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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

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Shakespeare in Frankreich,

ihre besten Dramen mehr "Gespräche über eine Begebenheit, als deren unmittel¬
bare Darstellung" seien. Er macht dafür zum Theil die.Unsitte verantwortlich,
Zuschauer auf der Bühne zu dulden, die aber in Frankreich erst ans der Mitte
des 17. Jahrhunderts stammt und auf dem altenglischen wie dem altspanischen
Theater doch ebenfalls platzgegriffen hatte.

Auf Shakespeares "Julius Cäsar" eingehend aber heißt es: "Mit welchem
Vergnügen habe ich in London die Tragödie "Julius Cäsar" gesehen, die seit
160 Jahren das Entzücken der britischen Nation ist. Ich bin fern davon, die
barbarische Regellosigkeit billigen zu wollen, von der sie angefüllt ist, obwohl
zu bewundern bleibt, daß sich davon nicht mehr in einem Werke findet, welches
in dem Jahrhundert der Unwissenheit von einem Dichter hervorgebracht worden
ist, der nicht einmal lateinisch verstand und dessen einziger Lehrmeister sein Genie
war.... Möglich, daß die Franzosen einen Chor von Arbeitern nicht dulden
würden, noch den blutenden Leichnam Cäsars den Blicken des Volkes unmittelbar
auf der Bühne ausgestellt sehen möchten, noch daß hier das Volk von der
Tribüne herab zur Rache aufgefordert werden dürfte. Es ist der Gebrauch, der
Beherrscher der Welt, der den Geschmack der Nationen verändert und die Gegen¬
stände des Widerwillens in die des Vergnügens verkehrt." "Die Engländer,"
heißt es dann weiter, "halten viel mehr auf Handlung als wir, sie sprechen mehr
als wir zu den Augen; die Franzosen fordern dagegen Eleganz, Harmonie und
den Reiz der Verse. Gewiß ist es schwerer, gut zu schreiben, als Mörder, Rad,
Galgen, Hexen und Geistererscheinuugen auf die Bühne zu bringen. Der "Cato"
des Addison ist die einzige von Anfang bis zu Ende gut geschriebene Tragödie
der Engländer." Schließlich tadelt er noch die falsche und häufige Anwendung,
welche die Franzosen in ihren Tragödien von der Liebe machten. "Die Liebe
in allen Tragödien anzuwenden, zeugt von einem weibischen Geschmack, sie immer
davon auszuschließen, von einer unverständige" Grillenhaftigkeit."

Voltaire hielt es zu dieser Zeit uoch für unmöglich, den Schatten des
Cäsar auf der Bühne erscheinen zu lassen, und in der That hat dieses Wngniß
seine Löimmmis später fast zu Falle gebracht. Doch schreckte er schon weit früher
nicht vor demselben zurück, da er bereits 1732 in seiner LripllM Anwendung
von der Erscheinung eines Geistes gemacht. Es war die erste bedeutendere dra¬
matische Neuerung des französischen Dramas, die unmittelbar auf Shakespeare
zurückgeführt werdeu muß. Sie erinnert durch Nebenumstände noch insbesondre
an Hamlet.

Swr6, welche Voltaire seinem englischen Gastfreunde Falkener widmete, wurde
zwar schon 1732 gegeben, die erste Borrede stammt aber erst aus dem Jahre
^3, die zweite aus dem Jahre 1736. Die ist dasjenige Vvltairische
Stück, auf welches Shakespeare mehr als auf jedes andre eingewirkt hat. Man
hat sie sogar als eine nur den französischem Einheitsgesetzen unterworfene Nach¬
ahmung des "Othello" bezeichnet. Obschon sie mit diesem verglichen fast in allen


Shakespeare in Frankreich,

ihre besten Dramen mehr „Gespräche über eine Begebenheit, als deren unmittel¬
bare Darstellung" seien. Er macht dafür zum Theil die.Unsitte verantwortlich,
Zuschauer auf der Bühne zu dulden, die aber in Frankreich erst ans der Mitte
des 17. Jahrhunderts stammt und auf dem altenglischen wie dem altspanischen
Theater doch ebenfalls platzgegriffen hatte.

Auf Shakespeares „Julius Cäsar" eingehend aber heißt es: „Mit welchem
Vergnügen habe ich in London die Tragödie »Julius Cäsar« gesehen, die seit
160 Jahren das Entzücken der britischen Nation ist. Ich bin fern davon, die
barbarische Regellosigkeit billigen zu wollen, von der sie angefüllt ist, obwohl
zu bewundern bleibt, daß sich davon nicht mehr in einem Werke findet, welches
in dem Jahrhundert der Unwissenheit von einem Dichter hervorgebracht worden
ist, der nicht einmal lateinisch verstand und dessen einziger Lehrmeister sein Genie
war.... Möglich, daß die Franzosen einen Chor von Arbeitern nicht dulden
würden, noch den blutenden Leichnam Cäsars den Blicken des Volkes unmittelbar
auf der Bühne ausgestellt sehen möchten, noch daß hier das Volk von der
Tribüne herab zur Rache aufgefordert werden dürfte. Es ist der Gebrauch, der
Beherrscher der Welt, der den Geschmack der Nationen verändert und die Gegen¬
stände des Widerwillens in die des Vergnügens verkehrt." „Die Engländer,"
heißt es dann weiter, „halten viel mehr auf Handlung als wir, sie sprechen mehr
als wir zu den Augen; die Franzosen fordern dagegen Eleganz, Harmonie und
den Reiz der Verse. Gewiß ist es schwerer, gut zu schreiben, als Mörder, Rad,
Galgen, Hexen und Geistererscheinuugen auf die Bühne zu bringen. Der »Cato«
des Addison ist die einzige von Anfang bis zu Ende gut geschriebene Tragödie
der Engländer." Schließlich tadelt er noch die falsche und häufige Anwendung,
welche die Franzosen in ihren Tragödien von der Liebe machten. „Die Liebe
in allen Tragödien anzuwenden, zeugt von einem weibischen Geschmack, sie immer
davon auszuschließen, von einer unverständige» Grillenhaftigkeit."

