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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

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?cis deiitschc Lied seit Robert Kchnnuinn,

positiv" von Riickerts "An den Sturmwind" zu erwähnen, in der ein hausendes
und brausendes Claviermvtiv sehr mächtig wirkt.

Ein geborner Liederevmponist ist Albert Dietrich, dessen Sinfonie (in
l)-moll) die Freundschaft aller derer gewonnen hat, welche für weiche Schwär¬
merei, für die Ueberschwenglichkeit, für das Sehnen und Träumen des jugend¬
lichen Herzen empfänglich sind. In den Liedern des Komponisten tritt seine Per¬
sönlichkeit nicht von dieser Seite hervor, wohl aber tragen sie alle den Stempel
eines lebendigen und starken Künstlergeistes, Man braucht nur etliche Nummern wie
"Sie ist der Lenz", "Wo weilst dn noch immer", "Du bist ja mein" anzusehen,
um zu wissen, daß hier Herz und Phantasie jeden Angenblick zu einem genialen
Aufschwung bereit sind. Wenn er am Schluß der letztgenannten Nummer noch
einmal ruft "Du bist ja mein," wie stürzt das mächtig über die ganze Cvm-
Pvsition weg. Darin liegt die Elementarkraft eines lange zurückgehaltneu HerzcnS-
schreis. Das ist so eine Kleinigkeit, die aber eben nur dem echten Künstlcrgeiste
möglich ist. Von Dietrich tonnen wir nur recht viele Lieder erbitten. Er ist
einer der berufensten Liedereomponisten unter den namhafter" Tvnfctzern der
Gegenwart.

Auch bei Theodor Kirchner ist es zu beklagen, daß er mit Liedern zurück¬
hält. Allgemein bekannt ist seine Composition von "Sie sagen es wäre die
Liebe," mit dein er sich überhaupt als Komponist brillant einführte. Er hat
diesem noch etliche, aber doch nur wenige Hefte nachgeschickt, in denen allen ein
einfach gewählter Ton herrscht, Kirchner ist derjenige unter den Liedereomponisten,
welcher am nächsten an Schumanns Weise erinnert, schon äußerlich in deu Nach¬
spiele" und Zwischenspielen der Lieder, in denen er so ganz der Welt, des Publi-
cums und des Sängers vergißt. Besonders hervorzuheben sind unter seinen
Liedern die Nummer 2 der Mädchenlieder, eine schöne träumerische Composition,
die sich auf einer zarten Claviermnsik dahinwiegt und die Ballade "Zwei Könige"
(Opus 10), die Wege" der R"he der Darstellung, wegen der Sicherheit und Kürze
der Schilderung bewundernswerth ist. "Jeder Zoll ein König" kann man von
ihr sage", in jedem Tacte etwas Gewitterfinstres: die Baßgänge, die Accorde,
die Pause". Alles dient der unheimlichen Spannung, die zum Ganzen gehört.
Ein frisches und leichtes Lied von Kirchner "Du wundersüßes Kind" ist in einer
bei Schloß (in Köln) erschienenen Sammlung enthalten. Demselben hat der
Componist ein Motto vorgeschrieben:


Alwmycr: "Gebt uns ein Lied" --
Mephisto: "Wenn ihr begehrt, die Menge,"

Die Lieder von Kirchner würden wohl immer begehrt sein, wenn nur daS Publicum
erst so gewöhnt wäre, sie zu finden wie seine Klavierstücke, in denen er Specialist
geworden ist. In der betreffenden Stelle aus "Faust" fährt übrigens Sichel
fort: "Nur auch ein nagelneues Stück." Das hat Kirchner nicht mit citirt,
denn die nagelneuen Stücke sind wie die weißen Sperlinge. Die Kunst würde


?cis deiitschc Lied seit Robert Kchnnuinn,

positiv» von Riickerts „An den Sturmwind" zu erwähnen, in der ein hausendes
und brausendes Claviermvtiv sehr mächtig wirkt.

Ein geborner Liederevmponist ist Albert Dietrich, dessen Sinfonie (in
l)-moll) die Freundschaft aller derer gewonnen hat, welche für weiche Schwär¬
merei, für die Ueberschwenglichkeit, für das Sehnen und Träumen des jugend¬
lichen Herzen empfänglich sind. In den Liedern des Komponisten tritt seine Per¬
sönlichkeit nicht von dieser Seite hervor, wohl aber tragen sie alle den Stempel
eines lebendigen und starken Künstlergeistes, Man braucht nur etliche Nummern wie
„Sie ist der Lenz", „Wo weilst dn noch immer", „Du bist ja mein" anzusehen,
um zu wissen, daß hier Herz und Phantasie jeden Angenblick zu einem genialen
Aufschwung bereit sind. Wenn er am Schluß der letztgenannten Nummer noch
einmal ruft „Du bist ja mein," wie stürzt das mächtig über die ganze Cvm-
Pvsition weg. Darin liegt die Elementarkraft eines lange zurückgehaltneu HerzcnS-
schreis. Das ist so eine Kleinigkeit, die aber eben nur dem echten Künstlcrgeiste
möglich ist. Von Dietrich tonnen wir nur recht viele Lieder erbitten. Er ist
einer der berufensten Liedereomponisten unter den namhafter» Tvnfctzern der
Gegenwart.

