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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.

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Zola und der Naturalismus auf dem Theater.

reich wie er. Es lasse sich sagen, daß er die Wahrheit nur als Sprungbret
benutze, um ins Leere zu springen. Am höchsten schätzt er noch Angler. Habe
doch dieser die neue Bewegung wieder an das altclassische Drama geknüpft.
Seine Lebensbeobachtung sei vorzüglich. Aber er halte an der Convention einer
gewissen Wohlanständigkeit fest, die ihn zur Schönfärberei seiner Charaktere ver¬
leite. Auch tadelt er nicht mit Unrecht an ihm die zanberartigen Verwand¬
lungen des Lasters in Tugend. Allein diese Urtheile, welche der ersten der beiden
hier vorliegenden Schriften Zolas entnommen sind, wurden von ihm in der
zweiten um vieles verschärft. Er war inzwischen wegen derselben der Verun¬
glimpfung der Ehre Frankreichs beschuldigt und jene Dichter waren Talente ersten
Ranges genannt worden. "Ersten Ranges? -- fährt er empor. Ich leugne das
vollständig! Sagen wir zweiten, ja dritten!" Mit Recht versteht Zola unter
einem Dichter ersten Ranges nur einen solchen, welcher etwas neues hervor¬
gebracht hat (orsatsur), welcher der Ausgangs- und Höhepunkt einer neuen
Dichtungsepoche ist. Nach ihm ist Victor Hugo der einzige Dichter des Jahr¬
hunderts, der eine neue Form (tormulö) geschaffen, wenn sie ihm selbst auch
nicht ansteht. Der Geist der Form, die er fordre, sei die Wahrheit, aber die
volle und ganze Wahrheit der Natur und der Wirklichkeit, wie sie sich aus der
exacten physiologischen und psychologischen Analyse ergebe. Der Dichter soll nach
ihm ganz hinter seinem Werke verschwinden, die Phantasie, ja die ganze Sub-
jectivität davon ausgeschlossen bleiben, essoll nichts als ein getreues und voll¬
ständiges Protokoll der Natur sein und kein weiteres Verdienst, als das der
exacten Beobachtung, des möglichst tiefen Eindringens in den Gegenstand, der
logischen Verknüpfung der Thatsachen haben. Es kommt ihm dabei nicht auf
den Gegenstand an, weil alles gleich würdig der Darstellung sei. Der Dichter
sei auch durch nichts in der Form und dem Tone seiner Darstellung gebunden
als durch den Gegenstand selbst und die Wahrheit der Darstellung. Wie sollte
es also einer besondern Begabung für das Theater oder den Roman noch be¬
dürfen? Da der Dichter nie mit seiner Meinung in die Darstellung irgendwie
eintreten dürfe, könne man an ihn die Frage nach der Sittlichkeit auch gar
nicht erheben. Er giebt nur die Thatsachen und überläßt das Urtheil dem Leser
oder dem Zuschauer. Er erfüllt ihre Phantasie nicht mit täuschenden und ver¬
führerischen Vorstellungen vom Leben, er lehrt, wie das Leben selbst, durch die
bittere Wahrheit des Wirklichen. "Wir sind nur Gelehrte, Analytiker, Anatomen,
und unsern Werken ist die Sicherheit, die Solidität, die praktische Nützlichkeit
der Werke der Wissenschaft eigen. Ich keime keine Schule, welche moralischer
und dabei strenger wäre."

Das wäre nach Zola die Aufgabe des naturalistischen Dichters im allge¬
meinen. Wie nun aber im Drama? Nach seiner Ueberzeugung wird die na¬
turalistische Form hier nichts andres sein als die auf den heutigen Zustand
der Gesellschaft angewendete Form des classischen Dramas. Des classischen


Grenzboten IV. 1881. 41
Zola und der Naturalismus auf dem Theater.

reich wie er. Es lasse sich sagen, daß er die Wahrheit nur als Sprungbret
benutze, um ins Leere zu springen. Am höchsten schätzt er noch Angler. Habe
doch dieser die neue Bewegung wieder an das altclassische Drama geknüpft.
Seine Lebensbeobachtung sei vorzüglich. Aber er halte an der Convention einer
gewissen Wohlanständigkeit fest, die ihn zur Schönfärberei seiner Charaktere ver¬
leite. Auch tadelt er nicht mit Unrecht an ihm die zanberartigen Verwand¬
lungen des Lasters in Tugend. Allein diese Urtheile, welche der ersten der beiden
hier vorliegenden Schriften Zolas entnommen sind, wurden von ihm in der
zweiten um vieles verschärft. Er war inzwischen wegen derselben der Verun¬
glimpfung der Ehre Frankreichs beschuldigt und jene Dichter waren Talente ersten
Ranges genannt worden. „Ersten Ranges? — fährt er empor. Ich leugne das
vollständig! Sagen wir zweiten, ja dritten!" Mit Recht versteht Zola unter
einem Dichter ersten Ranges nur einen solchen, welcher etwas neues hervor¬
gebracht hat (orsatsur), welcher der Ausgangs- und Höhepunkt einer neuen
Dichtungsepoche ist. Nach ihm ist Victor Hugo der einzige Dichter des Jahr¬
hunderts, der eine neue Form (tormulö) geschaffen, wenn sie ihm selbst auch
nicht ansteht. Der Geist der Form, die er fordre, sei die Wahrheit, aber die
volle und ganze Wahrheit der Natur und der Wirklichkeit, wie sie sich aus der
exacten physiologischen und psychologischen Analyse ergebe. Der Dichter soll nach
ihm ganz hinter seinem Werke verschwinden, die Phantasie, ja die ganze Sub-
jectivität davon ausgeschlossen bleiben, essoll nichts als ein getreues und voll¬
ständiges Protokoll der Natur sein und kein weiteres Verdienst, als das der
exacten Beobachtung, des möglichst tiefen Eindringens in den Gegenstand, der
logischen Verknüpfung der Thatsachen haben. Es kommt ihm dabei nicht auf
den Gegenstand an, weil alles gleich würdig der Darstellung sei. Der Dichter
sei auch durch nichts in der Form und dem Tone seiner Darstellung gebunden
als durch den Gegenstand selbst und die Wahrheit der Darstellung. Wie sollte
es also einer besondern Begabung für das Theater oder den Roman noch be¬
dürfen? Da der Dichter nie mit seiner Meinung in die Darstellung irgendwie
eintreten dürfe, könne man an ihn die Frage nach der Sittlichkeit auch gar
nicht erheben. Er giebt nur die Thatsachen und überläßt das Urtheil dem Leser
oder dem Zuschauer. Er erfüllt ihre Phantasie nicht mit täuschenden und ver¬
führerischen Vorstellungen vom Leben, er lehrt, wie das Leben selbst, durch die
bittere Wahrheit des Wirklichen. „Wir sind nur Gelehrte, Analytiker, Anatomen,
und unsern Werken ist die Sicherheit, die Solidität, die praktische Nützlichkeit
der Werke der Wissenschaft eigen. Ich keime keine Schule, welche moralischer
und dabei strenger wäre."

