Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.Zola und der Naturalismus auf dem Theater, keine Ideale mehr kannte, sondern Gewinn und Genuß als die einzigen eines Zola erkennt freilich die heutigen Vertreter des Naturalismus auf der Zola und der Naturalismus auf dem Theater, keine Ideale mehr kannte, sondern Gewinn und Genuß als die einzigen eines Zola erkennt freilich die heutigen Vertreter des Naturalismus auf der <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0322" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/151044"/> <fw type="header" place="top"> Zola und der Naturalismus auf dem Theater,</fw><lb/> <p xml:id="ID_1071" prev="#ID_1070"> keine Ideale mehr kannte, sondern Gewinn und Genuß als die einzigen eines<lb/> vernünftigen Strebens würdigen Führer erkor. Scribe war der erste, welcher<lb/> für ein derartig gestimmtes Publicum schrieb und die Kunst ausbildete, die<lb/> Schwächen und Fehler derselben in einer Weise zu bespötteln und zu geißeln,<lb/> welche demselben, wenn auch nicht immer gleichzeitig schmeichelte, so es doch<lb/> immer dabei zu unterhalten verstand. Scribe hatte unzweifelhaft ein weit<lb/> größeres Publicum als Victor Hugo, da er nicht nur die Pariser Theater,<lb/> sondern die Theater von ganz Europa beherrschte. Jene Kunst Scribes ist aber<lb/> gerade von denjenigen der spätern Dramatiker, welche sich Naturalisten nannten,<lb/> ergriffe» und, indem man die möglichst frappante Naturähnlichkcit der geschil¬<lb/> derten Gegenstünde hinzubrachte, weiter ausgebildet worden. Victor Hugo arbeitete<lb/> ihnen aber in einer andern Art vor, indem er ein großes Gewicht auf die<lb/> möglichst stimmungsvolle Behandlung der äußern Situation legte und das<lb/> historische Colorit zu dramatischen und scenischen Wirkungen in Anwendung<lb/> brachte. Was man auch gegen die Wahrheit dieses Kostüms und Colorits bei<lb/> ihm einwenden mag, so ist es doch nicht weniger gewiß, daß er der Tragödie<lb/> höhern Stils in Frankreich zuerst ein dramatisches Colorit gegeben, daß er es<lb/> mit den Wirkungen desselben vertraut gemacht und zu dessen weiterer Entwicklung<lb/> den Grund gelegt und den Weg gebahnt hat. Die neuen naturalistischen Dichter<lb/> sind bei ihm nicht weniger, nein, vielleicht noch mehr als bei Scribe in die<lb/> Schule gegangen. Sie haben von ihm nicht nur die malerisch stimmungsvolle<lb/> Behandlung der dramatischen Action gelernt, sondern auch noch andre An¬<lb/> regungen von ihm empfangen, wofür ich nur auf eines ihrer bahnbrechenden<lb/> Stücke Iig, claMs aux oamelms und den Vergleich desselben mit Narina as I,orws<lb/> zu verweisen brauche. Auch läßt sich ein Uebergang von der romantischen zu<lb/> der heutigen naturalistischen Schule in Dichtern wie Alfred de Musset nach¬<lb/> weisen, der neben seinen phantastischen Hunger schon eine sehr sorgfältige Be¬<lb/> obachtung des Lebens zeigte.</p><lb/> <p xml:id="ID_1072" next="#ID_1073"> Zola erkennt freilich die heutigen Vertreter des Naturalismus auf der<lb/> Bühne gar nicht als echt an, und wenn er unter Naturalismus die Wahrheit<lb/> versteht, wäre es auch nur im Sinne der Uebereinstimmung mit der Natur und<lb/> der Wirklichkeit, auch vielfach mit Recht. Er hält Sardon für einen Nachfolger<lb/> Scribes, insofern dieser die dramatische Action aus die Spitze getrieben, das<lb/> Interesse völlig in sie verlegt und die Charaktere zu Marionetten gemacht habe.<lb/> Sardous Kunst bestehe in seiner Beweglichkeit, welche den Glauben erwecke, daß<lb/> seine Mechanik von wirklichem Leben beseelt sei. Seine Lebensbcobachtnng sei<lb/> jedoch oberflächlich. Schon höher stellt er Dumas d. I. Einzelne Scenen des¬<lb/> selben befriedigen ihn sogar völlig, da sie von einer bewunderungswürdigen<lb/> Feinheit der Analyse Zeugniß ablegen. Die Tendenz und die Sucht, geistreich<lb/> zu erscheinen, verleite denselben jedoch zu Ausschreitungen, zu Paradoxien und<lb/> barocken Erfindungen. Alle seine Figuren seien geistreich, doch alle gleich geiht-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0322]
