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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

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Zur Völkerkunde Osteuropas.

Vielfach nach Asien übergehen und tief in dessen Inneres eindringen, wo sich
die Völker noch weit weniger zu Staaten, beziehungsweise Nationalitäten con-
centrirt haben. Vielleicht geht er aber in diesem Punkte bisweilen etwas zu
weit. Die Zahl der von Diefenbach aufgeführten kleinen Stamme ist eine sehr
bedeutende, und wer sich die Namen der in dem die türkische Familie behan¬
delnden Kapitel aufgeführten Stämme ansieht, wird nicht einsehen, was diese
alle in einer Völkerkunde Osteuropas zu thun haben. Da finden sich neben den
Türken und Turkmenen die Kirgisen, Jakuten, Tnrinier, Lobuorer, Burjäten,
Tungusen und Samojeden aufgezählt, deren Beziehung zu dem Hauptschanplatze
doch mehr als lose ist. Man muß zwar zugeben, daß die Völkerverhältnisse
der Balkanhalbinsel und Osteuropas wegen ihrer mosaikartigen Zusammensetzung
ein weiteres Ausholen nicht nur nahelegen, sondern sogar nothwendig machen,
aber es will uns doch scheinen, als wenn hierin der Verfasser des guten zu
viel gethan und ohne Noth hie und da sein Beobachtungsfeld zu weit ausge-
gedehnt hätte. Eine gewisse Uebersichtlichkeit und stoffliche Beschränkung ist
ohnehin zur Klärung der verworrenen Zustände vonnöthen.

Eine ähnliche Exeessivität wie in räumlicher Beziehung zeigt das Werk auch
in zeitlicher. Der Verfasser giebt sich uicht damit zufrieden, die heutigen Stämme
zu nennen und zu beschreiben, sondern er geht auch auf ihre historischen Ver¬
hältnisse ein. Es kommen dafür hauptsächlich die Griechen, Albanesen, Jllyrier
und Thraker in Betracht, von denen ebenfalls eine stattliche Zahl einzelner Stämme
ausgeführt werden, und es macht den Eindruck, daß der Verfasser auch in dieser
Beziehung alles irgend erreichbare zusammengetragen habe. Ueberhaupt hat es
der Verfasser an Fleiß nicht fehlen lassen, und wenn Aufgaben wie eine Dar¬
stellung der Völkerkunde Osteuropas allein durch Zusammentragen und Excerpiren
des vorhandnen literarischen Materials gelöst werden könnten, so hätte er sie
ohne Zweifel gelöst. Man muß erstaunen über die Arbeitskraft, Ausdauer, Un-
verdrossenheit und Selbstüberwindung eines Mannes, der imstande war, eine
solche Masse von geschriebenen zu lesen. Das Verzeichniß der zu Rathe ge¬
zogenen Druckwerke umfaßt allein 22 Seiten! Unter diesen befinden sich na¬
türlich Arbeiten ersten Ranges, wie die von Fallmeraycr, Miklosich und andern,
aber die größere Hälfte der Quellenschriften setzt sich doch aus Arbeiten niedern
Grades, Gelegenheitsschriftcu, Reisebeschreibungen, Zeitungsartikeln u. s. w. zu¬
sammen, die durchzulesen eine Art von wissenschaftlichem Heroismus verräth. Das
N6 amici nimis scheint aber auch hier nicht überall vom Verfasser beobachtet
worden zu sein, wiewohl er bei seiner Vertrautheit mit den einschlägigen Ver¬
hältnissen jedenfalls am besten weiß, daß gerade über Völker und ihre Zustände
mitunter von den unberufensten Leuten die oberflächlichsten Urtheile gesprochen
oder nachgeschrieben werden. Die Zahl unsrer Reisebeschreibungen ist nachgerade
zu einer Landplage geworden. Jeder, der auf vier oder sechs Wochen in den Orient
gereist ist, glaubt seine Wahrnehmungen in einem Buche verewigen zu müssen


Zur Völkerkunde Osteuropas.

