertig werden und in den Biergarten zu unserm Abendschoppen kommen! Ein ganz besondres Mißgeschick war es, daß der Darsteller des Tell, der uns vou früher her noch im besten Andenken war und auf den wir uus besonders gefreut hatten, durch einen Berliner Gast vertreten war, der eine der lächerlichsten Erinnerungen aus unsern Theatererlebnissen heraufbeschwor, die Erinnerung an den langen Hanisch, der zu Wirsings Zeiten jahrelang in Leipzig die Heldenrollen stampfte, schnarrte und keuchte. Dieser Berliner Tell bot eine höchst mittelmäßige Leistung: aus farblosem Gerede, das wohl bieder und gemütlich klingen sollte, und eckigen Bewegungen und Stellungen, die wohl auch bieder und gemütlich aussehen sollten, verfiel er an deu bewußten Krnftftellen in ganz gewöhnliches Kulissen reißen. Aufrichtig leid gethan hat uus deu Abend Arnold von Melchthal, der mit ehrlichster Begeisterung und edelstem Feuer spielte, aber allein das matte Ganze uicht mit fortreißen konnte. Ungleich besser als die Tellnnfführuug waren die von Wallensteins Lager und den Piccolomini. Man sah, daß alle Beteiligten hier einer Aufgabe gegen¬ überstanden, die ihnen selbst uoch neuer war, und für deren An- und Auffassung sie speziell in Leipzig erst noch Beifall erringen wollten. Daher mutete einen hier alles frischer und ursprünglicher an als im Tell, den sie sich wirklich ent¬ setzlich zum Überdruß gespielt zu haben scheinen. Im ganzen waren aber doch auch diese Aufführungen nur ein mäßiger Genuß.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_193340/234>, abgerufen am 29.06.2024.