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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

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Das deutsche Lied seit Robert Schumann.

treten. Grädeiiers Lieder haben etwas Geistvolles und verrathen einen scharfen
Blick, welcher der Dichtung immer wenigstens ein charakteristisches Motiv ab-
zugewinnen weiß, das sich musikalisch firken läßt und dann energisch durchgeführt
wird. So entnimmt er einer Dichtung über die heilige Nacht eine Nachtigallen¬
scene, eine Stunde im düstern Eichwald veranschaulicht er uns durch das ge-
heimnißvolle leise Rauschen, in dein Liede "Vor Kälte ist die Luft erstarrt" laßt
er uns das Reiten hören, in dem vom Pagen und der .Königstochter läßt er
von Anfang an das Entsetzen des Mordes in einer wilden Figur dnrchklingen.
Für wichtige Wendungen hat er frappante und doch einfache musikalische Striche,
z. V, für die hallmnterdrückte Verzweiflung des unglücklich liebenden einen
Trugschluß. Wo das Gefühl sich allein ergeht oder ausbreiten will, ist Grädener
von dem Vorwurf der Trockenheit nicht ganz frei. Eine auffällige Stelle findet sich
namentlich in der "Velleda", wo er sich von den regelmäßigen Vierteln nicht trennen
kann, obgleich der Dichter Schwingen ansetzt, denen mir ein breiter Gesaug in langen
Tönen entspricht. Wer die "Liebestren" von Brechens kennt, wird sich wundern,
dieses Gedicht bei Grädener als scherzendes Redespiel behandelt zu sehen.

Als Licderevmponist sehr beachtenswert!) erscheint ein Landsmann deS Ge¬
nannten, Cornelius Gurlitt. Er hat sich der plattdeutschen Dichtung an¬
genommen, um welche sich die Componisten im Ganzen wenig gekümmert haben,
(mir von Fritz Becker i" Schwerin ist mir noch ein Heft Lieder in diesem
treuherzigen Dinleete vorgekommen). Die Lieder welche Gurlitt aus Klaus
Groths "Qnickbvrn" entnommen hat, sind aber mit beigesetzten Hochdeutsch ge¬
druckt, und außerdem hat der Componist anch viele hochdeutsche Gedichte in
Musik gesetzt, so daß er allgemein zugänglich ist. Wir lernen in ihm eine Per¬
sönlichkeit kennen, die sich mit bestimmten Grenzen bescheidet, die mit gebrochnen
Herzen und mit starken Leidenschaften nicht anbindet, aber dafür die freundlichen
Scenen des täglichen Lebens mit einer köstlicher Frische und Lebendigkeit und
ganz einfach darzustellen weiß, Gurlitts Lieder haben den einheimelnden Ton
der Kinderwelt und der ländlichen Idylle, nicht in der Auerbachschen Nuance,
wohl aber in der Echtheit Fritz Reuters. Da ist ein Lied darunter, in dein
der Werber sich anschickt, dem Mädchen das Geständniß zu machen. Allemal
wenn er soweit ist, das entscheidende Wort zu sprechen, sagt sie "Jehann, ick
mutt fort." Man braucht nur diese eine Stelle zu sehen in der Mischung von
Liebesdruck und Verschämtheit, die ihr Gurlitt gegeben hat, und man wird mit
dein Componisten Freundschaft schließen. Hervorzuheben ist noch sein prachtvoll
lebendiges, in Lust dahinjagendes "Waldlied" und ein "Regcnlied." Das letztre
ist ein Kindergesang, eine so einfache Melodie, wie sie die Kleinen beim Spielen
gern anstimmen, und ist in das Bereich der Kunst nur dadurch gezogen, daß
der Componist die einzelnen Verse jeden mit einer neuen Begleitung bringt.
Obwohl auch diese Variationen in der elementarsten Weise sich von einander
unterscheiden, ist das Ganze wunderhübsch und richtig kindermäßig.