Vielfach nach Asien übergehen und tief in dessen Inneres eindringen, wo sich
die Völker noch weit weniger zu Staaten, beziehungsweise Nationalitäten con-
centrirt haben. Vielleicht geht er aber in diesem Punkte bisweilen etwas zu
weit. Die Zahl der von Diefenbach aufgeführten kleinen Stamme ist eine sehr
bedeutende, und wer sich die Namen der in dem die türkische Familie behan¬
delnden Kapitel aufgeführten Stämme ansieht, wird nicht einsehen, was diese
alle in einer Völkerkunde Osteuropas zu thun haben. Da finden sich neben den
Türken und Turkmenen die Kirgisen, Jakuten, Tnrinier, Lobuorer, Burjäten,
Tungusen und Samojeden aufgezählt, deren Beziehung zu dem Hauptschanplatze
doch mehr als lose ist. Man muß zwar zugeben, daß die Völkerverhältnisse
der Balkanhalbinsel und Osteuropas wegen ihrer mosaikartigen Zusammensetzung
ein weiteres Ausholen nicht nur nahelegen, sondern sogar nothwendig machen,
aber es will uns doch scheinen, als wenn hierin der Verfasser des guten zu
viel gethan und ohne Noth hie und da sein Beobachtungsfeld zu weit ausge-
gedehnt hätte. Eine gewisse Uebersichtlichkeit und stoffliche Beschränkung ist
ohnehin zur Klärung der verworrenen Zustände vonnöthen.

Eine ähnliche Exeessivität wie in räumlicher Beziehung zeigt das Werk auch
in zeitlicher. Der Verfasser giebt sich uicht damit zufrieden, die heutigen Stämme
zu nennen und zu beschreiben, sondern er geht auch auf ihre historischen Ver¬
hältnisse ein. Es kommen dafür hauptsächlich die Griechen, Albanesen, Jllyrier
und Thraker in Betracht, von denen ebenfalls eine stattliche Zahl einzelner Stämme
ausgeführt werden, und es macht den Eindruck, daß der Verfasser auch in dieser
Beziehung alles irgend erreichbare zusammengetragen habe. Ueberhaupt hat es
der Verfasser an Fleiß nicht fehlen lassen, und wenn Aufgaben wie eine Dar¬
stellung der Völkerkunde Osteuropas allein durch Zusammentragen und Excerpiren
des vorhandnen literarischen Materials gelöst werden könnten, so hätte er sie
ohne Zweifel gelöst. Man muß erstaunen über die Arbeitskraft, Ausdauer, Un-
verdrossenheit und Selbstüberwindung eines Mannes, der imstande war, eine
solche Masse von geschriebenen zu lesen. Das Verzeichniß der zu Rathe ge¬
zogenen Druckwerke umfaßt allein 22 Seiten! Unter diesen befinden sich na¬
türlich Arbeiten ersten Ranges, wie die von Fallmeraycr, Miklosich und andern,
aber die größere Hälfte der Quellenschriften setzt sich doch aus Arbeiten niedern
Grades, Gelegenheitsschriftcu, Reisebeschreibungen, Zeitungsartikeln u. s. w. zu¬
sammen, die durchzulesen eine Art von wissenschaftlichem Heroismus verräth. Das
N6 amici nimis scheint aber auch hier nicht überall vom Verfasser beobachtet
worden zu sein, wiewohl er bei seiner Vertrautheit mit den einschlägigen Ver¬
hältnissen jedenfalls am besten weiß, daß gerade über Völker und ihre Zustände
mitunter von den unberufensten Leuten die oberflächlichsten Urtheile gesprochen
oder nachgeschrieben werden. Die Zahl unsrer Reisebeschreibungen ist nachgerade
zu einer Landplage geworden. Jeder, der auf vier oder sechs Wochen in den Orient
gereist ist, glaubt seine Wahrnehmungen in einem Buche verewigen zu müssen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/556>, abgerufen am 01.09.2024.