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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

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Shakespeare in Frankreich.

ganz für die überlieferten Regeln ein. Allerdings war es ihm hier hauptsäch¬
lich demum zu thun, La Motte entgegenzutreten, der sich inzwischen erdreistet
hatte, auch einen vscllvö zu veröffentlichen, das einzige Stück, das dieser in
Uebereinstimmung mit seinen dramaturgischen Ansichten in Prosa geschrieben hat.
Voltaire war aber zu sein, um seinen Nebenbuhler unmittelbar in dessen Stücke
selbst anzugreifen, er bekämpfte ihn vielmehr in seiner Doctrin. "Da Herr
de la Motte -- heißt es hier unter anderm -- neue Regeln aufstellt, welche
denjenigen ganz widersprechen, welche unsre großen Meister geleitet haben, so ist
es nur gerecht, diese alten Gesetze zu vertheidige", nicht weil sie alt, sondern
weil sie gut und nothwendig sind und in einen: Manne von seinen Verdiensten
einst einen zu fürchtenden Gegner finden könnten." Nachdem er La Motte, der
an die Stelle der alten drei Einheiten die einzige Einheit des Interesses gesetzt
wissen wollte -- man sieht wie nahe derselbe der Shakespearischen Auffassung
vom Drama schon kam --, hierin zu widerlegen gesucht, verwirft er in der Tragödie
aufs entschiedenste die Prosa, wogegen er sich des Reimes schon eher entschlagen
möchte, wenn dies der Geist und die Natur der französischen Sprache nur irgeud
erlaubte. Auf Shakespeare findet sich hier nur eine einzige Anspielung, welche
diesen noch keineswegs besonders empfiehlt. "Wenn es einmal gestattet wird,
die Handlung über einen Tag auszudehnen und den Ort der Handlung nicht
auf einen bestimmten Raum zu beschränken, so wird man auch bald bei dein alten
englischen "Julius Cäsar" ankommen, in welchen: Cassius und Brutus im ersten
Acte in Rom und im fünften in Thessalien sind."

Noch in demselben Jahre aber erschien der Lruws von Voltaire. Hier,
in dem ihm vorausgeschickten, Lord Bolingbroke gewidmeten DiMvurs sur 1".
wiMcliö läßt sich der Dichter schon ganz anders vernehmen. Er hatte darin die
Prosa jetzt aufgegeben und das Stück in Alexandrinern geschrieben. Nachdem er
den Grund dafür dargelegt, geht er auf die Verschiedenheit des Charakters der
französischen und englischen Sprache ein und äußert dabei: "Der Franzose ist
ein Sclave des Reims und wird, um seine Gedanken auszudrücken, nicht selten
vier Verse nöthig haben, wo der Engländer mir einen einzigen braucht. Dieser
kaun alles sagen, was er will, der Franzose nur das, was er kann." Auch
über die Zulässigkeit der Prosa in der Tragödie spricht er sich hier schou weniger
abweichend aus, nur daß er am Erfolg ihrer Einführung zweifelt. (175V hat
er indeß selber das Trauerspiel Loors-es in Prosa geschrieben.) Er vermißt am
englischen Drama die Reinheit der Sprache, den Stil und die Regelmäßigkeit
der Behandlung, die Wohlanständigkeit der Gegenstände, sowie überhaupt alle
jene Feinheiten, welche den Ruhm des französischen Dramas seit Corneille
bildeten; allein er rühmt an ihm als ein großes Verdienst, welches es vor dem
französischen voraus habe, den Reichthum und die Bedeutung der Handlung; die
"so monströsen" Stücke der Engländer enthielten bewundernswürdige Scenen.
Zu den Fehlern des französischen Theaters rechnet er ferner, daß selbst noch


Shakespeare in Frankreich.

ganz für die überlieferten Regeln ein. Allerdings war es ihm hier hauptsäch¬
lich demum zu thun, La Motte entgegenzutreten, der sich inzwischen erdreistet
hatte, auch einen vscllvö zu veröffentlichen, das einzige Stück, das dieser in
Uebereinstimmung mit seinen dramaturgischen Ansichten in Prosa geschrieben hat.
Voltaire war aber zu sein, um seinen Nebenbuhler unmittelbar in dessen Stücke
selbst anzugreifen, er bekämpfte ihn vielmehr in seiner Doctrin. „Da Herr
de la Motte — heißt es hier unter anderm — neue Regeln aufstellt, welche
denjenigen ganz widersprechen, welche unsre großen Meister geleitet haben, so ist
es nur gerecht, diese alten Gesetze zu vertheidige», nicht weil sie alt, sondern
weil sie gut und nothwendig sind und in einen: Manne von seinen Verdiensten
einst einen zu fürchtenden Gegner finden könnten." Nachdem er La Motte, der
an die Stelle der alten drei Einheiten die einzige Einheit des Interesses gesetzt
wissen wollte — man sieht wie nahe derselbe der Shakespearischen Auffassung
vom Drama schon kam —, hierin zu widerlegen gesucht, verwirft er in der Tragödie
aufs entschiedenste die Prosa, wogegen er sich des Reimes schon eher entschlagen
möchte, wenn dies der Geist und die Natur der französischen Sprache nur irgeud
erlaubte. Auf Shakespeare findet sich hier nur eine einzige Anspielung, welche
diesen noch keineswegs besonders empfiehlt. „Wenn es einmal gestattet wird,
die Handlung über einen Tag auszudehnen und den Ort der Handlung nicht
auf einen bestimmten Raum zu beschränken, so wird man auch bald bei dein alten
englischen „Julius Cäsar" ankommen, in welchen: Cassius und Brutus im ersten
Acte in Rom und im fünften in Thessalien sind."

