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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

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Politische Briefe,

niemals eingefallen. Diese unbegreifliche Lücke des politischen Denkens und
Handelns allein wiirde ausreichen, das Schicksal zu erklären, welches den Libe¬
ralismus heute ereilen zu wollen scheint. Es lag in dem Verhalten auch der
bestgesinnten Liberalen dem Kanzler gegenüber ein unbegreifliches Element per¬
sönlichen Argwohns, Konnte man dem Kanzler zutrauen, daß er als der erste
Beamte eines Reiches von solcher Ausstattung mit Geldmitteln, wie sie dieses
Reich erst zu einer in sich selbst beruhenden, d, h, wirklichen Macht erheben
konnten, mit diesen Mitteln in wahnwitziger Laune zum Verderb seiner eignen
Schöpfung schalten werde? Oder konnte man daran denken, daß er zum Erben
dieser Geldmittel, nachdem der Reichstag sie uuter des Kanzlers Anleitung in
großem und wohlthätigem Sinne angewendet, einen grillenhafter Absolutismus
machen wolle? Welchen Grund hatte man wohl, bei den offenkundigsten perso¬
nellen Verhältnissen das Spiel mit einem solchen Absolutismus zu fürchten?
Wie konnte man denken, daß bei noch so mangelhafter Feststellung der formalen
Rechte -- welche aber keineswegs stattfindet -- in der Schöpfung des deutschen
Reichs eine wirklich isolirte Willkür als Princip der Regierung sich jemals be¬
haupten könne? In diesem Reich, das, von äußern und innern Gefahren'um¬
geben, auch bei der reichsten Ausstattung mit Geld und andern Machtmitteln
für die Regierung, doch ganz und gar gestellt ist auf die nie erlahmende Mit¬
arbeit des einsichtigsten und kräftigsten Theiles der Nation! Der Liberalismus
hatte sich gewohnt, seine überredeten Gläubigen und seine gewohnheitsmäßigen
Anhänger stets für diesen Theil der Nation zu halten, und zog daraus den
Fehlschluß, daß er, der doch das Parlament nicht und noch weniger die Wähler
beherrschte, die Regierung dem Parlament unterwerfen müsse, um seinerseits die
Regierung zu beherrschen.

Alle diese Irrungen hatten aber doch noch nicht zum Bruch zwischen dem
Kanzler und dein nationalen Liberalismus geführt. Weil dieser Bruch sich
nimmermehr vollziehen zu Wollen schien, verlor endlich der die liberale
Doctrin mehr als den nationalen Instinkt bevorzugende Theil der national¬
liberalen Partei die Geduld und trat am 31. August 1880 mit jener be¬
kannten Erklärung hervor, deren Mittelpunkt in dein Satze lag: Die fortschreitende
Entwicklung der deutschen Einheit könne nur aus der Wirksamkeit eines wahr¬
haft constitutionellen Systems hervorgehen. Das hieß also: die wechselnden
Majoritäten des Parlaments müssen die Fortbildung der deutscheu Einheit in
die Hand nehmen um Stelle des Schöpfers derselben, der die weitere Berufung
zur Thätigkeit an seinem eignen Werke von diesen Majoritäten zu erwarten hat.
Alle diese Anführungen beweisen unwiderleglich das eine, daß der Liberalismus
wehr und mehr eine Gcgeiistellung gegen den Kanzler annahm, daß er als Ziel
dieser Stellung ausdrücklich den Uebergang der politischen Leitung vom Kanzler
auf das Parlament, das heißt, nach der allerdings willkürlichen Voraussetzung,
uns den Liberalismus proelcunirte.

