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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

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Das deutsche Lied seit Robert Schumann.

ziger Jahren einen ehrenvollen Preis erhielt. Er war im Jahre 1827 geboren
und starb vor neun Jahren in Berlin, wie man sagt, in sehr traurigen Verhält¬
nissen. Seine Lieder zeigen ihn als eine musikalisch groß angelegte Natur, als
einen Meister des breiten Entwurfes, der gewaltigen Steigerungen und des
sprechenden melodischen Ausdruckes, als einen Menschen von solcher Tiefe, daß
man sich fragen möchte: Warum ist dieser begabte, tüchtige Künstler nicht unser
zweiter Brahms geworden? Kein andrer ist mir vorgekommen, der diesem großen
Meister so verwandt genannt werden kann wie Hugo Ulrich. Seine Lieder sind
nicht alle gleich im Werth. Einzelne stehen an der Grenze der landläufigen
Sentimentalität, über andern liegt etwas subjectiv beschränktes, das die Fröhlich¬
keit dämpft und dem Jubel im Glück etwas nervöses giebt, aber die meisten
sind Leistungen eines Meisters. Herzrührender Ausdruck, mächtiger Aufbau,
kühne Harmonien, Wärme und Gluth der Stimmung, frappante Naturtöue,
Natürlichkeit und Fluß in der ganzen Darstellung -- alles Kennzeichen der
genialen Begabung und der erworbnen Meisterschaft -- man findet sie in den
Liedern Hugo Ulrichs. Er ist ohne Zweifel einer der größten Liedercomponisten
gewesen. Sänger, die sich um ihn verdient machen wollen, mögen nur seine
Composition vou Goethes "An den Mond" in den Concertsaal bringen, dann
wollen wir abwarten! Einen großen Theil desselben Lobes wird man B. Hopffcr,
einem gleichfalls heimgegangnen Berliner Liedereomponisten, spenden können.

Auch Franz Bendel, als Pianist und Clavicreomponist hochgeschätzt, hat
den verdienten Ruhm seiner Lieder nicht erlebt. Sie sind ebenso innig heimlich
als schwungvoll brausend, leidenschaftlich, und dabei musikalisch höchst interessant,
immer bereit, mit einem sehr einfachen Griffe eine bedeutende Wendung auszu¬
drücken. Er thut es Lißzt nach in der energischen Concentrirung. Aeußerlich
scheint Bendel zuweilen von Wagner beeinflußt. Wagner ist ja der einzige
unter den Componisten der Gegenwart, der mit seiner formellen Schreibweise in
die Producte der Zeitgenossen eingedrungen ist. Wir haben einige Brcchmssche
Wendungen in den Arbeiten der jüngern Tonsetzer, aber Wagnersche Modula¬
tionen und Bcgleitungsmotive sind gerade so stark im allgemeinen Curse, wie
noch vor zwanzig Jahren vielleicht Mendelssohnsche Reminiscenzen. In der
Licdercomposition begegnen wir vorzugsweise Wagners "Triften" und Wagners
"Meistersingern." Aus den "Meistersingern" schwärmen in die Lieder lustige,
muntere und geschäftige Begleitungsmotive herüber, der reiche Orchestermechanis¬
mus seiner Partitur wird in die Claviere getragen, wie man das in den Liedern
von Hermann Götz, Richard Metzdorff, Arno Kleffel, Hugo Brückler und andern
sehen kann. Alls "Triften" geht in die Lieder der feierliche Ernst und die
frappante Kraft der Modulationen über. Bei Bendel bemerken wir diese Tristcm-
färbung in der "Bitte" aus Opus 100 und in "Warum bist Du mir nah" aus
demselben Hefte. Ich citire den "Triften" übrigens nur, um den Lesern einen
Anhalt zu geben. An und für sich ist es gar nicht ausgeschlossen, daß Bendel


Das deutsche Lied seit Robert Schumann.

ziger Jahren einen ehrenvollen Preis erhielt. Er war im Jahre 1827 geboren
und starb vor neun Jahren in Berlin, wie man sagt, in sehr traurigen Verhält¬
nissen. Seine Lieder zeigen ihn als eine musikalisch groß angelegte Natur, als
einen Meister des breiten Entwurfes, der gewaltigen Steigerungen und des
sprechenden melodischen Ausdruckes, als einen Menschen von solcher Tiefe, daß
man sich fragen möchte: Warum ist dieser begabte, tüchtige Künstler nicht unser
zweiter Brahms geworden? Kein andrer ist mir vorgekommen, der diesem großen
Meister so verwandt genannt werden kann wie Hugo Ulrich. Seine Lieder sind
nicht alle gleich im Werth. Einzelne stehen an der Grenze der landläufigen
Sentimentalität, über andern liegt etwas subjectiv beschränktes, das die Fröhlich¬
keit dämpft und dem Jubel im Glück etwas nervöses giebt, aber die meisten
sind Leistungen eines Meisters. Herzrührender Ausdruck, mächtiger Aufbau,
kühne Harmonien, Wärme und Gluth der Stimmung, frappante Naturtöue,
Natürlichkeit und Fluß in der ganzen Darstellung — alles Kennzeichen der
genialen Begabung und der erworbnen Meisterschaft — man findet sie in den
Liedern Hugo Ulrichs. Er ist ohne Zweifel einer der größten Liedercomponisten
gewesen. Sänger, die sich um ihn verdient machen wollen, mögen nur seine
Composition vou Goethes „An den Mond" in den Concertsaal bringen, dann
wollen wir abwarten! Einen großen Theil desselben Lobes wird man B. Hopffcr,
einem gleichfalls heimgegangnen Berliner Liedereomponisten, spenden können.

Auch Franz Bendel, als Pianist und Clavicreomponist hochgeschätzt, hat
den verdienten Ruhm seiner Lieder nicht erlebt. Sie sind ebenso innig heimlich
als schwungvoll brausend, leidenschaftlich, und dabei musikalisch höchst interessant,
immer bereit, mit einem sehr einfachen Griffe eine bedeutende Wendung auszu¬
drücken. Er thut es Lißzt nach in der energischen Concentrirung. Aeußerlich
scheint Bendel zuweilen von Wagner beeinflußt. Wagner ist ja der einzige
unter den Componisten der Gegenwart, der mit seiner formellen Schreibweise in
die Producte der Zeitgenossen eingedrungen ist. Wir haben einige Brcchmssche
Wendungen in den Arbeiten der jüngern Tonsetzer, aber Wagnersche Modula¬
tionen und Bcgleitungsmotive sind gerade so stark im allgemeinen Curse, wie
noch vor zwanzig Jahren vielleicht Mendelssohnsche Reminiscenzen. In der
Licdercomposition begegnen wir vorzugsweise Wagners „Triften" und Wagners
„Meistersingern." Aus den „Meistersingern" schwärmen in die Lieder lustige,
muntere und geschäftige Begleitungsmotive herüber, der reiche Orchestermechanis¬
mus seiner Partitur wird in die Claviere getragen, wie man das in den Liedern
von Hermann Götz, Richard Metzdorff, Arno Kleffel, Hugo Brückler und andern
sehen kann. Alls „Triften" geht in die Lieder der feierliche Ernst und die
frappante Kraft der Modulationen über. Bei Bendel bemerken wir diese Tristcm-
färbung in der „Bitte" aus Opus 100 und in „Warum bist Du mir nah" aus
demselben Hefte. Ich citire den „Triften" übrigens nur, um den Lesern einen
Anhalt zu geben. An und für sich ist es gar nicht ausgeschlossen, daß Bendel


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/76>, abgerufen am 01.09.2024.