Noch in demselben Jahre aber erschien der Lruws von Voltaire. Hier,
in dem ihm vorausgeschickten, Lord Bolingbroke gewidmeten DiMvurs sur 1».
wiMcliö läßt sich der Dichter schon ganz anders vernehmen. Er hatte darin die
Prosa jetzt aufgegeben und das Stück in Alexandrinern geschrieben. Nachdem er
den Grund dafür dargelegt, geht er auf die Verschiedenheit des Charakters der
französischen und englischen Sprache ein und äußert dabei: „Der Franzose ist
ein Sclave des Reims und wird, um seine Gedanken auszudrücken, nicht selten
vier Verse nöthig haben, wo der Engländer mir einen einzigen braucht. Dieser
kaun alles sagen, was er will, der Franzose nur das, was er kann." Auch
über die Zulässigkeit der Prosa in der Tragödie spricht er sich hier schou weniger
abweichend aus, nur daß er am Erfolg ihrer Einführung zweifelt. (175V hat
er indeß selber das Trauerspiel Loors-es in Prosa geschrieben.) Er vermißt am
englischen Drama die Reinheit der Sprache, den Stil und die Regelmäßigkeit
der Behandlung, die Wohlanständigkeit der Gegenstände, sowie überhaupt alle
jene Feinheiten, welche den Ruhm des französischen Dramas seit Corneille
bildeten; allein er rühmt an ihm als ein großes Verdienst, welches es vor dem
französischen voraus habe, den Reichthum und die Bedeutung der Handlung; die
„so monströsen" Stücke der Engländer enthielten bewundernswürdige Scenen.
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[0332] Shakespeare in Frankreich. ganz für die überlieferten Regeln ein. Allerdings war es ihm hier hauptsäch¬ lich demum zu thun, La Motte entgegenzutreten, der sich inzwischen erdreistet hatte, auch einen vscllvö zu veröffentlichen, das einzige Stück, das dieser in Uebereinstimmung mit seinen dramaturgischen Ansichten in Prosa geschrieben hat. Voltaire war aber zu sein, um seinen Nebenbuhler unmittelbar in dessen Stücke selbst anzugreifen, er bekämpfte ihn vielmehr in seiner Doctrin. „Da Herr de la Motte — heißt es hier unter anderm — neue Regeln aufstellt, welche denjenigen ganz widersprechen, welche unsre großen Meister geleitet haben, so ist es nur gerecht, diese alten Gesetze zu vertheidige», nicht weil sie alt, sondern weil sie gut und nothwendig sind und in einen: Manne von seinen Verdiensten einst einen zu fürchtenden Gegner finden könnten." Nachdem er La Motte, der an die Stelle der alten drei Einheiten die einzige Einheit des Interesses gesetzt wissen wollte — man sieht wie nahe derselbe der Shakespearischen Auffassung vom Drama schon kam —, hierin zu widerlegen gesucht, verwirft er in der Tragödie aufs entschiedenste die Prosa, wogegen er sich des Reimes schon eher entschlagen möchte, wenn dies der Geist und die Natur der französischen Sprache nur irgeud erlaubte. Auf Shakespeare findet sich hier nur eine einzige Anspielung, welche diesen noch keineswegs besonders empfiehlt. „Wenn es einmal gestattet wird, die Handlung über einen Tag auszudehnen und den Ort der Handlung nicht auf einen bestimmten Raum zu beschränken, so wird man auch bald bei dein alten englischen „Julius Cäsar" ankommen, in welchen: Cassius und Brutus im ersten Acte in Rom und im fünften in Thessalien sind." Noch in demselben Jahre aber erschien der Lruws von Voltaire. Hier, in dem ihm vorausgeschickten, Lord Bolingbroke gewidmeten DiMvurs sur 1». wiMcliö läßt sich der Dichter schon ganz anders vernehmen. Er hatte darin die Prosa jetzt aufgegeben und das Stück in Alexandrinern geschrieben. Nachdem er den Grund dafür dargelegt, geht er auf die Verschiedenheit des Charakters der französischen und englischen Sprache ein und äußert dabei: „Der Franzose ist ein Sclave des Reims und wird, um seine Gedanken auszudrücken, nicht selten vier Verse nöthig haben, wo der Engländer mir einen einzigen braucht. Dieser kaun alles sagen, was er will, der Franzose nur das, was er kann." Auch über die Zulässigkeit der Prosa in der Tragödie spricht er sich hier schou weniger abweichend aus, nur daß er am Erfolg ihrer Einführung zweifelt. (175V hat er indeß selber das Trauerspiel Loors-es in Prosa geschrieben.) Er vermißt am englischen Drama die Reinheit der Sprache, den Stil und die Regelmäßigkeit der Behandlung, die Wohlanständigkeit der Gegenstände, sowie überhaupt alle jene Feinheiten, welche den Ruhm des französischen Dramas seit Corneille bildeten; allein er rühmt an ihm als ein großes Verdienst, welches es vor dem französischen voraus habe, den Reichthum und die Bedeutung der Handlung; die „so monströsen" Stücke der Engländer enthielten bewundernswürdige Scenen. Zu den Fehlern des französischen Theaters rechnet er ferner, daß selbst noch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/332>, abgerufen am 01.09.2024.