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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal.

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Parlamentarierstandpunkten erstreben. Eine wirkliche, innerlich begründete Ord¬
nung ist nnr möglich, wenn eine Einheit politischen Staatsbürgersinnes und mit
ihr das Mittel gewonnen wird, welches gleichsam als parlamentarischer General¬
nenner bei jeder parlamentarischen Aufgabe die Möglichkeit bietet, die integri-
rendc Bedeutung aller Parteibrnchteile, ohne ihren Sonderwert aufzuheben,
mittelst erzielter Einheitlichkeit des Parlaments zur entsprechenden Geltung zu
bringen."

Aber die Einheit des politischen Staatsbürgersinns läßt sich nicht in jedem
Falle n,ä nov von der Regierung oder einer Partei beschaffen. Sie muß schou
zuvor erzogen, schon als lebendige Realität vorhanden sein, wenn sie sich in den
einzelnen Fällen bewähren soll. "Es mich also die politische Reife des Volkes
unter den Gesichtspunkt der Schulung gesetzt werdeu. Nur unter diesem kann
sie zur Wirklichkeit werden und nach dem Maße wachsen, als sich ein politisches
Nativnalgewissen herausbildet, welches die Verkehrtheit verschiedener Parteige¬
wissen ausmerzt, um Staat und Vaterland wieder mehr geltend zu machen als
Parlament und Partei. Mit demselben Rechte, mit dem man von einem wissen¬
schaftlichen, einem geschäftlichen Gewissen spricht, muß endlich auch das politische
Gewissen auf den Plan kommen. Auch in der Politik muß die allgemeine Gel¬
tung eines speziellen Gewissens als Garantie gegen die Befangenheit, Sonder-
interesfen über das allgemeine zu setzen, endlich zur normativen Anerkennung
seitens aller Parteien gelangen und als der allein berechtigte Maßstab politischer
Selbständigkeit betrachtet werden. Mag man Politik immerhin zu den relativsten
Begriffen zählen, ... so wird man nichtsdestoweniger anch hier endlich gewisse
absolut giltige Axiome oder Grundgesetze annehmen müssen, wie solche die fort¬
schreitende Zivilisation schou vor Zeiten selbst bezüglich der sogenannten freien
Künste zum Zwecke rationeller Ausübung derselben für unerläßlich gehalten hat.
Was für die Architektur das Verhältnis von Länge und Breite auf Grund des
goldenen Schnittes, für die Malerei die Perspektive, für die Musik der General¬
baß ist, das muß in analoger Weise für die Politik mittelst bestimmter Pnnkte
von absolut giltiger Gesetzmäßigkeit fixirt werden, wenn man Politik und was
damit zusammenhängt anch zu den vernünftigen Allgelegenheiten denkender Men¬
schen zählen und nicht länger als ein Blindekuhspiel erwachsener Kinder dulden
will."

Durchschlagende Abhilfe gegenüber dein jetzigen Notstände und Anbahnung
gesunder sozialpolitischer Entwicklung ist -- so faßt der Autor unsrer Schrift
seine Erörterungen zusammen -- "nnr möglich, wenn die Regierung dnrch Be¬
schaffung entsprechender Mittel dafür sorgt, daß jedem Staatsbürger ohne Aus¬
nahme wie in andern Stücke" so auch in der Politik Gelegenheit geboten ist,
alles, was man Dilettantismus, Antvdidaktentnm, Laienunvcrstand n. s. w. nennt,
zu vermeiden und bei politischem Thun nicht blindlings darauf lvszupfnschen,
sondern rationell zu verfahren, daß jenes Thun bei jedem Staatsbürger ans


Parlamentarierstandpunkten erstreben. Eine wirkliche, innerlich begründete Ord¬
nung ist nnr möglich, wenn eine Einheit politischen Staatsbürgersinnes und mit
ihr das Mittel gewonnen wird, welches gleichsam als parlamentarischer General¬
nenner bei jeder parlamentarischen Aufgabe die Möglichkeit bietet, die integri-
rendc Bedeutung aller Parteibrnchteile, ohne ihren Sonderwert aufzuheben,
mittelst erzielter Einheitlichkeit des Parlaments zur entsprechenden Geltung zu
bringen."

Aber die Einheit des politischen Staatsbürgersinns läßt sich nicht in jedem
Falle n,ä nov von der Regierung oder einer Partei beschaffen. Sie muß schou
zuvor erzogen, schon als lebendige Realität vorhanden sein, wenn sie sich in den
einzelnen Fällen bewähren soll. „Es mich also die politische Reife des Volkes
unter den Gesichtspunkt der Schulung gesetzt werdeu. Nur unter diesem kann
sie zur Wirklichkeit werden und nach dem Maße wachsen, als sich ein politisches
Nativnalgewissen herausbildet, welches die Verkehrtheit verschiedener Parteige¬
wissen ausmerzt, um Staat und Vaterland wieder mehr geltend zu machen als
Parlament und Partei. Mit demselben Rechte, mit dem man von einem wissen¬
schaftlichen, einem geschäftlichen Gewissen spricht, muß endlich auch das politische
Gewissen auf den Plan kommen. Auch in der Politik muß die allgemeine Gel¬
tung eines speziellen Gewissens als Garantie gegen die Befangenheit, Sonder-
interesfen über das allgemeine zu setzen, endlich zur normativen Anerkennung
seitens aller Parteien gelangen und als der allein berechtigte Maßstab politischer
Selbständigkeit betrachtet werden. Mag man Politik immerhin zu den relativsten
Begriffen zählen, ... so wird man nichtsdestoweniger anch hier endlich gewisse
absolut giltige Axiome oder Grundgesetze annehmen müssen, wie solche die fort¬
schreitende Zivilisation schou vor Zeiten selbst bezüglich der sogenannten freien
Künste zum Zwecke rationeller Ausübung derselben für unerläßlich gehalten hat.
Was für die Architektur das Verhältnis von Länge und Breite auf Grund des
goldenen Schnittes, für die Malerei die Perspektive, für die Musik der General¬
baß ist, das muß in analoger Weise für die Politik mittelst bestimmter Pnnkte
von absolut giltiger Gesetzmäßigkeit fixirt werden, wenn man Politik und was
damit zusammenhängt anch zu den vernünftigen Allgelegenheiten denkender Men¬
schen zählen und nicht länger als ein Blindekuhspiel erwachsener Kinder dulden
will."

