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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

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Shakespeare in Frankreich.

Punkte" schwächlicher erscheint, gehört sie doch zu den lebensvollsten Werken des
französischen Dichters. "Den Engländern," heißt es im ersten Vorwort der¬
selben, "verdanke ich die Kühnheit, auf unsrer Bühne die Namen unsrer Könige
und unsrer alten Geschlechter eingeführt zu haben. Mir scheint, daß diese Neue¬
rung eine ganz neue Gattung der Tragödie hervorrufen könnte, die uns noch
unbekannt ist und deren wir bedürfen." Voltaire befand sich zwar wegen des
Primats dieser Neuerung im Irrthum. Wiederholt und lauge vor ihm hatten
französische Bühnendichter die Stoffe der vaterländischen, ja der unmittelbaren
Zeitgeschichte entnommen. Von Wichtigkeit aber ist, daß er hierzu den Anstoß
nicht von ihnen, sondern, wie er ausdrücklich bekennnt, von der englischen Bühne
empfangen.

Als Voltaire diese Vorrede schrieb, waren seine I-Mros MZlNSW oder
Mlosopniquos (von denen einzelne bis ins Jahr 1726 zurückreichen), wie aus
einem seiner Briefe, vom 24. Februar 1733, an Thirivt hervorgeht, bereits
druckfertig. Obschon sie erst 1734 erschienen, muß die Londoner Ueber¬
setzung derselben im Juli 1733 schou im Drucke vollendet gewesen sein. (Briefe
an Thiriot vom 24. Juli 1733 und vom 28. Juli 1733 an Mr. de Side-
ville.) Die darin enthaltene" Briefe über Shakespeare und das englische Drama
gehören also, wenn anch noch nicht ihrer Wirkung nach, spätestens in diese
Zeit. Am wichtigsten in dieser Beziehung ist hier der 18., den Titel of ig.
IrgMäiö tragende Brief. Hier heißt es: "Shakespeare, welchen die Engländer
für ihren Sophokles halten, schuf ihr Theater; er besaß ein Genie voller Kraft
und Fruchtbarkeit, voll Natur und Erhabenheit, aber ohne den kleinsten Funken
guten Geschmack und ohne die mindeste Kenntniß der Regeln. Ich null einen
gewagten, aber wahren Satz aussprechen: Es ist das Verdienst dieses Autors,
welches das englische Theater zu Grunde gerichtet hat. In seinen ungeheuer¬
lichen Farcen, die man Tragödien genannt, giebt es so schöne Scenen, so gro߬
artige und furchtbare Stellen, daß dieselben immer nur mit dem größten Er¬
folge gespielt wurden. Die Zeit, welche allein den Ruf der Menschen macht,
läßt zuletzt selbst ihre Fehler noch ehrwürdig erscheinen. Die meisten der bi¬
zarren und riesenhaften Gedanken dieses Autors haben in dem Verlaufe von
150 Jahren das Recht erworben, für erhaben zu gelten. Fast alle neueren
Autoren haben ihn nachgeahmt. Was aber bei Shakespeare Erfolg hat, wird
an den heutigen Dichtern verworfen, so daß natürlich die Verehrung für ihn
in dem Maße steigen muß, in dem man die neueren Dichter verachtet. Man
bedenkt aber nicht, daß man ihn eben deshalb nicht nachahmen sollte und der
schlechte Erfolg der Kopisten sich nur daraus erklärt, daß mau ihn für unnach-
ahmbar hält." Diese Stelle muß also früher als die Ag,ir<z geschrieben worden
sein, in welcher doch Voltaire Shakespeare, wenn auch nicht in ebenbürtiger
Weise, so doch immer mit großem Erfolge nachgeahmt hat. Voltaire geht hier¬
auf zur Betrachtung des einzelnen über; er weist auf Hamlet, Julius Cäsar,


Shakespeare in Frankreich.

Punkte» schwächlicher erscheint, gehört sie doch zu den lebensvollsten Werken des
französischen Dichters. „Den Engländern," heißt es im ersten Vorwort der¬
selben, „verdanke ich die Kühnheit, auf unsrer Bühne die Namen unsrer Könige
und unsrer alten Geschlechter eingeführt zu haben. Mir scheint, daß diese Neue¬
rung eine ganz neue Gattung der Tragödie hervorrufen könnte, die uns noch
unbekannt ist und deren wir bedürfen." Voltaire befand sich zwar wegen des
Primats dieser Neuerung im Irrthum. Wiederholt und lauge vor ihm hatten
französische Bühnendichter die Stoffe der vaterländischen, ja der unmittelbaren
Zeitgeschichte entnommen. Von Wichtigkeit aber ist, daß er hierzu den Anstoß
nicht von ihnen, sondern, wie er ausdrücklich bekennnt, von der englischen Bühne
empfangen.

