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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

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Das deutsche Lied seit Robert öchmmniu,

bei dieser Forderung nicht weit reichen. Auch das moderne Lied enthält wirk¬
lich "nagelneues" sehr wenig. Ich glaube, daß es in der hier in Rede stehenden
Periode allerdings einmal versucht worden ist, und werde darauf zurückkommen.
Aber etwas nagelneues liegt in jeder Individualität, und deshalb ist es eine
Hauptaufgabe, bei einer Umschau in der Liederproductivn der jüngsten Zeit das
Indiv idnclle a u fz u suchen.

Als Liedereompvnisteu bleiben unter den namhaften Tvnsetzern der jetzigen
Periode nnr noch Max Bruch übrig, der das Beste seines Wesens, eine kräftige
Männlichkeit, namentlich zwei Liedern aufgeprägt hat, die er zu Scheffelscheu
Dichtungen componirt hat: "Bitervlf im Lager vor Mon" und "Herbstzeitreigcu",
und Carl Gvldmark, der prächtige Volkslieder geschrieben hat (in Opus 18),
freilich häufig einen schweren Harmouicharuisch liebt, Richard Wagner hat
sich mit den kleinen Formen nie eingehend eingelassen, etwa so wie Gutzkow
den lyrischen Gedichten ferngeblieben ist. Nur nebenbei sind einige Kleinigkeiten
abgefallen, darunter ist ein "Schlummerlied" bemerkenswerth und namentlich
ein tiefsinniges, gesangvolles Stück, das den Titel "Träume" führt und als
"Studie zu Tristan" bezeichnet ist. F. Kiel, der Komponist des Oratoriums
"Christus", hat Lieder wiederholt veröffentlicht, tritt aber nach dieser Richtung
nicht besonders hervor. A. E. Grell, der Schöpfer mancher mehrstimmigen
Kunstwerke, hat sich mit dein einstimmigen Liede wenig abgegeben. Den gauzeu
Segen seines Strebens leitete Heinrich Bellermann, Grells Schüler, in diese
Gattung. Sein H,ve Nsria, ein Schulstück, trügt die ganze Fülle des altitalie¬
nischen l"öl on-no. Berlin, der Wohnsitz dieser drei letztgenannten Componisten,
welches zu Zeiten Reichnrdts und Zelters, in den Tagen, da die Klopstockscheu
Oden neu waren, in der Licdeomposition tonangebend war, stellt anch heute noch
ein reichliches Contingent von Künstlern auf diesem Felde. Taubert, Eckert (f),
Dorn sind allbekannt, Blnmuer, Radecke, Stern stehen an der Spitze der Jünger",
Prnhn, Leßmann, Wnerst in zweiter Reihe, Wohlklingende, glatte Harmonien,
sangbare Melodien findet man als die lobenswerthen Eigenschaften dieser Berliner
Schule, Individualität, Empfindungswesen, .Phantasie und Geist treten dahinter
zurück. Ab und zu durchbricht wohl einer die Schranken. So L. Estere in
seinem duftigen, graziösen Liede "Bei den Bienenstöcken," Unter den allerjüngsten
begegnet man zwei wahren Talenten, von denen später die Rede sein wird.

Noch ist Carl Grädener, der durch seine Kammermusik bekannt ist, als
Liedereomponist zu erwähnen, Sehr bekannt ist von ihm der "Abendreihn,"
ein oft gesungnes Stück, das seine Wirkung fast nie verfehlt. Sein Effect liegt
im Schluß bei den Worten: "und ist doch kinderleicht" und beruht auf einem
Rückfall aus der Musik in die Prosa, ein Kunstmittel, das dem Componisten
sehr nahezuliegen scheint und dem wir anch im "Traum" (Ur. 5, Opus 50) genau
wieder begegnen. Jener "Abendreihn" ist in einem Chelus von "Reise- und
Wanderliedern" enthalten, in welchem die ersten Nummern besonders hervor-


