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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

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Zur Völkerkunde Osteuropas.

und urtheilt much einmaligem Sehen über Land und Leute mit einer Kaltblütig¬
keit, die in Erstaunen setzt. Der Verfasser ist in dieser Beziehung allzugründlich
gewesen; eine größere Verachtung solcher Literatur hätte ihm gewiß nicht nur
viel Arbeit und Verdruß erspart, sondern auch seinem Werke im allgemeinen
eine größere Übersichtlichkeit und Klarheit, im speciellen seinen Folgerungen eine
größere Zuverlässigkeit verliehen. Der Anfang zu einer Völkerkunde Osteuropas
hätte unbedingt gemacht werden müssen mit einer Ausscheidung des zuverlässigen
Materials von dem unzuverlässigen, mit einer Aussonderung des werthvollen
von dem unbrauchbaren und mit einer eindringlichen Warnung vor dem ver¬
dächtigen.

Wenn wir aber auch eine scharfe Quellenkritik vermissen, die Anerkennung
können wir dem Verfasser nicht versagen, daß er mit großer Gewissenhaftigkeit
alle in Betracht kommenden Volksstämme aufgezählt und beschrieben und in
Bezug auf die einschlägige Literatur eine gewisse Vollständigkeit erreicht hat.

Es erübrigt noch, die Methode zu charakterisiren, welche Diefenbach bei
der Einteilung der Volksstämme und bei der Anordnung des zusammen getragnen
Materials befolgte. Die Ethnographie ist bekanntlich eine junge Wissenschaft
und leidet an zwei Hauptfehlern, die unter einander zusammenhängen: der erste
besteht in dem Mangel an fachmäßig und gleichmäßig beobachteten Thatsachen,
der zweite in einer noch schwankenden Behandlung und Verwerthung der zu
Gebote stehenden Beobachtungsthatsachen. Es liegt auf der Hand, daß wo beide
Mängel zusammentreffen, dauernde Resultate uicht gewonnen werden können.
Ueber den zweiten Mangel, den einer wissenschaftlichen Systematik, können wir
uns hier nicht weiter äußern. Der erste trifft bei der "Völkerkunde Osteuropas"
gewiß zu, und schon dadurch ist die Durchführung einer consequenten Methode
zur Unmöglichkeit gemacht. Nur für einige Völker Osteuropas liegen die Beob¬
achtungen in einiger Vollständigkeit vor; für die Mehrzahl sind nur Einzel¬
heiten bekannt. Die ethnographische Methode Diefenbcichs besteht nun darin,
daß er drei Hauptgesichtspunkte aufstellt, nach denen er die Eintheilung der
Volksstämme ausführt; diese Hanptkritericn sind die Sprache, die Physis und
die Psyche. Auf die Sprache legt er den Hauptaecent "wegen ihrer einheit¬
licheren, deutlicheren und greifbareren Natur." Unter Physis versteht er die Ge¬
sammtheit der körperlichen Eigenschaften des menschlichen Individuums, deren
Einzelheiten im Bau des Skeletts und des Schädels, in der Hautfarbe, in dem
Bau des Kopfes, in der Form und Farbe der Haare, in der Gestalt des
Rumpfes, in Haltung und Gang, im Ausdruck des Gesichtes und der Augen
zum Ausdruck kommen. Mit dem Begriff Psyche sollen die mannichfachen
höhern und niedern Aeußerungen des Volksgeistes zusammengefaßt werden, wie
sie hervortreten in Temperament und Charakter, in den Einrichtungen des
Staates, der Familie, der Gesellschaft, des Krieges und Friedens, in Haus-,
Land- und Volkswirthschaft, in Gebräuchen und Sitten, Tracht, Wohnung und


Grenzboten III. 1881. 70
Zur Völkerkunde Osteuropas.

und urtheilt much einmaligem Sehen über Land und Leute mit einer Kaltblütig¬
keit, die in Erstaunen setzt. Der Verfasser ist in dieser Beziehung allzugründlich
gewesen; eine größere Verachtung solcher Literatur hätte ihm gewiß nicht nur
viel Arbeit und Verdruß erspart, sondern auch seinem Werke im allgemeinen
eine größere Übersichtlichkeit und Klarheit, im speciellen seinen Folgerungen eine
größere Zuverlässigkeit verliehen. Der Anfang zu einer Völkerkunde Osteuropas
hätte unbedingt gemacht werden müssen mit einer Ausscheidung des zuverlässigen
Materials von dem unzuverlässigen, mit einer Aussonderung des werthvollen
von dem unbrauchbaren und mit einer eindringlichen Warnung vor dem ver¬
dächtigen.

Wenn wir aber auch eine scharfe Quellenkritik vermissen, die Anerkennung
können wir dem Verfasser nicht versagen, daß er mit großer Gewissenhaftigkeit
alle in Betracht kommenden Volksstämme aufgezählt und beschrieben und in
Bezug auf die einschlägige Literatur eine gewisse Vollständigkeit erreicht hat.