Durchschlagende Abhilfe gegenüber dein jetzigen Notstände und Anbahnung
gesunder sozialpolitischer Entwicklung ist — so faßt der Autor unsrer Schrift
seine Erörterungen zusammen — „nnr möglich, wenn die Regierung dnrch Be¬
schaffung entsprechender Mittel dafür sorgt, daß jedem Staatsbürger ohne Aus¬
nahme wie in andern Stücke» so auch in der Politik Gelegenheit geboten ist,
alles, was man Dilettantismus, Antvdidaktentnm, Laienunvcrstand n. s. w. nennt,
zu vermeiden und bei politischem Thun nicht blindlings darauf lvszupfnschen,
sondern rationell zu verfahren, daß jenes Thun bei jedem Staatsbürger ans


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[0013] Parlamentarierstandpunkten erstreben. Eine wirkliche, innerlich begründete Ord¬ nung ist nnr möglich, wenn eine Einheit politischen Staatsbürgersinnes und mit ihr das Mittel gewonnen wird, welches gleichsam als parlamentarischer General¬ nenner bei jeder parlamentarischen Aufgabe die Möglichkeit bietet, die integri- rendc Bedeutung aller Parteibrnchteile, ohne ihren Sonderwert aufzuheben, mittelst erzielter Einheitlichkeit des Parlaments zur entsprechenden Geltung zu bringen." Aber die Einheit des politischen Staatsbürgersinns läßt sich nicht in jedem Falle n,ä nov von der Regierung oder einer Partei beschaffen. Sie muß schou zuvor erzogen, schon als lebendige Realität vorhanden sein, wenn sie sich in den einzelnen Fällen bewähren soll. „Es mich also die politische Reife des Volkes unter den Gesichtspunkt der Schulung gesetzt werdeu. Nur unter diesem kann sie zur Wirklichkeit werden und nach dem Maße wachsen, als sich ein politisches Nativnalgewissen herausbildet, welches die Verkehrtheit verschiedener Parteige¬ wissen ausmerzt, um Staat und Vaterland wieder mehr geltend zu machen als Parlament und Partei. Mit demselben Rechte, mit dem man von einem wissen¬ schaftlichen, einem geschäftlichen Gewissen spricht, muß endlich auch das politische Gewissen auf den Plan kommen. Auch in der Politik muß die allgemeine Gel¬ tung eines speziellen Gewissens als Garantie gegen die Befangenheit, Sonder- interesfen über das allgemeine zu setzen, endlich zur normativen Anerkennung seitens aller Parteien gelangen und als der allein berechtigte Maßstab politischer Selbständigkeit betrachtet werden. Mag man Politik immerhin zu den relativsten Begriffen zählen, ... so wird man nichtsdestoweniger anch hier endlich gewisse absolut giltige Axiome oder Grundgesetze annehmen müssen, wie solche die fort¬ schreitende Zivilisation schou vor Zeiten selbst bezüglich der sogenannten freien Künste zum Zwecke rationeller Ausübung derselben für unerläßlich gehalten hat. Was für die Architektur das Verhältnis von Länge und Breite auf Grund des goldenen Schnittes, für die Malerei die Perspektive, für die Musik der General¬ baß ist, das muß in analoger Weise für die Politik mittelst bestimmter Pnnkte von absolut giltiger Gesetzmäßigkeit fixirt werden, wenn man Politik und was damit zusammenhängt anch zu den vernünftigen Allgelegenheiten denkender Men¬ schen zählen und nicht länger als ein Blindekuhspiel erwachsener Kinder dulden will." Durchschlagende Abhilfe gegenüber dein jetzigen Notstände und Anbahnung gesunder sozialpolitischer Entwicklung ist — so faßt der Autor unsrer Schrift seine Erörterungen zusammen — „nnr möglich, wenn die Regierung dnrch Be¬ schaffung entsprechender Mittel dafür sorgt, daß jedem Staatsbürger ohne Aus¬ nahme wie in andern Stücke» so auch in der Politik Gelegenheit geboten ist, alles, was man Dilettantismus, Antvdidaktentnm, Laienunvcrstand n. s. w. nennt, zu vermeiden und bei politischem Thun nicht blindlings darauf lvszupfnschen, sondern rationell zu verfahren, daß jenes Thun bei jedem Staatsbürger ans

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_193340/13>, abgerufen am 22.07.2024.