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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

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Russische Agrarzustände.

für die neuen Männer, daß sie die Regierung in einem Augenblicke übernehmen,
wo in der That nach allen Schilderungen die agraren Mißstände einen ver¬
zweifelten Grad erreicht haben. Ganz in letzter Zeit hörte man, die Regierung
beabsichtige, die Ansiedlung von Bauern, die mit ihrem Loose unzufrieden sind,
auf Kronläudcreieu in großem Maßstabe zu eröffnen. Das würde wieder darauf
deuten, daß auch die letzte Dvmänenverwaltung meint, das Uebel liege in Ueber-
völkerung, Ueberbürdung der Bauern mit Lasten, Ungunst von Boden und Klima,
kurz in andern Umständen als der Natur und Verfassung des Bauernvolkes,
Und die Vorgeschichte der Moskaner Slavisten läßt allerdings kaum annehmen,
daß sie sich jemals entschließen sollten, die UnHaltbarkeit des Gemeindebesitzes
und der damit verbundnen Einrichtungen anzuerkennen, oder zuzugeben, daß der
russische Bauer an seiner ungetrübte" Freiheit zu Grunde geht. Eine Wieder-
aunährung des Bauern an den Adel jedoch, die man von den Moskauern er¬
warten konnte, gäbe schon Aussicht auf einige vernünftige Behandlung bäuer¬
licher Zustände.

Vorläufig scheint das agrarc Elend die gefährlichste Stütze der revolutionären
Bewegung zu sein. Die Nihilisten haben stets den Bauern an seine bettelhafte
Lage erinnert und ihm versprochen, die agraren Zustände zu bessern. Die Centra¬
lisation, die bisher herrschte, hat, wie überall so auch auf diesem Gebiete, die
tollsten Dinge zu Wege gebracht und das meiste verschuldet, und die Centrali¬
sation ist heute noch in Rußland maßgebend. Was da alles möglich ist, weiß
man. Noch kürzlich, im März d. I., ereignete sich z. B. in Polen folgendes:
Oertliche Gutsbesitzer hatten um die Erlaubniß gebeten, eine gegenseitige Hagel-
versicheruugsgesellschaft gründen zu dürfen. Das Gesuch mußte an das "Comits
für Angelegenheiten des Zarthnms Polen" in Petersburg gehen und wurde dort
abgewiesen, und zwar: weil das Comitö derartige besondre Errichtungen, wie
sie im innern Reiche nicht bestünden, für Polen allein unmöglich gestatten dürfe,
um so mehr als durch die Concurrenz die in Moskau bereits bestehende Hngel-
versicheruugsgesellschaft in ihren Interessen geschädigt werden würde. Wo so
etwas an Staatskunst Passiren kann, da mag man mit Recht zweifeln, ob irgend
etwas prosperiren möge, was mit solch einer Behörde zu thun hat. Und dieser
Geist weht keineswegs vereinzelter Weise in dem illustren "Conn6 für An¬
gelegenheiten des Zarthnms Polen," sondern ist nur ein starker Ausdruck recht
allgemeiner Tendenzen. Er ist zugleich ein Beispiel davon, wie diese Central-
verwaltungen und natürlich auch alle ihre Unterbehörden der Provinzen wirth¬
schaftliche Interessen zu behandeln wissen. Wie kann man sich da eines andern
versehen als wirthschaftlichen Rückganges, dort wenigstens, wo, wie in dem
nationalen Großrußland, das Volk selbst aus eignem Antriebe niemals große


Russische Agrarzustände.

für die neuen Männer, daß sie die Regierung in einem Augenblicke übernehmen,
wo in der That nach allen Schilderungen die agraren Mißstände einen ver¬
zweifelten Grad erreicht haben. Ganz in letzter Zeit hörte man, die Regierung
beabsichtige, die Ansiedlung von Bauern, die mit ihrem Loose unzufrieden sind,
auf Kronläudcreieu in großem Maßstabe zu eröffnen. Das würde wieder darauf
deuten, daß auch die letzte Dvmänenverwaltung meint, das Uebel liege in Ueber-
völkerung, Ueberbürdung der Bauern mit Lasten, Ungunst von Boden und Klima,
kurz in andern Umständen als der Natur und Verfassung des Bauernvolkes,
Und die Vorgeschichte der Moskaner Slavisten läßt allerdings kaum annehmen,
daß sie sich jemals entschließen sollten, die UnHaltbarkeit des Gemeindebesitzes
und der damit verbundnen Einrichtungen anzuerkennen, oder zuzugeben, daß der
russische Bauer an seiner ungetrübte» Freiheit zu Grunde geht. Eine Wieder-
aunährung des Bauern an den Adel jedoch, die man von den Moskauern er¬
warten konnte, gäbe schon Aussicht auf einige vernünftige Behandlung bäuer¬
licher Zustände.