Das deutsche Lied seit Robert öchmmniu,

bei dieser Forderung nicht weit reichen. Auch das moderne Lied enthält wirk¬
lich „nagelneues" sehr wenig. Ich glaube, daß es in der hier in Rede stehenden
Periode allerdings einmal versucht worden ist, und werde darauf zurückkommen.
Aber etwas nagelneues liegt in jeder Individualität, und deshalb ist es eine
Hauptaufgabe, bei einer Umschau in der Liederproductivn der jüngsten Zeit das
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Als Liedereompvnisteu bleiben unter den namhaften Tvnsetzern der jetzigen
Periode nnr noch Max Bruch übrig, der das Beste seines Wesens, eine kräftige
Männlichkeit, namentlich zwei Liedern aufgeprägt hat, die er zu Scheffelscheu
Dichtungen componirt hat: „Bitervlf im Lager vor Mon" und „Herbstzeitreigcu",
und Carl Gvldmark, der prächtige Volkslieder geschrieben hat (in Opus 18),
freilich häufig einen schweren Harmouicharuisch liebt, Richard Wagner hat
sich mit den kleinen Formen nie eingehend eingelassen, etwa so wie Gutzkow
den lyrischen Gedichten ferngeblieben ist. Nur nebenbei sind einige Kleinigkeiten
abgefallen, darunter ist ein „Schlummerlied" bemerkenswerth und namentlich
ein tiefsinniges, gesangvolles Stück, das den Titel „Träume" führt und als
„Studie zu Tristan" bezeichnet ist. F. Kiel, der Komponist des Oratoriums
„Christus", hat Lieder wiederholt veröffentlicht, tritt aber nach dieser Richtung
nicht besonders hervor. A. E. Grell, der Schöpfer mancher mehrstimmigen
Kunstwerke, hat sich mit dein einstimmigen Liede wenig abgegeben. Den gauzeu
Segen seines Strebens leitete Heinrich Bellermann, Grells Schüler, in diese
Gattung. Sein H,ve Nsria, ein Schulstück, trügt die ganze Fülle des altitalie¬
nischen l»öl on-no. Berlin, der Wohnsitz dieser drei letztgenannten Componisten,
welches zu Zeiten Reichnrdts und Zelters, in den Tagen, da die Klopstockscheu
Oden neu waren, in der Licdeomposition tonangebend war, stellt anch heute noch
ein reichliches Contingent von Künstlern auf diesem Felde. Taubert, Eckert (f),
Dorn sind allbekannt, Blnmuer, Radecke, Stern stehen an der Spitze der Jünger»,
Prnhn, Leßmann, Wnerst in zweiter Reihe, Wohlklingende, glatte Harmonien,
sangbare Melodien findet man als die lobenswerthen Eigenschaften dieser Berliner
Schule, Individualität, Empfindungswesen, .Phantasie und Geist treten dahinter
zurück. Ab und zu durchbricht wohl einer die Schranken. So L. Estere in
seinem duftigen, graziösen Liede „Bei den Bienenstöcken," Unter den allerjüngsten
begegnet man zwei wahren Talenten, von denen später die Rede sein wird.

Noch ist Carl Grädener, der durch seine Kammermusik bekannt ist, als
Liedereomponist zu erwähnen, Sehr bekannt ist von ihm der „Abendreihn,"
ein oft gesungnes Stück, das seine Wirkung fast nie verfehlt. Sein Effect liegt
im Schluß bei den Worten: „und ist doch kinderleicht" und beruht auf einem
Rückfall aus der Musik in die Prosa, ein Kunstmittel, das dem Componisten
sehr nahezuliegen scheint und dem wir anch im „Traum" (Ur. 5, Opus 50) genau
wieder begegnen. Jener „Abendreihn" ist in einem Chelus von „Reise- und
Wanderliedern" enthalten, in welchem die ersten Nummern besonders hervor-


