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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

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Aus Christian Gottfried Körners Reisetagebiichern.

Wahrheit, Anstand und Geschmack, vielleicht weil man die Aeteurs für kalt ge¬
halten haben würde, wenn sie sich weniger überschrieen und den Ausdruck nicht
in earrieaturmäßigen Verrenkungen gesucht hätten. Der Tanz im Ballet war
ohne Grazie und für Frauenzimmer zum Theil unanständig." Graf Schönburg
ging von Amsterdam nach dem Haag zurück, Körner wieder nach Rotterdam
und Gonda. Am 24, Oetober vereinigten sich die Reisenden wieder. Aber sie
sollten trotz all ihrer guten Vorsätze nicht so rasch aus den vereinigten Provinzen
hinwegkommen, als sie gemeint hatten. Der amerikanische Befreiungskrieg und
das Eingreife" Frankreichs in denselben machten das Meer selbst für den ein¬
fachsten Verkehr unsicher. "Den 26. Oetober," heißt es im Tagebuche, "gingen
wir mit einer Yacht nach Helvoetsluhs ab, alles dessen ungeachtet, was mau
uns von französischen Kapern gesagt hatte, weil der Weg über Ostende zu weit
und von einem Kaper nichts zu fürchte" war, als nach Dünkirchen in die Nahe
von Ostende gebracht zu werden. Allein der Krieg hatte dennoch die Wirkung,
daß die Capitäne der Paketboote aus Furcht ihre Schiffe zu verlieren nnr mit
dem besten möglichen Winde aussegeln wollten, der in dieser Jahreszeit sehr
selten ist. Dies machte, daß wir bis zum 7. November hier bleiben mußten,
da wir endlich ein holländisches Fischerboot für 20 Guineen miethete" und mit
ihm den 9, November zu Dover anstatt zu Harwich wegen widrigen Windes
ankamen. In Helvoetsluhs ist gar nichts merkwürdiges. Wir besahen eines von
den zehn holländischen Kriegsschiffen, die jetzt wegen des Krieges vor diesem Hafen
liegen. Auf der See waren wir alle krank und befanden uns am besten, wem?
wir ruhig in der Kajüte lagen."

Am 11. November kam Körner mit dem Grafen Schönburg in London an,
trat zuerst im Royal Hotel (Pallmall) ub, dann richteten sich beide in einer
Privatwohnung Se, James-Street für einen monatelangen Aufenthalt in der
"'glischcn Hauptstadt ein. Es waren Monate voll mannichfaltiger, mächtiger,
dem Deutschen jeuer Zeit völlig neuer Eindrücke. Ganz Deutschland hatte im
letzten Drittel des 18. Jahrhunderts noch keine eigentliche Großstadt, geschweige
denn einen Central- und Verkehrspunkt, welcher mit London auch nur entfernt zu
vergleichen gewesen wäre, auszuweisen. Es war also natürlich, daß die massen¬
haften u"d neuen Anregungen Körner für kurze Zeit betäubten. Aber mit der
""uzen klaren Tüchtigkeit seines Wesens findet er sich rasch in den englischen
Zuständen zurecht, und indem er sich über die großen Verhältnisse der Politik
">>d des Handels, über Volksart und Volkssitte, und dann Schritt für Schritt
"r der ungeheuern Stadt selbst zu orientiren sucht, setzt er gewissen Erscheinungen
namentlich sein ästhetisches Bewußtsein entgegen und läßt sich nicht imponiren.
Das englische Schauspiel der Zeit erfreute ihn nicht eben mehr als das holländische,
gleich in den ersten Tagen bemerkt er, daß das Theater in keiner sonderlichen
Blüthe steh/. Man declamirt zum Theil unnatürlich langsam. Die Frauen-
?>""mer waren kalt und hatten wenig Anstand. Eine Farce, worin viel geprügelt,


Grenzboten III, 1831. ^
Aus Christian Gottfried Körners Reisetagebiichern.

Wahrheit, Anstand und Geschmack, vielleicht weil man die Aeteurs für kalt ge¬
halten haben würde, wenn sie sich weniger überschrieen und den Ausdruck nicht
in earrieaturmäßigen Verrenkungen gesucht hätten. Der Tanz im Ballet war
ohne Grazie und für Frauenzimmer zum Theil unanständig." Graf Schönburg
ging von Amsterdam nach dem Haag zurück, Körner wieder nach Rotterdam
und Gonda. Am 24, Oetober vereinigten sich die Reisenden wieder. Aber sie
sollten trotz all ihrer guten Vorsätze nicht so rasch aus den vereinigten Provinzen
hinwegkommen, als sie gemeint hatten. Der amerikanische Befreiungskrieg und
das Eingreife« Frankreichs in denselben machten das Meer selbst für den ein¬
fachsten Verkehr unsicher. „Den 26. Oetober," heißt es im Tagebuche, „gingen
wir mit einer Yacht nach Helvoetsluhs ab, alles dessen ungeachtet, was mau
uns von französischen Kapern gesagt hatte, weil der Weg über Ostende zu weit
und von einem Kaper nichts zu fürchte» war, als nach Dünkirchen in die Nahe
von Ostende gebracht zu werden. Allein der Krieg hatte dennoch die Wirkung,
daß die Capitäne der Paketboote aus Furcht ihre Schiffe zu verlieren nnr mit
dem besten möglichen Winde aussegeln wollten, der in dieser Jahreszeit sehr
selten ist. Dies machte, daß wir bis zum 7. November hier bleiben mußten,
da wir endlich ein holländisches Fischerboot für 20 Guineen miethete» und mit
ihm den 9, November zu Dover anstatt zu Harwich wegen widrigen Windes
ankamen. In Helvoetsluhs ist gar nichts merkwürdiges. Wir besahen eines von
den zehn holländischen Kriegsschiffen, die jetzt wegen des Krieges vor diesem Hafen
liegen. Auf der See waren wir alle krank und befanden uns am besten, wem?
wir ruhig in der Kajüte lagen."

