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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

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Zur Lharaktcristik dos Manchesterthums.

ist ein alter und sehr durchsichtiger Sophismus. Wir haben bereits gesehen,
daß nur die Kraft der Regierung die Gesellschaft zusammenhält und den auf¬
lösenden Unfug verhindert, den ein rein natürlicher Stand der Dinge erzeugen
muß. Und wie groß auch die Wohlthaten sind, die uns von der Regierung,
der concentrirten Wirksamkeit der Gesammtheit, jetzt schon zutheil werden, noch
größere stehen uns bevor und zeigen sich bereits am Horizonte in der Gestalt
von Gesetzen zur Befriedigung der Arbeiterklasse. Was die Dampfmaschine in
der praktischen Mechanik wurde, das wird diese kunstreiche concentrirte Wirksam¬
keit einst auf nationalökonomischen Gebiete sein. Hierin und nicht in dem System,
welches das Ist-g-tous verlangt," so sagte unser Engländer schon 1849, "liegt
die wahre Hoffnung unsrer alten Gesellschaft, unsrer gealterten Monarchien."

"Die wahre Ermahnung, die man an unser heutiges Geschlecht richten sollte,"
so schließt unser Autor diesen Abschnitt seiner Kritik der Weisheit von Manchester,
"lautet nicht: "Man regiere nicht zu viel," sondern: "Man regiere nicht zu wenig."
Die Regierung hat (die englische ist gemeint, aber bis vor kurzem galt dies auch
von der unsern) praktisch Verzicht geleistet auf gewisse Functionen, die das Volk
von ihr zu erwarten berechtigt war. Das Staatsschiff wagt jetzt nicht einmal
den Versuch, gegen eine verderbliche Strömung anzukämpfen, sondern überläßt
sich grundsätzlich derselben. Lasse man einen einzelnen sich dem natürlichen Gange
der Ereignisse anbequemen, wir wissen, was aus ihm werden wird. Lasse man
eine Anzahl von Individuen, eine Gemeinde, einen Staat desgleichen thun, ihr
Schicksal wird dasselbe sein."

Die deutsche Regierung, oder reden wir genauer: der Reichskanzler hat dies
erkannt, und das Volk -- das wahre Volk, nicht die Parteien -- beginnt dies
mehr und mehr ebenfalls zu erkennen. Es will regiert werden, es will die
Macht des Staates in wirthschaftlicher Angelegenheit, welche das deutsche Man-
chesterthum in unheilvollster Weise geschwächt hat, als es Oberwasser hatte, wieder
gekräftigt sehen. Zeichen davon waren schon längst zu bemerken. Aber in der
Volksvertretung, im Reichstag und im preußischen Landtage war wenig guter
Wille dazu vorhanden; denn der alte Sauerteig, der von Manchester importirt
war, gohr hier fort, und so stießen die guten Absichten des Kanzlers ans Wider¬
stand, auf Verschleppung oder ungenügende Unterstützung.

Das Volk wird sich das auf die Dauer nicht gefallen lassen, es wird sich
-- vielleicht noch nicht bei der nächsten Gelegenheit, gewiß aber in nicht serner
Zeit -- andre Vertreter wählen, solche, die nicht an das Evangelium des 1"is8ör
kÄrL glauben und nicht die Partei über den Staat und seine Bedürfnisse stellen.
Schon hat sich ein großer Theil der Jugend von dem Liberalismus dieser
Schule abgewandt, und der Ausfall der letzten Wahlen in Sachsen und Baiern
ist ein Fingerzeig, daß auch die ältere Generation einer allmählichen Metamor¬
phose ihrer Meinung von dem, was uns frommte, unterliegt. Die liberalen
deutschen Blatter machen die Neichsregierung für diese Erscheinung verantwortlich.


Zur Lharaktcristik dos Manchesterthums.

ist ein alter und sehr durchsichtiger Sophismus. Wir haben bereits gesehen,
daß nur die Kraft der Regierung die Gesellschaft zusammenhält und den auf¬
lösenden Unfug verhindert, den ein rein natürlicher Stand der Dinge erzeugen
muß. Und wie groß auch die Wohlthaten sind, die uns von der Regierung,
der concentrirten Wirksamkeit der Gesammtheit, jetzt schon zutheil werden, noch
größere stehen uns bevor und zeigen sich bereits am Horizonte in der Gestalt
von Gesetzen zur Befriedigung der Arbeiterklasse. Was die Dampfmaschine in
der praktischen Mechanik wurde, das wird diese kunstreiche concentrirte Wirksam¬
keit einst auf nationalökonomischen Gebiete sein. Hierin und nicht in dem System,
welches das Ist-g-tous verlangt," so sagte unser Engländer schon 1849, „liegt
die wahre Hoffnung unsrer alten Gesellschaft, unsrer gealterten Monarchien."

„Die wahre Ermahnung, die man an unser heutiges Geschlecht richten sollte,"
so schließt unser Autor diesen Abschnitt seiner Kritik der Weisheit von Manchester,
„lautet nicht: «Man regiere nicht zu viel,» sondern: «Man regiere nicht zu wenig.»
Die Regierung hat (die englische ist gemeint, aber bis vor kurzem galt dies auch
von der unsern) praktisch Verzicht geleistet auf gewisse Functionen, die das Volk
von ihr zu erwarten berechtigt war. Das Staatsschiff wagt jetzt nicht einmal
den Versuch, gegen eine verderbliche Strömung anzukämpfen, sondern überläßt
sich grundsätzlich derselben. Lasse man einen einzelnen sich dem natürlichen Gange
der Ereignisse anbequemen, wir wissen, was aus ihm werden wird. Lasse man
eine Anzahl von Individuen, eine Gemeinde, einen Staat desgleichen thun, ihr
Schicksal wird dasselbe sein."