Das deutsche Lied seit Robert Schumann.

treten. Grädeiiers Lieder haben etwas Geistvolles und verrathen einen scharfen
Blick, welcher der Dichtung immer wenigstens ein charakteristisches Motiv ab-
zugewinnen weiß, das sich musikalisch firken läßt und dann energisch durchgeführt
wird. So entnimmt er einer Dichtung über die heilige Nacht eine Nachtigallen¬
scene, eine Stunde im düstern Eichwald veranschaulicht er uns durch das ge-
heimnißvolle leise Rauschen, in dein Liede „Vor Kälte ist die Luft erstarrt" laßt
er uns das Reiten hören, in dem vom Pagen und der .Königstochter läßt er
von Anfang an das Entsetzen des Mordes in einer wilden Figur dnrchklingen.
Für wichtige Wendungen hat er frappante und doch einfache musikalische Striche,
z. V, für die hallmnterdrückte Verzweiflung des unglücklich liebenden einen
Trugschluß. Wo das Gefühl sich allein ergeht oder ausbreiten will, ist Grädener
von dem Vorwurf der Trockenheit nicht ganz frei. Eine auffällige Stelle findet sich
namentlich in der „Velleda", wo er sich von den regelmäßigen Vierteln nicht trennen
kann, obgleich der Dichter Schwingen ansetzt, denen mir ein breiter Gesaug in langen
Tönen entspricht. Wer die „Liebestren" von Brechens kennt, wird sich wundern,
dieses Gedicht bei Grädener als scherzendes Redespiel behandelt zu sehen.

Als Licderevmponist sehr beachtenswert!) erscheint ein Landsmann deS Ge¬
nannten, Cornelius Gurlitt. Er hat sich der plattdeutschen Dichtung an¬
genommen, um welche sich die Componisten im Ganzen wenig gekümmert haben,
(mir von Fritz Becker i» Schwerin ist mir noch ein Heft Lieder in diesem
treuherzigen Dinleete vorgekommen). Die Lieder welche Gurlitt aus Klaus
Groths „Qnickbvrn" entnommen hat, sind aber mit beigesetzten Hochdeutsch ge¬
druckt, und außerdem hat der Componist anch viele hochdeutsche Gedichte in
Musik gesetzt, so daß er allgemein zugänglich ist. Wir lernen in ihm eine Per¬
sönlichkeit kennen, die sich mit bestimmten Grenzen bescheidet, die mit gebrochnen
Herzen und mit starken Leidenschaften nicht anbindet, aber dafür die freundlichen
Scenen des täglichen Lebens mit einer köstlicher Frische und Lebendigkeit und
ganz einfach darzustellen weiß, Gurlitts Lieder haben den einheimelnden Ton
der Kinderwelt und der ländlichen Idylle, nicht in der Auerbachschen Nuance,
wohl aber in der Echtheit Fritz Reuters. Da ist ein Lied darunter, in dein
der Werber sich anschickt, dem Mädchen das Geständniß zu machen. Allemal
wenn er soweit ist, das entscheidende Wort zu sprechen, sagt sie „Jehann, ick
mutt fort." Man braucht nur diese eine Stelle zu sehen in der Mischung von
Liebesdruck und Verschämtheit, die ihr Gurlitt gegeben hat, und man wird mit
dein Componisten Freundschaft schließen. Hervorzuheben ist noch sein prachtvoll
lebendiges, in Lust dahinjagendes „Waldlied" und ein „Regcnlied." Das letztre
ist ein Kindergesang, eine so einfache Melodie, wie sie die Kleinen beim Spielen
gern anstimmen, und ist in das Bereich der Kunst nur dadurch gezogen, daß
der Componist die einzelnen Verse jeden mit einer neuen Begleitung bringt.
Obwohl auch diese Variationen in der elementarsten Weise sich von einander
unterscheiden, ist das Ganze wunderhübsch und richtig kindermäßig.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/45>, abgerufen am 01.09.2024.