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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

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Shakespeare in Frankreich.

auf die sinnliche Erfahrung, auf das Studium der Natur als die einzige Quelle
der Erkenntniß verwiesen hatte, rief auch allmählich eine Reaction von Seiten
des Gemüthslebens hervor, welches nun ebenfalls nach Befreiung rang und sich
dabei auf die unveräußerlichen Rechte der Natur berief, was die Entfesselung
und einen Cultus der Empfindungen und Leidenschaften zur Folge hatte. Dem
Skepticismus trat die Sentimentalität zur Seite, und diese verband sich zunächst
mit der von England ausgehenden, dem Gemüthsleben ebenfalls entsprungenen
moralisirenden Richtung, worin dieses letztere zu Gunsten der Sittlichkeit gegen
den Geist der Frivolität reagirte, der damals das Leben, die Dichtung, das
Theater, besonders in England, beherrschte.

Schon oben wurde des Cvllierschen, gegen die Unsittlichkeit der englischen
Bühne gerichteten Buchs gedacht, von welchem 1715 eine französische Uebersetzung
erschienen war. Es scheint hier und dort der Ausgangspunkt dieser neuen Be¬
strebungen gewesen zu sein. Das moralisirende Lustspiel des Cibber und Steele,
das bürgerliche Trauerspiel Lillos trat in England hervor und bediente sich der
Sentimentalität, der Rührung als Hülfsmittel für dramatische und samische
Wirkungen. Wenn auch von England erst angeregt, trat diese neue Richtung
w Frankreich doch mit fast noch größerer Stärke auf. Der Roman Narmrmö
des Destvuches, die Histoirs an Olievickisr ass (Zrisux vt as Nanon I,ö8e.g,ut
des Prsvost ging den Romanen Richardsons noch voraus, und die Sentimen¬
talität, die Empfindung und Leidenschaft gewannen in Rousseau eine Gewalt
des Ausdrucks, die sie in England entfernt nicht erreichten. Rousseaus Geist ent¬
wickelte diesen Cultus der Natur und der Empfindung sogar zu einer Philo¬
sophie, die nicht minder umwälzend ans das Zeitalter einwirkte, als der Skep¬
ticismus und der sich aus ihm entwickelnde Materialismus.

Zunächst trat die Sentimentalität aber auch in Frankreich, besonders was
das Drama betrifft, in milderen Formen auf. Die Franzosen hatten sich zu
wnge in der einseitigen Schule des Verstandes entwickelt, als daß die Empfin¬
dung und Leidenschaft sich schon jetzt in so gewaltigen Ausbrüchen hätten offen¬
baren können. Das sentimentale, sich allmählich zum ernsten, rührenden Drama
mit moralischer Tendenz umbildende Lustspiel, wie es sich in den Händen
des Destvuches und Nivelle de in Chaussee entwickelte, war die Form, in der
sich die Sentimentalität vorerst im Drama hervorwagte. Doch gewann diese
Richtung immer mehr Raum. Selbst Voltaire wurde von ihr erregt, ergriffen,
ja huldigte ihr, obschon dieses neue Drama dem alten classischen doch so feindlich
5u werden drohte. Dies würde befremden müssen, wenn der lehrhafte Zweck
des Dramas, besonders was das Lustspiel betrifft, nicht schon einen Lehrsatz der
"dem akademische" Doctrin gebildet und Voltaire vom Drama nicht einen leben¬
diger" Inhalt als das alte classische bisher gehabt, gefordert hätte. Auch darf
Wohl gesagt werden, daß Voltaire, wenn ihn die Rücksicht auf das Gelehrten-
thum und insbesondre auf die Akademie nicht gehemmt hätte, wohl auch auf


Grenzboten III. 18S1. 42
Shakespeare in Frankreich.

auf die sinnliche Erfahrung, auf das Studium der Natur als die einzige Quelle
der Erkenntniß verwiesen hatte, rief auch allmählich eine Reaction von Seiten
des Gemüthslebens hervor, welches nun ebenfalls nach Befreiung rang und sich
dabei auf die unveräußerlichen Rechte der Natur berief, was die Entfesselung
und einen Cultus der Empfindungen und Leidenschaften zur Folge hatte. Dem
Skepticismus trat die Sentimentalität zur Seite, und diese verband sich zunächst
mit der von England ausgehenden, dem Gemüthsleben ebenfalls entsprungenen
moralisirenden Richtung, worin dieses letztere zu Gunsten der Sittlichkeit gegen
den Geist der Frivolität reagirte, der damals das Leben, die Dichtung, das
Theater, besonders in England, beherrschte.

Schon oben wurde des Cvllierschen, gegen die Unsittlichkeit der englischen
Bühne gerichteten Buchs gedacht, von welchem 1715 eine französische Uebersetzung
erschienen war. Es scheint hier und dort der Ausgangspunkt dieser neuen Be¬
strebungen gewesen zu sein. Das moralisirende Lustspiel des Cibber und Steele,
das bürgerliche Trauerspiel Lillos trat in England hervor und bediente sich der
Sentimentalität, der Rührung als Hülfsmittel für dramatische und samische
Wirkungen. Wenn auch von England erst angeregt, trat diese neue Richtung
w Frankreich doch mit fast noch größerer Stärke auf. Der Roman Narmrmö
des Destvuches, die Histoirs an Olievickisr ass (Zrisux vt as Nanon I,ö8e.g,ut
des Prsvost ging den Romanen Richardsons noch voraus, und die Sentimen¬
talität, die Empfindung und Leidenschaft gewannen in Rousseau eine Gewalt
des Ausdrucks, die sie in England entfernt nicht erreichten. Rousseaus Geist ent¬
wickelte diesen Cultus der Natur und der Empfindung sogar zu einer Philo¬
sophie, die nicht minder umwälzend ans das Zeitalter einwirkte, als der Skep¬
ticismus und der sich aus ihm entwickelnde Materialismus.