Das wäre nach Zola die Aufgabe des naturalistischen Dichters im allge¬
meinen. Wie nun aber im Drama? Nach seiner Ueberzeugung wird die na¬
turalistische Form hier nichts andres sein als die auf den heutigen Zustand
der Gesellschaft angewendete Form des classischen Dramas. Des classischen


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[0323] Zola und der Naturalismus auf dem Theater. reich wie er. Es lasse sich sagen, daß er die Wahrheit nur als Sprungbret benutze, um ins Leere zu springen. Am höchsten schätzt er noch Angler. Habe doch dieser die neue Bewegung wieder an das altclassische Drama geknüpft. Seine Lebensbeobachtung sei vorzüglich. Aber er halte an der Convention einer gewissen Wohlanständigkeit fest, die ihn zur Schönfärberei seiner Charaktere ver¬ leite. Auch tadelt er nicht mit Unrecht an ihm die zanberartigen Verwand¬ lungen des Lasters in Tugend. Allein diese Urtheile, welche der ersten der beiden hier vorliegenden Schriften Zolas entnommen sind, wurden von ihm in der zweiten um vieles verschärft. Er war inzwischen wegen derselben der Verun¬ glimpfung der Ehre Frankreichs beschuldigt und jene Dichter waren Talente ersten Ranges genannt worden. „Ersten Ranges? — fährt er empor. Ich leugne das vollständig! Sagen wir zweiten, ja dritten!" Mit Recht versteht Zola unter einem Dichter ersten Ranges nur einen solchen, welcher etwas neues hervor¬ gebracht hat (orsatsur), welcher der Ausgangs- und Höhepunkt einer neuen Dichtungsepoche ist. Nach ihm ist Victor Hugo der einzige Dichter des Jahr¬ hunderts, der eine neue Form (tormulö) geschaffen, wenn sie ihm selbst auch nicht ansteht. Der Geist der Form, die er fordre, sei die Wahrheit, aber die volle und ganze Wahrheit der Natur und der Wirklichkeit, wie sie sich aus der exacten physiologischen und psychologischen Analyse ergebe. Der Dichter soll nach ihm ganz hinter seinem Werke verschwinden, die Phantasie, ja die ganze Sub- jectivität davon ausgeschlossen bleiben, essoll nichts als ein getreues und voll¬ ständiges Protokoll der Natur sein und kein weiteres Verdienst, als das der exacten Beobachtung, des möglichst tiefen Eindringens in den Gegenstand, der logischen Verknüpfung der Thatsachen haben. Es kommt ihm dabei nicht auf den Gegenstand an, weil alles gleich würdig der Darstellung sei. Der Dichter sei auch durch nichts in der Form und dem Tone seiner Darstellung gebunden als durch den Gegenstand selbst und die Wahrheit der Darstellung. Wie sollte es also einer besondern Begabung für das Theater oder den Roman noch be¬ dürfen? Da der Dichter nie mit seiner Meinung in die Darstellung irgendwie eintreten dürfe, könne man an ihn die Frage nach der Sittlichkeit auch gar nicht erheben. Er giebt nur die Thatsachen und überläßt das Urtheil dem Leser oder dem Zuschauer. Er erfüllt ihre Phantasie nicht mit täuschenden und ver¬ führerischen Vorstellungen vom Leben, er lehrt, wie das Leben selbst, durch die bittere Wahrheit des Wirklichen. „Wir sind nur Gelehrte, Analytiker, Anatomen, und unsern Werken ist die Sicherheit, die Solidität, die praktische Nützlichkeit der Werke der Wissenschaft eigen. Ich keime keine Schule, welche moralischer und dabei strenger wäre." Das wäre nach Zola die Aufgabe des naturalistischen Dichters im allge¬ meinen. Wie nun aber im Drama? Nach seiner Ueberzeugung wird die na¬ turalistische Form hier nichts andres sein als die auf den heutigen Zustand der Gesellschaft angewendete Form des classischen Dramas. Des classischen Grenzboten IV. 1881. 41

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/323>, abgerufen am 15.01.2025.