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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

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Zur Charakteristik des Manchesterthums,

keine angemessene Sicherheit gewährt, für einen öffentlichen Beamten, welchem
der Schuldner die Rechnung zur Durchsicht oder Abschätzung vorlege" kann.
Dieser Beamte hat die Befugniß, zu hohe Forderungen nicht bloß zu ermäßigen,
sondern auch zu bestrafen. Ein Passagier oder Emigrant, der an Bord eines
Schiffes geht, um eine lange Seereise anzutreten, kann selten wissen, sür wie
viel Raum, Wasser und Nahrung der Capitän oder Rheder zu sorgen hat, wenn
das Leben oder die Gesundheit der von ihm zu befördernden nicht gefährdet
werden soll. Die Erfahrung hat längst schon gezeigt, daß das Gesetz ihm zu
Hilfe kommen muß. Ein Schiff, das nicht mehr seetüchtig ist, darf nicht mehr
fahren, worüber eine Staatsbehörde bestimmt; denn der Matrose, dessen Leben
sonst in Gefahr kommen würde, hat in der Regel kein Urtheil. Die alten Ge¬
setze verlangte,: vom prakticirenden Arzte den Beweis, daß er seine Wissenschaft
genügend studirt habe. Die Erfahrung hatte erkennen lassen, daß die gewöhn¬
liche Klugheit des Publicums keine Bürgschaft gegen Pfuscherei bot. Die Quack¬
salberei war durch jenes Erforderniß nicht ausgeschlossen, aber wesentlich beschränkt,
da sie mit Strafe bedroht war. Die neuere Gesetzgebung, unter dem Einflüsse
des Manchesterthums mit seiner unbeschränkten Concurrenz, hat diese weise Be¬
schränkung zu großem Schaden der Leichtgläubigen beseitigt.

Im Vorstehenden haben wir nur einige Beispiele der Fürsorge fast aller
Regierungen der civilisirten Staaten aufgezählt, welche dieselben der Gesammt¬
heit oder einzelnen Klassen der Staatsangehörigen gegenüber für unerläßlich er¬
kannt haben. Abschaffung dieser Functionen der Regierung würde fast bei allen
ein Schritt nach rückwärts, aus der Gesittung in die Barbarei sein. Aber unsre
freihändlerischen Doktrinäre sähen es am liebsten, wenn sie alle beseitigt würden
und wenn der Willkür, der Speculation, deren Advocaten sie sind, Thür und
Thor geöffnet würde. Die Schwachen, Armen, Dummen würden dabei von den
Starken, Reichen und Geriebeneu aufgefressen werden. Was schadet's? entgegnet
man uns, wer heißt sie, schwach, arm und dumm sein? Der Staat hat sich
nach unsrer unfehlbaren Theorie einzurichten und zu beschränken. Volle wirth¬
schaftliche Freiheit ist unsre Parole und unser Endziel, und davon lassen wir
uns mit sentimentalen Redensarten nichts abhandeln.

"Was ist die Einmischung der Negierung?

Einfach die concentrirte Wirksamkeit der Klugheit und Macht der ganzen
Gesellschaft auf einen gegebenen Punkt. Ein wechselseitiges Einverstündniß aller,
daß gewisse Dinge zum allgemeinen Besten gethan oder unterlassen werden sollen,
und Erzwingung dieses Einverständnisses. Wie hat man je annehmen können,
daß diese latente, aber höchst energische Kraft unwirksam oder gar schädlich heilt
könne? Weil die Menschen durch Erfahrung belehrt werden müssen -- d. h. erst
zu Grunde gerichtet und dann belehrt. Die Einmischung der Negierung in die
wirthschaftlichen Dinge mag bisweilen falsche Wege eingeschlagen haben oder
mißbraucht worden sein. Aber vom Mißbrauch gegen den Gebrauch zu schließen,


Zur Charakteristik des Manchesterthums,

keine angemessene Sicherheit gewährt, für einen öffentlichen Beamten, welchem
der Schuldner die Rechnung zur Durchsicht oder Abschätzung vorlege» kann.
Dieser Beamte hat die Befugniß, zu hohe Forderungen nicht bloß zu ermäßigen,
sondern auch zu bestrafen. Ein Passagier oder Emigrant, der an Bord eines
Schiffes geht, um eine lange Seereise anzutreten, kann selten wissen, sür wie
viel Raum, Wasser und Nahrung der Capitän oder Rheder zu sorgen hat, wenn
das Leben oder die Gesundheit der von ihm zu befördernden nicht gefährdet
werden soll. Die Erfahrung hat längst schon gezeigt, daß das Gesetz ihm zu
Hilfe kommen muß. Ein Schiff, das nicht mehr seetüchtig ist, darf nicht mehr
fahren, worüber eine Staatsbehörde bestimmt; denn der Matrose, dessen Leben
sonst in Gefahr kommen würde, hat in der Regel kein Urtheil. Die alten Ge¬
setze verlangte,: vom prakticirenden Arzte den Beweis, daß er seine Wissenschaft
genügend studirt habe. Die Erfahrung hatte erkennen lassen, daß die gewöhn¬
liche Klugheit des Publicums keine Bürgschaft gegen Pfuscherei bot. Die Quack¬
salberei war durch jenes Erforderniß nicht ausgeschlossen, aber wesentlich beschränkt,
da sie mit Strafe bedroht war. Die neuere Gesetzgebung, unter dem Einflüsse
des Manchesterthums mit seiner unbeschränkten Concurrenz, hat diese weise Be¬
schränkung zu großem Schaden der Leichtgläubigen beseitigt.