Zunächst trat die Sentimentalität aber auch in Frankreich, besonders was
das Drama betrifft, in milderen Formen auf. Die Franzosen hatten sich zu
wnge in der einseitigen Schule des Verstandes entwickelt, als daß die Empfin¬
dung und Leidenschaft sich schon jetzt in so gewaltigen Ausbrüchen hätten offen¬
baren können. Das sentimentale, sich allmählich zum ernsten, rührenden Drama
mit moralischer Tendenz umbildende Lustspiel, wie es sich in den Händen
des Destvuches und Nivelle de in Chaussee entwickelte, war die Form, in der
sich die Sentimentalität vorerst im Drama hervorwagte. Doch gewann diese
Richtung immer mehr Raum. Selbst Voltaire wurde von ihr erregt, ergriffen,
ja huldigte ihr, obschon dieses neue Drama dem alten classischen doch so feindlich
5u werden drohte. Dies würde befremden müssen, wenn der lehrhafte Zweck
des Dramas, besonders was das Lustspiel betrifft, nicht schon einen Lehrsatz der
"dem akademische» Doctrin gebildet und Voltaire vom Drama nicht einen leben¬
diger» Inhalt als das alte classische bisher gehabt, gefordert hätte. Auch darf
Wohl gesagt werden, daß Voltaire, wenn ihn die Rücksicht auf das Gelehrten-
thum und insbesondre auf die Akademie nicht gehemmt hätte, wohl auch auf


Grenzboten III. 18S1. 42
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[0337] Shakespeare in Frankreich. auf die sinnliche Erfahrung, auf das Studium der Natur als die einzige Quelle der Erkenntniß verwiesen hatte, rief auch allmählich eine Reaction von Seiten des Gemüthslebens hervor, welches nun ebenfalls nach Befreiung rang und sich dabei auf die unveräußerlichen Rechte der Natur berief, was die Entfesselung und einen Cultus der Empfindungen und Leidenschaften zur Folge hatte. Dem Skepticismus trat die Sentimentalität zur Seite, und diese verband sich zunächst mit der von England ausgehenden, dem Gemüthsleben ebenfalls entsprungenen moralisirenden Richtung, worin dieses letztere zu Gunsten der Sittlichkeit gegen den Geist der Frivolität reagirte, der damals das Leben, die Dichtung, das Theater, besonders in England, beherrschte. Schon oben wurde des Cvllierschen, gegen die Unsittlichkeit der englischen Bühne gerichteten Buchs gedacht, von welchem 1715 eine französische Uebersetzung erschienen war. Es scheint hier und dort der Ausgangspunkt dieser neuen Be¬ strebungen gewesen zu sein. Das moralisirende Lustspiel des Cibber und Steele, das bürgerliche Trauerspiel Lillos trat in England hervor und bediente sich der Sentimentalität, der Rührung als Hülfsmittel für dramatische und samische Wirkungen. Wenn auch von England erst angeregt, trat diese neue Richtung w Frankreich doch mit fast noch größerer Stärke auf. Der Roman Narmrmö des Destvuches, die Histoirs an Olievickisr ass (Zrisux vt as Nanon I,ö8e.g,ut des Prsvost ging den Romanen Richardsons noch voraus, und die Sentimen¬ talität, die Empfindung und Leidenschaft gewannen in Rousseau eine Gewalt des Ausdrucks, die sie in England entfernt nicht erreichten. Rousseaus Geist ent¬ wickelte diesen Cultus der Natur und der Empfindung sogar zu einer Philo¬ sophie, die nicht minder umwälzend ans das Zeitalter einwirkte, als der Skep¬ ticismus und der sich aus ihm entwickelnde Materialismus. Zunächst trat die Sentimentalität aber auch in Frankreich, besonders was das Drama betrifft, in milderen Formen auf. Die Franzosen hatten sich zu wnge in der einseitigen Schule des Verstandes entwickelt, als daß die Empfin¬ dung und Leidenschaft sich schon jetzt in so gewaltigen Ausbrüchen hätten offen¬ baren können. Das sentimentale, sich allmählich zum ernsten, rührenden Drama mit moralischer Tendenz umbildende Lustspiel, wie es sich in den Händen des Destvuches und Nivelle de in Chaussee entwickelte, war die Form, in der sich die Sentimentalität vorerst im Drama hervorwagte. Doch gewann diese Richtung immer mehr Raum. Selbst Voltaire wurde von ihr erregt, ergriffen, ja huldigte ihr, obschon dieses neue Drama dem alten classischen doch so feindlich 5u werden drohte. Dies würde befremden müssen, wenn der lehrhafte Zweck des Dramas, besonders was das Lustspiel betrifft, nicht schon einen Lehrsatz der "dem akademische» Doctrin gebildet und Voltaire vom Drama nicht einen leben¬ diger» Inhalt als das alte classische bisher gehabt, gefordert hätte. Auch darf Wohl gesagt werden, daß Voltaire, wenn ihn die Rücksicht auf das Gelehrten- thum und insbesondre auf die Akademie nicht gehemmt hätte, wohl auch auf Grenzboten III. 18S1. 42

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/337>, abgerufen am 01.09.2024.