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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

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Shakespeare in Frankreich.

stände derselben aufmerksam gemacht hatte, und er diesem noch überdies zu Danke
verpflichtet war, das Stück nichtsdestoweniger in seinen OdsgrvMons sur los
Berief as" raoäörnss (16. September 173S) einer sehr scharfen Kritik unterzogen.
Er behauptete, daß dasselbe gegen die guten Sitten verstieße und Brutus darin
die Gefühle eines Quäkers zeige. Voltaire benahm sich in diesem Falle mit
einer ihm sonst nicht eben eignen Mäßigung. "Der Ubbo Desfontaines -- schreibt
er darüber an den Abb6 Asselin unterm 24. Oetober -- hätte dieser Fremden
die Ehren des Landes etwas besser erweisen können. Mir scheint, daß es die
Republik der Wissenschaften bereichern heißt, sein Land mit dem Geschmack seiner
Nachbarn bekannt zu machen," wozu er unterm 4. November hinzufügt, daß
Desfontaines gehalten gewesen wäre, sein Stück als einen Versuch zu behandeln,
den Franzosen einen richtigen Begriff vom Geschmacke der Engländer zu geben.
"Eine Abhandlung über die Verschiedenheit dieses von dem französischen so ver-
schiednen Geschmacks würde eine seiner würdige Aufgabe gewesen sein." Voltaire
erreichte es zwar, daß Desfontaines eine für ihn schmeichelhafte Erklärung erließ,
worauf er freundlich erwiederte, uicht aber ohne mit besondrer Wärme für seinen
Gegenstand einzutreten. "Frankreich -- schrieb er ihm unter andern: -- ist nicht
das einzige Land, wo Tragödien geschrieben werden, und unser Geschmack oder
vielmehr unsre Gewohnheit, nichts als lange Licbesgcspräche auf die Bühne zu
bringen, gefällt nicht bei allen Nationen. Unser Theater ist meist arm an Hand¬
lung und an großen Interessen. Der Grund von ersterem ist, daß die Bühne
von unsern pEtits-omitrss eingenommen wird; der Grund von letzterem aber,
daß unsre Nation solche Interessen nicht kennt. Die Politik gefiel zu Corneilles
Zeit, weil diese von den Kriegen der Fronde erfüllt war. Heute geht man aber
nicht mehr in seine Stücke. Wenn Sie jene ganze Scene von Shake¬
speare so hätten spielen sehen, wie ich sie gesehen und annähernd
übersetzt habe, so würden Ihnen unsre Liebeserklärungen und unsre
Vertrauten recht armselig vorkommen." Gegen diese Ansichten erscheint
freilich das in der Vorrede zu der 1736 erschienenen ersten rechtmäßigen Aus¬
gabe von I^a- mort as Ooskr veröffentlichte Urtheil wieder herabgestimmt. Nach¬
dem Voltaire ein besondres Gewicht darauf gelegt, der erste gewesen zu sein,
welcher die englische Muse den Franzosen empfohlen und seine Freunde zur Er¬
lernung der englischen Sprache ermuntert habe, so daß jetzt die Schriftsteller
meist mit derselben vertraut seien, fährt er hier fort: "Shakespeare war ein großes
Genie, aber er lebte in einem rohen Zeitalter, und man findet in seinen Stücken
mehr noch die Rohheit der Zeit als das Genie des Autors. Statt das un¬
geheuerliche Werk desselben zu übersetzen, hat Herr von Voltaire daher vorge¬
zogen, den "Julius Cäsar" im Geschmack der Engländer selber zu dichten."

Inzwischen hatte der französische Geschmack auch noch von andrer Seite
neue Einwirkungen erfahren. Die sensualistische Philosophie, welche die Sub-
jectivität des Geistes, wenn auch nur auf Seiten des Verstandes entbunden, und


Shakespeare in Frankreich.

stände derselben aufmerksam gemacht hatte, und er diesem noch überdies zu Danke
verpflichtet war, das Stück nichtsdestoweniger in seinen OdsgrvMons sur los
Berief as« raoäörnss (16. September 173S) einer sehr scharfen Kritik unterzogen.
Er behauptete, daß dasselbe gegen die guten Sitten verstieße und Brutus darin
die Gefühle eines Quäkers zeige. Voltaire benahm sich in diesem Falle mit
einer ihm sonst nicht eben eignen Mäßigung. „Der Ubbo Desfontaines — schreibt
er darüber an den Abb6 Asselin unterm 24. Oetober — hätte dieser Fremden
die Ehren des Landes etwas besser erweisen können. Mir scheint, daß es die
Republik der Wissenschaften bereichern heißt, sein Land mit dem Geschmack seiner
Nachbarn bekannt zu machen," wozu er unterm 4. November hinzufügt, daß
Desfontaines gehalten gewesen wäre, sein Stück als einen Versuch zu behandeln,
den Franzosen einen richtigen Begriff vom Geschmacke der Engländer zu geben.
„Eine Abhandlung über die Verschiedenheit dieses von dem französischen so ver-
schiednen Geschmacks würde eine seiner würdige Aufgabe gewesen sein." Voltaire
erreichte es zwar, daß Desfontaines eine für ihn schmeichelhafte Erklärung erließ,
worauf er freundlich erwiederte, uicht aber ohne mit besondrer Wärme für seinen
Gegenstand einzutreten. „Frankreich — schrieb er ihm unter andern: — ist nicht
das einzige Land, wo Tragödien geschrieben werden, und unser Geschmack oder
vielmehr unsre Gewohnheit, nichts als lange Licbesgcspräche auf die Bühne zu
bringen, gefällt nicht bei allen Nationen. Unser Theater ist meist arm an Hand¬
lung und an großen Interessen. Der Grund von ersterem ist, daß die Bühne
von unsern pEtits-omitrss eingenommen wird; der Grund von letzterem aber,
daß unsre Nation solche Interessen nicht kennt. Die Politik gefiel zu Corneilles
Zeit, weil diese von den Kriegen der Fronde erfüllt war. Heute geht man aber
nicht mehr in seine Stücke. Wenn Sie jene ganze Scene von Shake¬
speare so hätten spielen sehen, wie ich sie gesehen und annähernd
übersetzt habe, so würden Ihnen unsre Liebeserklärungen und unsre
Vertrauten recht armselig vorkommen." Gegen diese Ansichten erscheint
freilich das in der Vorrede zu der 1736 erschienenen ersten rechtmäßigen Aus¬
gabe von I^a- mort as Ooskr veröffentlichte Urtheil wieder herabgestimmt. Nach¬
dem Voltaire ein besondres Gewicht darauf gelegt, der erste gewesen zu sein,
welcher die englische Muse den Franzosen empfohlen und seine Freunde zur Er¬
lernung der englischen Sprache ermuntert habe, so daß jetzt die Schriftsteller
meist mit derselben vertraut seien, fährt er hier fort: „Shakespeare war ein großes
Genie, aber er lebte in einem rohen Zeitalter, und man findet in seinen Stücken
mehr noch die Rohheit der Zeit als das Genie des Autors. Statt das un¬
geheuerliche Werk desselben zu übersetzen, hat Herr von Voltaire daher vorge¬
zogen, den »Julius Cäsar« im Geschmack der Engländer selber zu dichten."

Inzwischen hatte der französische Geschmack auch noch von andrer Seite
neue Einwirkungen erfahren. Die sensualistische Philosophie, welche die Sub-
jectivität des Geistes, wenn auch nur auf Seiten des Verstandes entbunden, und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/336>, abgerufen am 25.11.2024.