Die deutsche Regierung, oder reden wir genauer: der Reichskanzler hat dies
erkannt, und das Volk — das wahre Volk, nicht die Parteien — beginnt dies
mehr und mehr ebenfalls zu erkennen. Es will regiert werden, es will die
Macht des Staates in wirthschaftlicher Angelegenheit, welche das deutsche Man-
chesterthum in unheilvollster Weise geschwächt hat, als es Oberwasser hatte, wieder
gekräftigt sehen. Zeichen davon waren schon längst zu bemerken. Aber in der
Volksvertretung, im Reichstag und im preußischen Landtage war wenig guter
Wille dazu vorhanden; denn der alte Sauerteig, der von Manchester importirt
war, gohr hier fort, und so stießen die guten Absichten des Kanzlers ans Wider¬
stand, auf Verschleppung oder ungenügende Unterstützung.

Das Volk wird sich das auf die Dauer nicht gefallen lassen, es wird sich
— vielleicht noch nicht bei der nächsten Gelegenheit, gewiß aber in nicht serner
Zeit — andre Vertreter wählen, solche, die nicht an das Evangelium des 1»is8ör
kÄrL glauben und nicht die Partei über den Staat und seine Bedürfnisse stellen.
Schon hat sich ein großer Theil der Jugend von dem Liberalismus dieser
Schule abgewandt, und der Ausfall der letzten Wahlen in Sachsen und Baiern
ist ein Fingerzeig, daß auch die ältere Generation einer allmählichen Metamor¬
phose ihrer Meinung von dem, was uns frommte, unterliegt. Die liberalen
deutschen Blatter machen die Neichsregierung für diese Erscheinung verantwortlich.


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[0411] Zur Lharaktcristik dos Manchesterthums. ist ein alter und sehr durchsichtiger Sophismus. Wir haben bereits gesehen, daß nur die Kraft der Regierung die Gesellschaft zusammenhält und den auf¬ lösenden Unfug verhindert, den ein rein natürlicher Stand der Dinge erzeugen muß. Und wie groß auch die Wohlthaten sind, die uns von der Regierung, der concentrirten Wirksamkeit der Gesammtheit, jetzt schon zutheil werden, noch größere stehen uns bevor und zeigen sich bereits am Horizonte in der Gestalt von Gesetzen zur Befriedigung der Arbeiterklasse. Was die Dampfmaschine in der praktischen Mechanik wurde, das wird diese kunstreiche concentrirte Wirksam¬ keit einst auf nationalökonomischen Gebiete sein. Hierin und nicht in dem System, welches das Ist-g-tous verlangt," so sagte unser Engländer schon 1849, „liegt die wahre Hoffnung unsrer alten Gesellschaft, unsrer gealterten Monarchien." „Die wahre Ermahnung, die man an unser heutiges Geschlecht richten sollte," so schließt unser Autor diesen Abschnitt seiner Kritik der Weisheit von Manchester, „lautet nicht: «Man regiere nicht zu viel,» sondern: «Man regiere nicht zu wenig.» Die Regierung hat (die englische ist gemeint, aber bis vor kurzem galt dies auch von der unsern) praktisch Verzicht geleistet auf gewisse Functionen, die das Volk von ihr zu erwarten berechtigt war. Das Staatsschiff wagt jetzt nicht einmal den Versuch, gegen eine verderbliche Strömung anzukämpfen, sondern überläßt sich grundsätzlich derselben. Lasse man einen einzelnen sich dem natürlichen Gange der Ereignisse anbequemen, wir wissen, was aus ihm werden wird. Lasse man eine Anzahl von Individuen, eine Gemeinde, einen Staat desgleichen thun, ihr Schicksal wird dasselbe sein." Die deutsche Regierung, oder reden wir genauer: der Reichskanzler hat dies erkannt, und das Volk — das wahre Volk, nicht die Parteien — beginnt dies mehr und mehr ebenfalls zu erkennen. Es will regiert werden, es will die Macht des Staates in wirthschaftlicher Angelegenheit, welche das deutsche Man- chesterthum in unheilvollster Weise geschwächt hat, als es Oberwasser hatte, wieder gekräftigt sehen. Zeichen davon waren schon längst zu bemerken. Aber in der Volksvertretung, im Reichstag und im preußischen Landtage war wenig guter Wille dazu vorhanden; denn der alte Sauerteig, der von Manchester importirt war, gohr hier fort, und so stießen die guten Absichten des Kanzlers ans Wider¬ stand, auf Verschleppung oder ungenügende Unterstützung. Das Volk wird sich das auf die Dauer nicht gefallen lassen, es wird sich — vielleicht noch nicht bei der nächsten Gelegenheit, gewiß aber in nicht serner Zeit — andre Vertreter wählen, solche, die nicht an das Evangelium des 1»is8ör kÄrL glauben und nicht die Partei über den Staat und seine Bedürfnisse stellen. Schon hat sich ein großer Theil der Jugend von dem Liberalismus dieser Schule abgewandt, und der Ausfall der letzten Wahlen in Sachsen und Baiern ist ein Fingerzeig, daß auch die ältere Generation einer allmählichen Metamor¬ phose ihrer Meinung von dem, was uns frommte, unterliegt. Die liberalen deutschen Blatter machen die Neichsregierung für diese Erscheinung verantwortlich.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/411>, abgerufen am 01.09.2024.