Voltaire hielt es zu dieser Zeit uoch für unmöglich, den Schatten des
Cäsar auf der Bühne erscheinen zu lassen, und in der That hat dieses Wngniß
seine Löimmmis später fast zu Falle gebracht. Doch schreckte er schon weit früher
nicht vor demselben zurück, da er bereits 1732 in seiner LripllM Anwendung
von der Erscheinung eines Geistes gemacht. Es war die erste bedeutendere dra¬
matische Neuerung des französischen Dramas, die unmittelbar auf Shakespeare
zurückgeführt werdeu muß. Sie erinnert durch Nebenumstände noch insbesondre
an Hamlet.

Swr6, welche Voltaire seinem englischen Gastfreunde Falkener widmete, wurde
zwar schon 1732 gegeben, die erste Borrede stammt aber erst aus dem Jahre
^3, die zweite aus dem Jahre 1736. Die ist dasjenige Vvltairische
Stück, auf welches Shakespeare mehr als auf jedes andre eingewirkt hat. Man
hat sie sogar als eine nur den französischem Einheitsgesetzen unterworfene Nach¬
ahmung des „Othello" bezeichnet. Obschon sie mit diesem verglichen fast in allen


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[0333] Shakespeare in Frankreich, ihre besten Dramen mehr „Gespräche über eine Begebenheit, als deren unmittel¬ bare Darstellung" seien. Er macht dafür zum Theil die.Unsitte verantwortlich, Zuschauer auf der Bühne zu dulden, die aber in Frankreich erst ans der Mitte des 17. Jahrhunderts stammt und auf dem altenglischen wie dem altspanischen Theater doch ebenfalls platzgegriffen hatte. Auf Shakespeares „Julius Cäsar" eingehend aber heißt es: „Mit welchem Vergnügen habe ich in London die Tragödie »Julius Cäsar« gesehen, die seit 160 Jahren das Entzücken der britischen Nation ist. Ich bin fern davon, die barbarische Regellosigkeit billigen zu wollen, von der sie angefüllt ist, obwohl zu bewundern bleibt, daß sich davon nicht mehr in einem Werke findet, welches in dem Jahrhundert der Unwissenheit von einem Dichter hervorgebracht worden ist, der nicht einmal lateinisch verstand und dessen einziger Lehrmeister sein Genie war.... Möglich, daß die Franzosen einen Chor von Arbeitern nicht dulden würden, noch den blutenden Leichnam Cäsars den Blicken des Volkes unmittelbar auf der Bühne ausgestellt sehen möchten, noch daß hier das Volk von der Tribüne herab zur Rache aufgefordert werden dürfte. Es ist der Gebrauch, der Beherrscher der Welt, der den Geschmack der Nationen verändert und die Gegen¬ stände des Widerwillens in die des Vergnügens verkehrt." „Die Engländer," heißt es dann weiter, „halten viel mehr auf Handlung als wir, sie sprechen mehr als wir zu den Augen; die Franzosen fordern dagegen Eleganz, Harmonie und den Reiz der Verse. Gewiß ist es schwerer, gut zu schreiben, als Mörder, Rad, Galgen, Hexen und Geistererscheinuugen auf die Bühne zu bringen. Der »Cato« des Addison ist die einzige von Anfang bis zu Ende gut geschriebene Tragödie der Engländer." Schließlich tadelt er noch die falsche und häufige Anwendung, welche die Franzosen in ihren Tragödien von der Liebe machten. „Die Liebe in allen Tragödien anzuwenden, zeugt von einem weibischen Geschmack, sie immer davon auszuschließen, von einer unverständige» Grillenhaftigkeit." Voltaire hielt es zu dieser Zeit uoch für unmöglich, den Schatten des Cäsar auf der Bühne erscheinen zu lassen, und in der That hat dieses Wngniß seine Löimmmis später fast zu Falle gebracht. Doch schreckte er schon weit früher nicht vor demselben zurück, da er bereits 1732 in seiner LripllM Anwendung von der Erscheinung eines Geistes gemacht. Es war die erste bedeutendere dra¬ matische Neuerung des französischen Dramas, die unmittelbar auf Shakespeare zurückgeführt werdeu muß. Sie erinnert durch Nebenumstände noch insbesondre an Hamlet. Swr6, welche Voltaire seinem englischen Gastfreunde Falkener widmete, wurde zwar schon 1732 gegeben, die erste Borrede stammt aber erst aus dem Jahre ^3, die zweite aus dem Jahre 1736. Die ist dasjenige Vvltairische Stück, auf welches Shakespeare mehr als auf jedes andre eingewirkt hat. Man hat sie sogar als eine nur den französischem Einheitsgesetzen unterworfene Nach¬ ahmung des „Othello" bezeichnet. Obschon sie mit diesem verglichen fast in allen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/333>, abgerufen am 01.09.2024.