Im Vorstehenden haben wir nur einige Beispiele der Fürsorge fast aller
Regierungen der civilisirten Staaten aufgezählt, welche dieselben der Gesammt¬
heit oder einzelnen Klassen der Staatsangehörigen gegenüber für unerläßlich er¬
kannt haben. Abschaffung dieser Functionen der Regierung würde fast bei allen
ein Schritt nach rückwärts, aus der Gesittung in die Barbarei sein. Aber unsre
freihändlerischen Doktrinäre sähen es am liebsten, wenn sie alle beseitigt würden
und wenn der Willkür, der Speculation, deren Advocaten sie sind, Thür und
Thor geöffnet würde. Die Schwachen, Armen, Dummen würden dabei von den
Starken, Reichen und Geriebeneu aufgefressen werden. Was schadet's? entgegnet
man uns, wer heißt sie, schwach, arm und dumm sein? Der Staat hat sich
nach unsrer unfehlbaren Theorie einzurichten und zu beschränken. Volle wirth¬
schaftliche Freiheit ist unsre Parole und unser Endziel, und davon lassen wir
uns mit sentimentalen Redensarten nichts abhandeln.

„Was ist die Einmischung der Negierung?

Einfach die concentrirte Wirksamkeit der Klugheit und Macht der ganzen
Gesellschaft auf einen gegebenen Punkt. Ein wechselseitiges Einverstündniß aller,
daß gewisse Dinge zum allgemeinen Besten gethan oder unterlassen werden sollen,
und Erzwingung dieses Einverständnisses. Wie hat man je annehmen können,
daß diese latente, aber höchst energische Kraft unwirksam oder gar schädlich heilt
könne? Weil die Menschen durch Erfahrung belehrt werden müssen — d. h. erst
zu Grunde gerichtet und dann belehrt. Die Einmischung der Negierung in die
wirthschaftlichen Dinge mag bisweilen falsche Wege eingeschlagen haben oder
mißbraucht worden sein. Aber vom Mißbrauch gegen den Gebrauch zu schließen,


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[0410] Zur Charakteristik des Manchesterthums, keine angemessene Sicherheit gewährt, für einen öffentlichen Beamten, welchem der Schuldner die Rechnung zur Durchsicht oder Abschätzung vorlege» kann. Dieser Beamte hat die Befugniß, zu hohe Forderungen nicht bloß zu ermäßigen, sondern auch zu bestrafen. Ein Passagier oder Emigrant, der an Bord eines Schiffes geht, um eine lange Seereise anzutreten, kann selten wissen, sür wie viel Raum, Wasser und Nahrung der Capitän oder Rheder zu sorgen hat, wenn das Leben oder die Gesundheit der von ihm zu befördernden nicht gefährdet werden soll. Die Erfahrung hat längst schon gezeigt, daß das Gesetz ihm zu Hilfe kommen muß. Ein Schiff, das nicht mehr seetüchtig ist, darf nicht mehr fahren, worüber eine Staatsbehörde bestimmt; denn der Matrose, dessen Leben sonst in Gefahr kommen würde, hat in der Regel kein Urtheil. Die alten Ge¬ setze verlangte,: vom prakticirenden Arzte den Beweis, daß er seine Wissenschaft genügend studirt habe. Die Erfahrung hatte erkennen lassen, daß die gewöhn¬ liche Klugheit des Publicums keine Bürgschaft gegen Pfuscherei bot. Die Quack¬ salberei war durch jenes Erforderniß nicht ausgeschlossen, aber wesentlich beschränkt, da sie mit Strafe bedroht war. Die neuere Gesetzgebung, unter dem Einflüsse des Manchesterthums mit seiner unbeschränkten Concurrenz, hat diese weise Be¬ schränkung zu großem Schaden der Leichtgläubigen beseitigt. Im Vorstehenden haben wir nur einige Beispiele der Fürsorge fast aller Regierungen der civilisirten Staaten aufgezählt, welche dieselben der Gesammt¬ heit oder einzelnen Klassen der Staatsangehörigen gegenüber für unerläßlich er¬ kannt haben. Abschaffung dieser Functionen der Regierung würde fast bei allen ein Schritt nach rückwärts, aus der Gesittung in die Barbarei sein. Aber unsre freihändlerischen Doktrinäre sähen es am liebsten, wenn sie alle beseitigt würden und wenn der Willkür, der Speculation, deren Advocaten sie sind, Thür und Thor geöffnet würde. Die Schwachen, Armen, Dummen würden dabei von den Starken, Reichen und Geriebeneu aufgefressen werden. Was schadet's? entgegnet man uns, wer heißt sie, schwach, arm und dumm sein? Der Staat hat sich nach unsrer unfehlbaren Theorie einzurichten und zu beschränken. Volle wirth¬ schaftliche Freiheit ist unsre Parole und unser Endziel, und davon lassen wir uns mit sentimentalen Redensarten nichts abhandeln. „Was ist die Einmischung der Negierung? Einfach die concentrirte Wirksamkeit der Klugheit und Macht der ganzen Gesellschaft auf einen gegebenen Punkt. Ein wechselseitiges Einverstündniß aller, daß gewisse Dinge zum allgemeinen Besten gethan oder unterlassen werden sollen, und Erzwingung dieses Einverständnisses. Wie hat man je annehmen können, daß diese latente, aber höchst energische Kraft unwirksam oder gar schädlich heilt könne? Weil die Menschen durch Erfahrung belehrt werden müssen — d. h. erst zu Grunde gerichtet und dann belehrt. Die Einmischung der Negierung in die wirthschaftlichen Dinge mag bisweilen falsche Wege eingeschlagen haben oder mißbraucht worden sein. Aber vom Mißbrauch gegen den Gebrauch zu schließen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/410>, abgerufen am 27.11.2024.