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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

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Politische Rückblicke und Ausblicke.

abwartende Verhalten Grevys Politik oder nur Folge seines Temperaments
sein, es ist offenbar erfolgreich gewesen. Es sah einmal aus, als werde Gam-
betta ihm über den Kopf wachsen, jetzt wird der Präsident ihm einfach als der
hervorragendsten parlamentarische" Kapacität die Stelle des Premiers in seinem
Cabinet gewähren.

Die persönliche Gewalt hat den Franzosen in der Vergangenheit viel ge¬
schadet, und so ist es eine erfreuliche Beobachtung, wenn sie jetzt mehr auf In¬
stitutionen als auf Individuen Vertrauen zu setzen scheinen. Wie weit dieser
Wechsel der Anschauungen und Tendenzen in die Zukunft reichen wird, läßt sich
vor der Hund uoch nicht errathen. Wäre Gambetta mit unvermindertem An¬
sehen wieder zur Gewalt gelangt, wäre er Lenker, Beherrscher seiner Partei ge¬
blieben, so hätte man vermuthlich die Tage von Tours wiederkehren sehen, wo
er als der "wahnsinnige Thor" den Widerstand bis zum äußersten betrieb; jetzt,
als Diener seiner Partei, wird er wenigstens für die nächste Zeit schwerlich noch
den Gedanken einer glänzenden Revanche verkörpern, zumal da sich auch auswärts
die Aussichten eines solchen Unternehmens in den letzten Monaten ganz erheblich ver¬
mindert haben. Die Lage der Dinge in Algier und Tunis, wo sich bereits
fast ein Sechstel der Fnedensarmee Frankreichs befindet und die örtlichen Be¬
hörden dringend Nachschub verlangen, läßt, obwohl sie nicht ganz so düster
sein mag, als die Zeitungen schreiben, alle Rachegelüste Deutschland gegenüber
vertagen. England ist durch das Scheitern des Handelsvertrags tief verstimmt.
In Italien hat man durch den tunesischen Feldzug und das erzwungene Pro-
tectorat über Tunis die öffentliche Meinung gegen sich aufgeregt und Neigung
zum Anschluß an das österreichisch-deutsche Bündnis; hervorgerufen. Was jetzt
in Danzig vorgeht, ist auch nicht geeignet, zu einem Kriege Frankreichs rin
dem östlichen Nachbar zu ermuthigen, der seinerzeit nicht entfernt an Erneue¬
rung des Kampfes denkt, vielmehr gern bereit wäre, einem Frankreich, das mit
endgiltigen aufrichtigen Verzicht auf das Verlorne "ud Deutschland zu seiner
Sicherheit unbedingt nothwendige die Hand zur Aussöhnung böte, in dem sich
allem Anscheine nach allmählich bildenden großen Fricdensbunde der Völker des
Continents die ihm gebührende ehrenvolle Stelle einzuräumen.

Blicken wir ferner nach England hinüber. Dort brachte die vorletzte Woche den
Schluß der zweiten Session des zehnten Parlaments der Königin Victoria, einer
Session, die zu deu längsten, unruhigsten und, wenn wir von der irischen Landbill
absehen, unfruchtbarsten Gesetzgebungs-Perioden der Gegenwart zählt, und
aus deren Vorgängen unsre Liberalen mancherlei Nützliches lernen könnten,
z. B. was Redefreiheit bei der britischen Volksvertretung bedeutet. Seit dem
6. Januar, also acht Monate hindurch, wüthete im Unterhause ein fast uuunter-
brochner erbitterter Kampf zwischen der Ministerbnnk und der Gruppe der irischen
Mitglieder zur Linken des Sprechers. Die letztere trat gleich zu Anfange bis
an die Zähne geharnischt auf, und hauptsächlich auf sie ist es zurückzuführen,


Politische Rückblicke und Ausblicke.

abwartende Verhalten Grevys Politik oder nur Folge seines Temperaments
sein, es ist offenbar erfolgreich gewesen. Es sah einmal aus, als werde Gam-
betta ihm über den Kopf wachsen, jetzt wird der Präsident ihm einfach als der
hervorragendsten parlamentarische» Kapacität die Stelle des Premiers in seinem
Cabinet gewähren.

Die persönliche Gewalt hat den Franzosen in der Vergangenheit viel ge¬
schadet, und so ist es eine erfreuliche Beobachtung, wenn sie jetzt mehr auf In¬
stitutionen als auf Individuen Vertrauen zu setzen scheinen. Wie weit dieser
Wechsel der Anschauungen und Tendenzen in die Zukunft reichen wird, läßt sich
vor der Hund uoch nicht errathen. Wäre Gambetta mit unvermindertem An¬
sehen wieder zur Gewalt gelangt, wäre er Lenker, Beherrscher seiner Partei ge¬
blieben, so hätte man vermuthlich die Tage von Tours wiederkehren sehen, wo
er als der „wahnsinnige Thor" den Widerstand bis zum äußersten betrieb; jetzt,
als Diener seiner Partei, wird er wenigstens für die nächste Zeit schwerlich noch
den Gedanken einer glänzenden Revanche verkörpern, zumal da sich auch auswärts
die Aussichten eines solchen Unternehmens in den letzten Monaten ganz erheblich ver¬
mindert haben. Die Lage der Dinge in Algier und Tunis, wo sich bereits
fast ein Sechstel der Fnedensarmee Frankreichs befindet und die örtlichen Be¬
hörden dringend Nachschub verlangen, läßt, obwohl sie nicht ganz so düster
sein mag, als die Zeitungen schreiben, alle Rachegelüste Deutschland gegenüber
vertagen. England ist durch das Scheitern des Handelsvertrags tief verstimmt.
In Italien hat man durch den tunesischen Feldzug und das erzwungene Pro-
tectorat über Tunis die öffentliche Meinung gegen sich aufgeregt und Neigung
zum Anschluß an das österreichisch-deutsche Bündnis; hervorgerufen. Was jetzt
in Danzig vorgeht, ist auch nicht geeignet, zu einem Kriege Frankreichs rin
dem östlichen Nachbar zu ermuthigen, der seinerzeit nicht entfernt an Erneue¬
rung des Kampfes denkt, vielmehr gern bereit wäre, einem Frankreich, das mit
endgiltigen aufrichtigen Verzicht auf das Verlorne »ud Deutschland zu seiner
Sicherheit unbedingt nothwendige die Hand zur Aussöhnung böte, in dem sich
allem Anscheine nach allmählich bildenden großen Fricdensbunde der Völker des
Continents die ihm gebührende ehrenvolle Stelle einzuräumen.