Vorläufig scheint das agrarc Elend die gefährlichste Stütze der revolutionären
Bewegung zu sein. Die Nihilisten haben stets den Bauern an seine bettelhafte
Lage erinnert und ihm versprochen, die agraren Zustände zu bessern. Die Centra¬
lisation, die bisher herrschte, hat, wie überall so auch auf diesem Gebiete, die
tollsten Dinge zu Wege gebracht und das meiste verschuldet, und die Centrali¬
sation ist heute noch in Rußland maßgebend. Was da alles möglich ist, weiß
man. Noch kürzlich, im März d. I., ereignete sich z. B. in Polen folgendes:
Oertliche Gutsbesitzer hatten um die Erlaubniß gebeten, eine gegenseitige Hagel-
versicheruugsgesellschaft gründen zu dürfen. Das Gesuch mußte an das „Comits
für Angelegenheiten des Zarthnms Polen" in Petersburg gehen und wurde dort
abgewiesen, und zwar: weil das Comitö derartige besondre Errichtungen, wie
sie im innern Reiche nicht bestünden, für Polen allein unmöglich gestatten dürfe,
um so mehr als durch die Concurrenz die in Moskau bereits bestehende Hngel-
versicheruugsgesellschaft in ihren Interessen geschädigt werden würde. Wo so
etwas an Staatskunst Passiren kann, da mag man mit Recht zweifeln, ob irgend
etwas prosperiren möge, was mit solch einer Behörde zu thun hat. Und dieser
Geist weht keineswegs vereinzelter Weise in dem illustren „Conn6 für An¬
gelegenheiten des Zarthnms Polen," sondern ist nur ein starker Ausdruck recht
allgemeiner Tendenzen. Er ist zugleich ein Beispiel davon, wie diese Central-
verwaltungen und natürlich auch alle ihre Unterbehörden der Provinzen wirth¬
schaftliche Interessen zu behandeln wissen. Wie kann man sich da eines andern
versehen als wirthschaftlichen Rückganges, dort wenigstens, wo, wie in dem
nationalen Großrußland, das Volk selbst aus eignem Antriebe niemals große


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[0066] Russische Agrarzustände. für die neuen Männer, daß sie die Regierung in einem Augenblicke übernehmen, wo in der That nach allen Schilderungen die agraren Mißstände einen ver¬ zweifelten Grad erreicht haben. Ganz in letzter Zeit hörte man, die Regierung beabsichtige, die Ansiedlung von Bauern, die mit ihrem Loose unzufrieden sind, auf Kronläudcreieu in großem Maßstabe zu eröffnen. Das würde wieder darauf deuten, daß auch die letzte Dvmänenverwaltung meint, das Uebel liege in Ueber- völkerung, Ueberbürdung der Bauern mit Lasten, Ungunst von Boden und Klima, kurz in andern Umständen als der Natur und Verfassung des Bauernvolkes, Und die Vorgeschichte der Moskaner Slavisten läßt allerdings kaum annehmen, daß sie sich jemals entschließen sollten, die UnHaltbarkeit des Gemeindebesitzes und der damit verbundnen Einrichtungen anzuerkennen, oder zuzugeben, daß der russische Bauer an seiner ungetrübte» Freiheit zu Grunde geht. Eine Wieder- aunährung des Bauern an den Adel jedoch, die man von den Moskauern er¬ warten konnte, gäbe schon Aussicht auf einige vernünftige Behandlung bäuer¬ licher Zustände. Vorläufig scheint das agrarc Elend die gefährlichste Stütze der revolutionären Bewegung zu sein. Die Nihilisten haben stets den Bauern an seine bettelhafte Lage erinnert und ihm versprochen, die agraren Zustände zu bessern. Die Centra¬ lisation, die bisher herrschte, hat, wie überall so auch auf diesem Gebiete, die tollsten Dinge zu Wege gebracht und das meiste verschuldet, und die Centrali¬ sation ist heute noch in Rußland maßgebend. Was da alles möglich ist, weiß man. Noch kürzlich, im März d. I., ereignete sich z. B. in Polen folgendes: Oertliche Gutsbesitzer hatten um die Erlaubniß gebeten, eine gegenseitige Hagel- versicheruugsgesellschaft gründen zu dürfen. Das Gesuch mußte an das „Comits für Angelegenheiten des Zarthnms Polen" in Petersburg gehen und wurde dort abgewiesen, und zwar: weil das Comitö derartige besondre Errichtungen, wie sie im innern Reiche nicht bestünden, für Polen allein unmöglich gestatten dürfe, um so mehr als durch die Concurrenz die in Moskau bereits bestehende Hngel- versicheruugsgesellschaft in ihren Interessen geschädigt werden würde. Wo so etwas an Staatskunst Passiren kann, da mag man mit Recht zweifeln, ob irgend etwas prosperiren möge, was mit solch einer Behörde zu thun hat. Und dieser Geist weht keineswegs vereinzelter Weise in dem illustren „Conn6 für An¬ gelegenheiten des Zarthnms Polen," sondern ist nur ein starker Ausdruck recht allgemeiner Tendenzen. Er ist zugleich ein Beispiel davon, wie diese Central- verwaltungen und natürlich auch alle ihre Unterbehörden der Provinzen wirth¬ schaftliche Interessen zu behandeln wissen. Wie kann man sich da eines andern versehen als wirthschaftlichen Rückganges, dort wenigstens, wo, wie in dem nationalen Großrußland, das Volk selbst aus eignem Antriebe niemals große

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/66>, abgerufen am 25.11.2024.