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[0044] Das deutsche Lied seit Robert öchmmniu, bei dieser Forderung nicht weit reichen. Auch das moderne Lied enthält wirk¬ lich „nagelneues" sehr wenig. Ich glaube, daß es in der hier in Rede stehenden Periode allerdings einmal versucht worden ist, und werde darauf zurückkommen. Aber etwas nagelneues liegt in jeder Individualität, und deshalb ist es eine Hauptaufgabe, bei einer Umschau in der Liederproductivn der jüngsten Zeit das Indiv idnclle a u fz u suchen. Als Liedereompvnisteu bleiben unter den namhaften Tvnsetzern der jetzigen Periode nnr noch Max Bruch übrig, der das Beste seines Wesens, eine kräftige Männlichkeit, namentlich zwei Liedern aufgeprägt hat, die er zu Scheffelscheu Dichtungen componirt hat: „Bitervlf im Lager vor Mon" und „Herbstzeitreigcu", und Carl Gvldmark, der prächtige Volkslieder geschrieben hat (in Opus 18), freilich häufig einen schweren Harmouicharuisch liebt, Richard Wagner hat sich mit den kleinen Formen nie eingehend eingelassen, etwa so wie Gutzkow den lyrischen Gedichten ferngeblieben ist. Nur nebenbei sind einige Kleinigkeiten abgefallen, darunter ist ein „Schlummerlied" bemerkenswerth und namentlich ein tiefsinniges, gesangvolles Stück, das den Titel „Träume" führt und als „Studie zu Tristan" bezeichnet ist. F. Kiel, der Komponist des Oratoriums „Christus", hat Lieder wiederholt veröffentlicht, tritt aber nach dieser Richtung nicht besonders hervor. A. E. Grell, der Schöpfer mancher mehrstimmigen Kunstwerke, hat sich mit dein einstimmigen Liede wenig abgegeben. Den gauzeu Segen seines Strebens leitete Heinrich Bellermann, Grells Schüler, in diese Gattung. Sein H,ve Nsria, ein Schulstück, trügt die ganze Fülle des altitalie¬ nischen l»öl on-no. Berlin, der Wohnsitz dieser drei letztgenannten Componisten, welches zu Zeiten Reichnrdts und Zelters, in den Tagen, da die Klopstockscheu Oden neu waren, in der Licdeomposition tonangebend war, stellt anch heute noch ein reichliches Contingent von Künstlern auf diesem Felde. Taubert, Eckert (f), Dorn sind allbekannt, Blnmuer, Radecke, Stern stehen an der Spitze der Jünger», Prnhn, Leßmann, Wnerst in zweiter Reihe, Wohlklingende, glatte Harmonien, sangbare Melodien findet man als die lobenswerthen Eigenschaften dieser Berliner Schule, Individualität, Empfindungswesen, .Phantasie und Geist treten dahinter zurück. Ab und zu durchbricht wohl einer die Schranken. So L. Estere in seinem duftigen, graziösen Liede „Bei den Bienenstöcken," Unter den allerjüngsten begegnet man zwei wahren Talenten, von denen später die Rede sein wird. Noch ist Carl Grädener, der durch seine Kammermusik bekannt ist, als Liedereomponist zu erwähnen, Sehr bekannt ist von ihm der „Abendreihn," ein oft gesungnes Stück, das seine Wirkung fast nie verfehlt. Sein Effect liegt im Schluß bei den Worten: „und ist doch kinderleicht" und beruht auf einem Rückfall aus der Musik in die Prosa, ein Kunstmittel, das dem Componisten sehr nahezuliegen scheint und dem wir anch im „Traum" (Ur. 5, Opus 50) genau wieder begegnen. Jener „Abendreihn" ist in einem Chelus von „Reise- und Wanderliedern" enthalten, in welchem die ersten Nummern besonders hervor-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/44>, abgerufen am 01.09.2024.