Blicken wir ferner nach England hinüber. Dort brachte die vorletzte Woche den
Schluß der zweiten Session des zehnten Parlaments der Königin Victoria, einer
Session, die zu deu längsten, unruhigsten und, wenn wir von der irischen Landbill
absehen, unfruchtbarsten Gesetzgebungs-Perioden der Gegenwart zählt, und
aus deren Vorgängen unsre Liberalen mancherlei Nützliches lernen könnten,
z. B. was Redefreiheit bei der britischen Volksvertretung bedeutet. Seit dem
6. Januar, also acht Monate hindurch, wüthete im Unterhause ein fast uuunter-
brochner erbitterter Kampf zwischen der Ministerbnnk und der Gruppe der irischen
Mitglieder zur Linken des Sprechers. Die letztere trat gleich zu Anfange bis
an die Zähne geharnischt auf, und hauptsächlich auf sie ist es zurückzuführen,


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[0492] Politische Rückblicke und Ausblicke. abwartende Verhalten Grevys Politik oder nur Folge seines Temperaments sein, es ist offenbar erfolgreich gewesen. Es sah einmal aus, als werde Gam- betta ihm über den Kopf wachsen, jetzt wird der Präsident ihm einfach als der hervorragendsten parlamentarische» Kapacität die Stelle des Premiers in seinem Cabinet gewähren. Die persönliche Gewalt hat den Franzosen in der Vergangenheit viel ge¬ schadet, und so ist es eine erfreuliche Beobachtung, wenn sie jetzt mehr auf In¬ stitutionen als auf Individuen Vertrauen zu setzen scheinen. Wie weit dieser Wechsel der Anschauungen und Tendenzen in die Zukunft reichen wird, läßt sich vor der Hund uoch nicht errathen. Wäre Gambetta mit unvermindertem An¬ sehen wieder zur Gewalt gelangt, wäre er Lenker, Beherrscher seiner Partei ge¬ blieben, so hätte man vermuthlich die Tage von Tours wiederkehren sehen, wo er als der „wahnsinnige Thor" den Widerstand bis zum äußersten betrieb; jetzt, als Diener seiner Partei, wird er wenigstens für die nächste Zeit schwerlich noch den Gedanken einer glänzenden Revanche verkörpern, zumal da sich auch auswärts die Aussichten eines solchen Unternehmens in den letzten Monaten ganz erheblich ver¬ mindert haben. Die Lage der Dinge in Algier und Tunis, wo sich bereits fast ein Sechstel der Fnedensarmee Frankreichs befindet und die örtlichen Be¬ hörden dringend Nachschub verlangen, läßt, obwohl sie nicht ganz so düster sein mag, als die Zeitungen schreiben, alle Rachegelüste Deutschland gegenüber vertagen. England ist durch das Scheitern des Handelsvertrags tief verstimmt. In Italien hat man durch den tunesischen Feldzug und das erzwungene Pro- tectorat über Tunis die öffentliche Meinung gegen sich aufgeregt und Neigung zum Anschluß an das österreichisch-deutsche Bündnis; hervorgerufen. Was jetzt in Danzig vorgeht, ist auch nicht geeignet, zu einem Kriege Frankreichs rin dem östlichen Nachbar zu ermuthigen, der seinerzeit nicht entfernt an Erneue¬ rung des Kampfes denkt, vielmehr gern bereit wäre, einem Frankreich, das mit endgiltigen aufrichtigen Verzicht auf das Verlorne »ud Deutschland zu seiner Sicherheit unbedingt nothwendige die Hand zur Aussöhnung böte, in dem sich allem Anscheine nach allmählich bildenden großen Fricdensbunde der Völker des Continents die ihm gebührende ehrenvolle Stelle einzuräumen. Blicken wir ferner nach England hinüber. Dort brachte die vorletzte Woche den Schluß der zweiten Session des zehnten Parlaments der Königin Victoria, einer Session, die zu deu längsten, unruhigsten und, wenn wir von der irischen Landbill absehen, unfruchtbarsten Gesetzgebungs-Perioden der Gegenwart zählt, und aus deren Vorgängen unsre Liberalen mancherlei Nützliches lernen könnten, z. B. was Redefreiheit bei der britischen Volksvertretung bedeutet. Seit dem 6. Januar, also acht Monate hindurch, wüthete im Unterhause ein fast uuunter- brochner erbitterter Kampf zwischen der Ministerbnnk und der Gruppe der irischen Mitglieder zur Linken des Sprechers. Die letztere trat gleich zu Anfange bis an die Zähne geharnischt auf, und hauptsächlich auf sie ist es zurückzuführen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/492>, abgerufen am 01.09.2024.