Zola und der Naturalismus auf dem Theater,
keine Ideale mehr kannte, sondern Gewinn und Genuß als die einzigen eines
vernünftigen Strebens würdigen Führer erkor. Scribe war der erste, welcher
für ein derartig gestimmtes Publicum schrieb und die Kunst ausbildete, die
Schwächen und Fehler derselben in einer Weise zu bespötteln und zu geißeln,
welche demselben, wenn auch nicht immer gleichzeitig schmeichelte, so es doch
immer dabei zu unterhalten verstand. Scribe hatte unzweifelhaft ein weit
größeres Publicum als Victor Hugo, da er nicht nur die Pariser Theater,
sondern die Theater von ganz Europa beherrschte. Jene Kunst Scribes ist aber
gerade von denjenigen der spätern Dramatiker, welche sich Naturalisten nannten,
ergriffe» und, indem man die möglichst frappante Naturähnlichkcit der geschil¬
derten Gegenstünde hinzubrachte, weiter ausgebildet worden. Victor Hugo arbeitete
ihnen aber in einer andern Art vor, indem er ein großes Gewicht auf die
möglichst stimmungsvolle Behandlung der äußern Situation legte und das
historische Colorit zu dramatischen und scenischen Wirkungen in Anwendung
brachte. Was man auch gegen die Wahrheit dieses Kostüms und Colorits bei
ihm einwenden mag, so ist es doch nicht weniger gewiß, daß er der Tragödie
höhern Stils in Frankreich zuerst ein dramatisches Colorit gegeben, daß er es
mit den Wirkungen desselben vertraut gemacht und zu dessen weiterer Entwicklung
den Grund gelegt und den Weg gebahnt hat. Die neuen naturalistischen Dichter
sind bei ihm nicht weniger, nein, vielleicht noch mehr als bei Scribe in die
Schule gegangen. Sie haben von ihm nicht nur die malerisch stimmungsvolle
Behandlung der dramatischen Action gelernt, sondern auch noch andre An¬
regungen von ihm empfangen, wofür ich nur auf eines ihrer bahnbrechenden
Stücke Iig, claMs aux oamelms und den Vergleich desselben mit Narina as I,orws
zu verweisen brauche. Auch läßt sich ein Uebergang von der romantischen zu
der heutigen naturalistischen Schule in Dichtern wie Alfred de Musset nach¬
weisen, der neben seinen phantastischen Hunger schon eine sehr sorgfältige Be¬
obachtung des Lebens zeigte.
Zola erkennt freilich die heutigen Vertreter des Naturalismus auf der
Bühne gar nicht als echt an, und wenn er unter Naturalismus die Wahrheit
versteht, wäre es auch nur im Sinne der Uebereinstimmung mit der Natur und
der Wirklichkeit, auch vielfach mit Recht. Er hält Sardon für einen Nachfolger
Scribes, insofern dieser die dramatische Action aus die Spitze getrieben, das
Interesse völlig in sie verlegt und die Charaktere zu Marionetten gemacht habe.
Sardous Kunst bestehe in seiner Beweglichkeit, welche den Glauben erwecke, daß
seine Mechanik von wirklichem Leben beseelt sei. Seine Lebensbcobachtnng sei
jedoch oberflächlich. Schon höher stellt er Dumas d. I. Einzelne Scenen des¬
selben befriedigen ihn sogar völlig, da sie von einer bewunderungswürdigen
Feinheit der Analyse Zeugniß ablegen. Die Tendenz und die Sucht, geistreich
zu erscheinen, verleite denselben jedoch zu Ausschreitungen, zu Paradoxien und
barocken Erfindungen. Alle seine Figuren seien geistreich, doch alle gleich geiht-
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