Der Liberalismus also, d. h. uicht verstanden als weltgeschichtliches Prineip,
saubern als der concrete Inbegriff seiner derzeitigen Vorkämpfer in Deutschland,
hat in das politische Leben des deutschen Volkes das persönliche Element ge¬
bracht. Denn er hat aufgehört, an die Vorschläge des Kanzlers den reinen


Politische Briefe,

niemals eingefallen. Diese unbegreifliche Lücke des politischen Denkens und
Handelns allein wiirde ausreichen, das Schicksal zu erklären, welches den Libe¬
ralismus heute ereilen zu wollen scheint. Es lag in dem Verhalten auch der
bestgesinnten Liberalen dem Kanzler gegenüber ein unbegreifliches Element per¬
sönlichen Argwohns, Konnte man dem Kanzler zutrauen, daß er als der erste
Beamte eines Reiches von solcher Ausstattung mit Geldmitteln, wie sie dieses
Reich erst zu einer in sich selbst beruhenden, d, h, wirklichen Macht erheben
konnten, mit diesen Mitteln in wahnwitziger Laune zum Verderb seiner eignen
Schöpfung schalten werde? Oder konnte man daran denken, daß er zum Erben
dieser Geldmittel, nachdem der Reichstag sie uuter des Kanzlers Anleitung in
großem und wohlthätigem Sinne angewendet, einen grillenhafter Absolutismus
machen wolle? Welchen Grund hatte man wohl, bei den offenkundigsten perso¬
nellen Verhältnissen das Spiel mit einem solchen Absolutismus zu fürchten?
Wie konnte man denken, daß bei noch so mangelhafter Feststellung der formalen
Rechte — welche aber keineswegs stattfindet — in der Schöpfung des deutschen
Reichs eine wirklich isolirte Willkür als Princip der Regierung sich jemals be¬
haupten könne? In diesem Reich, das, von äußern und innern Gefahren'um¬
geben, auch bei der reichsten Ausstattung mit Geld und andern Machtmitteln
für die Regierung, doch ganz und gar gestellt ist auf die nie erlahmende Mit¬
arbeit des einsichtigsten und kräftigsten Theiles der Nation! Der Liberalismus
hatte sich gewohnt, seine überredeten Gläubigen und seine gewohnheitsmäßigen
Anhänger stets für diesen Theil der Nation zu halten, und zog daraus den
Fehlschluß, daß er, der doch das Parlament nicht und noch weniger die Wähler
beherrschte, die Regierung dem Parlament unterwerfen müsse, um seinerseits die
Regierung zu beherrschen.

Alle diese Irrungen hatten aber doch noch nicht zum Bruch zwischen dem
Kanzler und dein nationalen Liberalismus geführt. Weil dieser Bruch sich
nimmermehr vollziehen zu Wollen schien, verlor endlich der die liberale
Doctrin mehr als den nationalen Instinkt bevorzugende Theil der national¬
liberalen Partei die Geduld und trat am 31. August 1880 mit jener be¬
kannten Erklärung hervor, deren Mittelpunkt in dein Satze lag: Die fortschreitende
Entwicklung der deutschen Einheit könne nur aus der Wirksamkeit eines wahr¬
haft constitutionellen Systems hervorgehen. Das hieß also: die wechselnden
Majoritäten des Parlaments müssen die Fortbildung der deutscheu Einheit in
die Hand nehmen um Stelle des Schöpfers derselben, der die weitere Berufung
zur Thätigkeit an seinem eignen Werke von diesen Majoritäten zu erwarten hat.
Alle diese Anführungen beweisen unwiderleglich das eine, daß der Liberalismus
wehr und mehr eine Gcgeiistellung gegen den Kanzler annahm, daß er als Ziel
dieser Stellung ausdrücklich den Uebergang der politischen Leitung vom Kanzler
auf das Parlament, das heißt, nach der allerdings willkürlichen Voraussetzung,
uns den Liberalismus proelcunirte.