Als Voltaire diese Vorrede schrieb, waren seine I-Mros MZlNSW oder
Mlosopniquos (von denen einzelne bis ins Jahr 1726 zurückreichen), wie aus
einem seiner Briefe, vom 24. Februar 1733, an Thirivt hervorgeht, bereits
druckfertig. Obschon sie erst 1734 erschienen, muß die Londoner Ueber¬
setzung derselben im Juli 1733 schou im Drucke vollendet gewesen sein. (Briefe
an Thiriot vom 24. Juli 1733 und vom 28. Juli 1733 an Mr. de Side-
ville.) Die darin enthaltene» Briefe über Shakespeare und das englische Drama
gehören also, wenn anch noch nicht ihrer Wirkung nach, spätestens in diese
Zeit. Am wichtigsten in dieser Beziehung ist hier der 18., den Titel of ig.
IrgMäiö tragende Brief. Hier heißt es: „Shakespeare, welchen die Engländer
für ihren Sophokles halten, schuf ihr Theater; er besaß ein Genie voller Kraft
und Fruchtbarkeit, voll Natur und Erhabenheit, aber ohne den kleinsten Funken
guten Geschmack und ohne die mindeste Kenntniß der Regeln. Ich null einen
gewagten, aber wahren Satz aussprechen: Es ist das Verdienst dieses Autors,
welches das englische Theater zu Grunde gerichtet hat. In seinen ungeheuer¬
lichen Farcen, die man Tragödien genannt, giebt es so schöne Scenen, so gro߬
artige und furchtbare Stellen, daß dieselben immer nur mit dem größten Er¬
folge gespielt wurden. Die Zeit, welche allein den Ruf der Menschen macht,
läßt zuletzt selbst ihre Fehler noch ehrwürdig erscheinen. Die meisten der bi¬
zarren und riesenhaften Gedanken dieses Autors haben in dem Verlaufe von
150 Jahren das Recht erworben, für erhaben zu gelten. Fast alle neueren
Autoren haben ihn nachgeahmt. Was aber bei Shakespeare Erfolg hat, wird
an den heutigen Dichtern verworfen, so daß natürlich die Verehrung für ihn
in dem Maße steigen muß, in dem man die neueren Dichter verachtet. Man
bedenkt aber nicht, daß man ihn eben deshalb nicht nachahmen sollte und der
schlechte Erfolg der Kopisten sich nur daraus erklärt, daß mau ihn für unnach-
ahmbar hält." Diese Stelle muß also früher als die Ag,ir<z geschrieben worden
sein, in welcher doch Voltaire Shakespeare, wenn auch nicht in ebenbürtiger
Weise, so doch immer mit großem Erfolge nachgeahmt hat. Voltaire geht hier¬
auf zur Betrachtung des einzelnen über; er weist auf Hamlet, Julius Cäsar,


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[0334] Shakespeare in Frankreich. Punkte» schwächlicher erscheint, gehört sie doch zu den lebensvollsten Werken des französischen Dichters. „Den Engländern," heißt es im ersten Vorwort der¬ selben, „verdanke ich die Kühnheit, auf unsrer Bühne die Namen unsrer Könige und unsrer alten Geschlechter eingeführt zu haben. Mir scheint, daß diese Neue¬ rung eine ganz neue Gattung der Tragödie hervorrufen könnte, die uns noch unbekannt ist und deren wir bedürfen." Voltaire befand sich zwar wegen des Primats dieser Neuerung im Irrthum. Wiederholt und lauge vor ihm hatten französische Bühnendichter die Stoffe der vaterländischen, ja der unmittelbaren Zeitgeschichte entnommen. Von Wichtigkeit aber ist, daß er hierzu den Anstoß nicht von ihnen, sondern, wie er ausdrücklich bekennnt, von der englischen Bühne empfangen. Als Voltaire diese Vorrede schrieb, waren seine I-Mros MZlNSW oder Mlosopniquos (von denen einzelne bis ins Jahr 1726 zurückreichen), wie aus einem seiner Briefe, vom 24. Februar 1733, an Thirivt hervorgeht, bereits druckfertig. Obschon sie erst 1734 erschienen, muß die Londoner Ueber¬ setzung derselben im Juli 1733 schou im Drucke vollendet gewesen sein. (Briefe an Thiriot vom 24. Juli 1733 und vom 28. Juli 1733 an Mr. de Side- ville.) Die darin enthaltene» Briefe über Shakespeare und das englische Drama gehören also, wenn anch noch nicht ihrer Wirkung nach, spätestens in diese Zeit. Am wichtigsten in dieser Beziehung ist hier der 18., den Titel of ig. IrgMäiö tragende Brief. Hier heißt es: „Shakespeare, welchen die Engländer für ihren Sophokles halten, schuf ihr Theater; er besaß ein Genie voller Kraft und Fruchtbarkeit, voll Natur und Erhabenheit, aber ohne den kleinsten Funken guten Geschmack und ohne die mindeste Kenntniß der Regeln. Ich null einen gewagten, aber wahren Satz aussprechen: Es ist das Verdienst dieses Autors, welches das englische Theater zu Grunde gerichtet hat. In seinen ungeheuer¬ lichen Farcen, die man Tragödien genannt, giebt es so schöne Scenen, so gro߬ artige und furchtbare Stellen, daß dieselben immer nur mit dem größten Er¬ folge gespielt wurden. Die Zeit, welche allein den Ruf der Menschen macht, läßt zuletzt selbst ihre Fehler noch ehrwürdig erscheinen. Die meisten der bi¬ zarren und riesenhaften Gedanken dieses Autors haben in dem Verlaufe von 150 Jahren das Recht erworben, für erhaben zu gelten. Fast alle neueren Autoren haben ihn nachgeahmt. Was aber bei Shakespeare Erfolg hat, wird an den heutigen Dichtern verworfen, so daß natürlich die Verehrung für ihn in dem Maße steigen muß, in dem man die neueren Dichter verachtet. Man bedenkt aber nicht, daß man ihn eben deshalb nicht nachahmen sollte und der schlechte Erfolg der Kopisten sich nur daraus erklärt, daß mau ihn für unnach- ahmbar hält." Diese Stelle muß also früher als die Ag,ir<z geschrieben worden sein, in welcher doch Voltaire Shakespeare, wenn auch nicht in ebenbürtiger Weise, so doch immer mit großem Erfolge nachgeahmt hat. Voltaire geht hier¬ auf zur Betrachtung des einzelnen über; er weist auf Hamlet, Julius Cäsar,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/334>, abgerufen am 25.11.2024.