Auch bei Theodor Kirchner ist es zu beklagen, daß er mit Liedern zurück¬
hält. Allgemein bekannt ist seine Composition von „Sie sagen es wäre die
Liebe," mit dein er sich überhaupt als Komponist brillant einführte. Er hat
diesem noch etliche, aber doch nur wenige Hefte nachgeschickt, in denen allen ein
einfach gewählter Ton herrscht, Kirchner ist derjenige unter den Liedereomponisten,
welcher am nächsten an Schumanns Weise erinnert, schon äußerlich in deu Nach¬
spiele» und Zwischenspielen der Lieder, in denen er so ganz der Welt, des Publi-
cums und des Sängers vergißt. Besonders hervorzuheben sind unter seinen
Liedern die Nummer 2 der Mädchenlieder, eine schöne träumerische Composition,
die sich auf einer zarten Claviermnsik dahinwiegt und die Ballade „Zwei Könige"
(Opus 10), die Wege» der R»he der Darstellung, wegen der Sicherheit und Kürze
der Schilderung bewundernswerth ist. „Jeder Zoll ein König" kann man von
ihr sage», in jedem Tacte etwas Gewitterfinstres: die Baßgänge, die Accorde,
die Pause«. Alles dient der unheimlichen Spannung, die zum Ganzen gehört.
Ein frisches und leichtes Lied von Kirchner „Du wundersüßes Kind" ist in einer
bei Schloß (in Köln) erschienenen Sammlung enthalten. Demselben hat der
Componist ein Motto vorgeschrieben:


Alwmycr: „Gebt uns ein Lied" —
Mephisto: „Wenn ihr begehrt, die Menge,"

Die Lieder von Kirchner würden wohl immer begehrt sein, wenn nur daS Publicum
erst so gewöhnt wäre, sie zu finden wie seine Klavierstücke, in denen er Specialist
geworden ist. In der betreffenden Stelle aus „Faust" fährt übrigens Sichel
fort: „Nur auch ein nagelneues Stück." Das hat Kirchner nicht mit citirt,
denn die nagelneuen Stücke sind wie die weißen Sperlinge. Die Kunst würde


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[0043] ?cis deiitschc Lied seit Robert Kchnnuinn, positiv» von Riickerts „An den Sturmwind" zu erwähnen, in der ein hausendes und brausendes Claviermvtiv sehr mächtig wirkt. Ein geborner Liederevmponist ist Albert Dietrich, dessen Sinfonie (in l)-moll) die Freundschaft aller derer gewonnen hat, welche für weiche Schwär¬ merei, für die Ueberschwenglichkeit, für das Sehnen und Träumen des jugend¬ lichen Herzen empfänglich sind. In den Liedern des Komponisten tritt seine Per¬ sönlichkeit nicht von dieser Seite hervor, wohl aber tragen sie alle den Stempel eines lebendigen und starken Künstlergeistes, Man braucht nur etliche Nummern wie „Sie ist der Lenz", „Wo weilst dn noch immer", „Du bist ja mein" anzusehen, um zu wissen, daß hier Herz und Phantasie jeden Angenblick zu einem genialen Aufschwung bereit sind. Wenn er am Schluß der letztgenannten Nummer noch einmal ruft „Du bist ja mein," wie stürzt das mächtig über die ganze Cvm- Pvsition weg. Darin liegt die Elementarkraft eines lange zurückgehaltneu HerzcnS- schreis. Das ist so eine Kleinigkeit, die aber eben nur dem echten Künstlcrgeiste möglich ist. Von Dietrich tonnen wir nur recht viele Lieder erbitten. Er ist einer der berufensten Liedereomponisten unter den namhafter» Tvnfctzern der Gegenwart. Auch bei Theodor Kirchner ist es zu beklagen, daß er mit Liedern zurück¬ hält. Allgemein bekannt ist seine Composition von „Sie sagen es wäre die Liebe," mit dein er sich überhaupt als Komponist brillant einführte. Er hat diesem noch etliche, aber doch nur wenige Hefte nachgeschickt, in denen allen ein einfach gewählter Ton herrscht, Kirchner ist derjenige unter den Liedereomponisten, welcher am nächsten an Schumanns Weise erinnert, schon äußerlich in deu Nach¬ spiele» und Zwischenspielen der Lieder, in denen er so ganz der Welt, des Publi- cums und des Sängers vergißt. Besonders hervorzuheben sind unter seinen Liedern die Nummer 2 der Mädchenlieder, eine schöne träumerische Composition, die sich auf einer zarten Claviermnsik dahinwiegt und die Ballade „Zwei Könige" (Opus 10), die Wege» der R»he der Darstellung, wegen der Sicherheit und Kürze der Schilderung bewundernswerth ist. „Jeder Zoll ein König" kann man von ihr sage», in jedem Tacte etwas Gewitterfinstres: die Baßgänge, die Accorde, die Pause«. Alles dient der unheimlichen Spannung, die zum Ganzen gehört. Ein frisches und leichtes Lied von Kirchner „Du wundersüßes Kind" ist in einer bei Schloß (in Köln) erschienenen Sammlung enthalten. Demselben hat der Componist ein Motto vorgeschrieben: Alwmycr: „Gebt uns ein Lied" — Mephisto: „Wenn ihr begehrt, die Menge," Die Lieder von Kirchner würden wohl immer begehrt sein, wenn nur daS Publicum erst so gewöhnt wäre, sie zu finden wie seine Klavierstücke, in denen er Specialist geworden ist. In der betreffenden Stelle aus „Faust" fährt übrigens Sichel fort: „Nur auch ein nagelneues Stück." Das hat Kirchner nicht mit citirt, denn die nagelneuen Stücke sind wie die weißen Sperlinge. Die Kunst würde

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/43>, abgerufen am 25.11.2024.