Der Liberalismus also, d. h. uicht verstanden als weltgeschichtliches Prineip,
saubern als der concrete Inbegriff seiner derzeitigen Vorkämpfer in Deutschland,
hat in das politische Leben des deutschen Volkes das persönliche Element ge¬
bracht. Denn er hat aufgehört, an die Vorschläge des Kanzlers den reinen


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[0483] Politische Briefe, niemals eingefallen. Diese unbegreifliche Lücke des politischen Denkens und Handelns allein wiirde ausreichen, das Schicksal zu erklären, welches den Libe¬ ralismus heute ereilen zu wollen scheint. Es lag in dem Verhalten auch der bestgesinnten Liberalen dem Kanzler gegenüber ein unbegreifliches Element per¬ sönlichen Argwohns, Konnte man dem Kanzler zutrauen, daß er als der erste Beamte eines Reiches von solcher Ausstattung mit Geldmitteln, wie sie dieses Reich erst zu einer in sich selbst beruhenden, d, h, wirklichen Macht erheben konnten, mit diesen Mitteln in wahnwitziger Laune zum Verderb seiner eignen Schöpfung schalten werde? Oder konnte man daran denken, daß er zum Erben dieser Geldmittel, nachdem der Reichstag sie uuter des Kanzlers Anleitung in großem und wohlthätigem Sinne angewendet, einen grillenhafter Absolutismus machen wolle? Welchen Grund hatte man wohl, bei den offenkundigsten perso¬ nellen Verhältnissen das Spiel mit einem solchen Absolutismus zu fürchten? Wie konnte man denken, daß bei noch so mangelhafter Feststellung der formalen Rechte — welche aber keineswegs stattfindet — in der Schöpfung des deutschen Reichs eine wirklich isolirte Willkür als Princip der Regierung sich jemals be¬ haupten könne? In diesem Reich, das, von äußern und innern Gefahren'um¬ geben, auch bei der reichsten Ausstattung mit Geld und andern Machtmitteln für die Regierung, doch ganz und gar gestellt ist auf die nie erlahmende Mit¬ arbeit des einsichtigsten und kräftigsten Theiles der Nation! Der Liberalismus hatte sich gewohnt, seine überredeten Gläubigen und seine gewohnheitsmäßigen Anhänger stets für diesen Theil der Nation zu halten, und zog daraus den Fehlschluß, daß er, der doch das Parlament nicht und noch weniger die Wähler beherrschte, die Regierung dem Parlament unterwerfen müsse, um seinerseits die Regierung zu beherrschen. Alle diese Irrungen hatten aber doch noch nicht zum Bruch zwischen dem Kanzler und dein nationalen Liberalismus geführt. Weil dieser Bruch sich nimmermehr vollziehen zu Wollen schien, verlor endlich der die liberale Doctrin mehr als den nationalen Instinkt bevorzugende Theil der national¬ liberalen Partei die Geduld und trat am 31. August 1880 mit jener be¬ kannten Erklärung hervor, deren Mittelpunkt in dein Satze lag: Die fortschreitende Entwicklung der deutschen Einheit könne nur aus der Wirksamkeit eines wahr¬ haft constitutionellen Systems hervorgehen. Das hieß also: die wechselnden Majoritäten des Parlaments müssen die Fortbildung der deutscheu Einheit in die Hand nehmen um Stelle des Schöpfers derselben, der die weitere Berufung zur Thätigkeit an seinem eignen Werke von diesen Majoritäten zu erwarten hat. Alle diese Anführungen beweisen unwiderleglich das eine, daß der Liberalismus wehr und mehr eine Gcgeiistellung gegen den Kanzler annahm, daß er als Ziel dieser Stellung ausdrücklich den Uebergang der politischen Leitung vom Kanzler auf das Parlament, das heißt, nach der allerdings willkürlichen Voraussetzung, uns den Liberalismus proelcunirte. Der Liberalismus also, d. h. uicht verstanden als weltgeschichtliches Prineip, saubern als der concrete Inbegriff seiner derzeitigen Vorkämpfer in Deutschland, hat in das politische Leben des deutschen Volkes das persönliche Element ge¬ bracht. Denn er hat aufgehört, an die Vorschläge des Kanzlers den reinen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/483>, abgerufen am 24.11.2024.