Es erübrigt noch, die Methode zu charakterisiren, welche Diefenbach bei
der Einteilung der Volksstämme und bei der Anordnung des zusammen getragnen
Materials befolgte. Die Ethnographie ist bekanntlich eine junge Wissenschaft
und leidet an zwei Hauptfehlern, die unter einander zusammenhängen: der erste
besteht in dem Mangel an fachmäßig und gleichmäßig beobachteten Thatsachen,
der zweite in einer noch schwankenden Behandlung und Verwerthung der zu
Gebote stehenden Beobachtungsthatsachen. Es liegt auf der Hand, daß wo beide
Mängel zusammentreffen, dauernde Resultate uicht gewonnen werden können.
Ueber den zweiten Mangel, den einer wissenschaftlichen Systematik, können wir
uns hier nicht weiter äußern. Der erste trifft bei der „Völkerkunde Osteuropas"
gewiß zu, und schon dadurch ist die Durchführung einer consequenten Methode
zur Unmöglichkeit gemacht. Nur für einige Völker Osteuropas liegen die Beob¬
achtungen in einiger Vollständigkeit vor; für die Mehrzahl sind nur Einzel¬
heiten bekannt. Die ethnographische Methode Diefenbcichs besteht nun darin,
daß er drei Hauptgesichtspunkte aufstellt, nach denen er die Eintheilung der
Volksstämme ausführt; diese Hanptkritericn sind die Sprache, die Physis und
die Psyche. Auf die Sprache legt er den Hauptaecent „wegen ihrer einheit¬
licheren, deutlicheren und greifbareren Natur." Unter Physis versteht er die Ge¬
sammtheit der körperlichen Eigenschaften des menschlichen Individuums, deren
Einzelheiten im Bau des Skeletts und des Schädels, in der Hautfarbe, in dem
Bau des Kopfes, in der Form und Farbe der Haare, in der Gestalt des
Rumpfes, in Haltung und Gang, im Ausdruck des Gesichtes und der Augen
zum Ausdruck kommen. Mit dem Begriff Psyche sollen die mannichfachen
höhern und niedern Aeußerungen des Volksgeistes zusammengefaßt werden, wie
sie hervortreten in Temperament und Charakter, in den Einrichtungen des
Staates, der Familie, der Gesellschaft, des Krieges und Friedens, in Haus-,
Land- und Volkswirthschaft, in Gebräuchen und Sitten, Tracht, Wohnung und


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[0557] Zur Völkerkunde Osteuropas. und urtheilt much einmaligem Sehen über Land und Leute mit einer Kaltblütig¬ keit, die in Erstaunen setzt. Der Verfasser ist in dieser Beziehung allzugründlich gewesen; eine größere Verachtung solcher Literatur hätte ihm gewiß nicht nur viel Arbeit und Verdruß erspart, sondern auch seinem Werke im allgemeinen eine größere Übersichtlichkeit und Klarheit, im speciellen seinen Folgerungen eine größere Zuverlässigkeit verliehen. Der Anfang zu einer Völkerkunde Osteuropas hätte unbedingt gemacht werden müssen mit einer Ausscheidung des zuverlässigen Materials von dem unzuverlässigen, mit einer Aussonderung des werthvollen von dem unbrauchbaren und mit einer eindringlichen Warnung vor dem ver¬ dächtigen. Wenn wir aber auch eine scharfe Quellenkritik vermissen, die Anerkennung können wir dem Verfasser nicht versagen, daß er mit großer Gewissenhaftigkeit alle in Betracht kommenden Volksstämme aufgezählt und beschrieben und in Bezug auf die einschlägige Literatur eine gewisse Vollständigkeit erreicht hat. Es erübrigt noch, die Methode zu charakterisiren, welche Diefenbach bei der Einteilung der Volksstämme und bei der Anordnung des zusammen getragnen Materials befolgte. Die Ethnographie ist bekanntlich eine junge Wissenschaft und leidet an zwei Hauptfehlern, die unter einander zusammenhängen: der erste besteht in dem Mangel an fachmäßig und gleichmäßig beobachteten Thatsachen, der zweite in einer noch schwankenden Behandlung und Verwerthung der zu Gebote stehenden Beobachtungsthatsachen. Es liegt auf der Hand, daß wo beide Mängel zusammentreffen, dauernde Resultate uicht gewonnen werden können. Ueber den zweiten Mangel, den einer wissenschaftlichen Systematik, können wir uns hier nicht weiter äußern. Der erste trifft bei der „Völkerkunde Osteuropas" gewiß zu, und schon dadurch ist die Durchführung einer consequenten Methode zur Unmöglichkeit gemacht. Nur für einige Völker Osteuropas liegen die Beob¬ achtungen in einiger Vollständigkeit vor; für die Mehrzahl sind nur Einzel¬ heiten bekannt. Die ethnographische Methode Diefenbcichs besteht nun darin, daß er drei Hauptgesichtspunkte aufstellt, nach denen er die Eintheilung der Volksstämme ausführt; diese Hanptkritericn sind die Sprache, die Physis und die Psyche. Auf die Sprache legt er den Hauptaecent „wegen ihrer einheit¬ licheren, deutlicheren und greifbareren Natur." Unter Physis versteht er die Ge¬ sammtheit der körperlichen Eigenschaften des menschlichen Individuums, deren Einzelheiten im Bau des Skeletts und des Schädels, in der Hautfarbe, in dem Bau des Kopfes, in der Form und Farbe der Haare, in der Gestalt des Rumpfes, in Haltung und Gang, im Ausdruck des Gesichtes und der Augen zum Ausdruck kommen. Mit dem Begriff Psyche sollen die mannichfachen höhern und niedern Aeußerungen des Volksgeistes zusammengefaßt werden, wie sie hervortreten in Temperament und Charakter, in den Einrichtungen des Staates, der Familie, der Gesellschaft, des Krieges und Friedens, in Haus-, Land- und Volkswirthschaft, in Gebräuchen und Sitten, Tracht, Wohnung und Grenzboten III. 1881. 70

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/557>, abgerufen am 01.09.2024.