Am 11. November kam Körner mit dem Grafen Schönburg in London an,
trat zuerst im Royal Hotel (Pallmall) ub, dann richteten sich beide in einer
Privatwohnung Se, James-Street für einen monatelangen Aufenthalt in der
"'glischcn Hauptstadt ein. Es waren Monate voll mannichfaltiger, mächtiger,
dem Deutschen jeuer Zeit völlig neuer Eindrücke. Ganz Deutschland hatte im
letzten Drittel des 18. Jahrhunderts noch keine eigentliche Großstadt, geschweige
denn einen Central- und Verkehrspunkt, welcher mit London auch nur entfernt zu
vergleichen gewesen wäre, auszuweisen. Es war also natürlich, daß die massen¬
haften u»d neuen Anregungen Körner für kurze Zeit betäubten. Aber mit der
»"uzen klaren Tüchtigkeit seines Wesens findet er sich rasch in den englischen
Zuständen zurecht, und indem er sich über die großen Verhältnisse der Politik
">>d des Handels, über Volksart und Volkssitte, und dann Schritt für Schritt
"r der ungeheuern Stadt selbst zu orientiren sucht, setzt er gewissen Erscheinungen
namentlich sein ästhetisches Bewußtsein entgegen und läßt sich nicht imponiren.
Das englische Schauspiel der Zeit erfreute ihn nicht eben mehr als das holländische,
gleich in den ersten Tagen bemerkt er, daß das Theater in keiner sonderlichen
Blüthe steh/. Man declamirt zum Theil unnatürlich langsam. Die Frauen-
?>"»mer waren kalt und hatten wenig Anstand. Eine Farce, worin viel geprügelt,


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[0257] Aus Christian Gottfried Körners Reisetagebiichern. Wahrheit, Anstand und Geschmack, vielleicht weil man die Aeteurs für kalt ge¬ halten haben würde, wenn sie sich weniger überschrieen und den Ausdruck nicht in earrieaturmäßigen Verrenkungen gesucht hätten. Der Tanz im Ballet war ohne Grazie und für Frauenzimmer zum Theil unanständig." Graf Schönburg ging von Amsterdam nach dem Haag zurück, Körner wieder nach Rotterdam und Gonda. Am 24, Oetober vereinigten sich die Reisenden wieder. Aber sie sollten trotz all ihrer guten Vorsätze nicht so rasch aus den vereinigten Provinzen hinwegkommen, als sie gemeint hatten. Der amerikanische Befreiungskrieg und das Eingreife« Frankreichs in denselben machten das Meer selbst für den ein¬ fachsten Verkehr unsicher. „Den 26. Oetober," heißt es im Tagebuche, „gingen wir mit einer Yacht nach Helvoetsluhs ab, alles dessen ungeachtet, was mau uns von französischen Kapern gesagt hatte, weil der Weg über Ostende zu weit und von einem Kaper nichts zu fürchte» war, als nach Dünkirchen in die Nahe von Ostende gebracht zu werden. Allein der Krieg hatte dennoch die Wirkung, daß die Capitäne der Paketboote aus Furcht ihre Schiffe zu verlieren nnr mit dem besten möglichen Winde aussegeln wollten, der in dieser Jahreszeit sehr selten ist. Dies machte, daß wir bis zum 7. November hier bleiben mußten, da wir endlich ein holländisches Fischerboot für 20 Guineen miethete» und mit ihm den 9, November zu Dover anstatt zu Harwich wegen widrigen Windes ankamen. In Helvoetsluhs ist gar nichts merkwürdiges. Wir besahen eines von den zehn holländischen Kriegsschiffen, die jetzt wegen des Krieges vor diesem Hafen liegen. Auf der See waren wir alle krank und befanden uns am besten, wem? wir ruhig in der Kajüte lagen." Am 11. November kam Körner mit dem Grafen Schönburg in London an, trat zuerst im Royal Hotel (Pallmall) ub, dann richteten sich beide in einer Privatwohnung Se, James-Street für einen monatelangen Aufenthalt in der "'glischcn Hauptstadt ein. Es waren Monate voll mannichfaltiger, mächtiger, dem Deutschen jeuer Zeit völlig neuer Eindrücke. Ganz Deutschland hatte im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts noch keine eigentliche Großstadt, geschweige denn einen Central- und Verkehrspunkt, welcher mit London auch nur entfernt zu vergleichen gewesen wäre, auszuweisen. Es war also natürlich, daß die massen¬ haften u»d neuen Anregungen Körner für kurze Zeit betäubten. Aber mit der »"uzen klaren Tüchtigkeit seines Wesens findet er sich rasch in den englischen Zuständen zurecht, und indem er sich über die großen Verhältnisse der Politik ">>d des Handels, über Volksart und Volkssitte, und dann Schritt für Schritt "r der ungeheuern Stadt selbst zu orientiren sucht, setzt er gewissen Erscheinungen namentlich sein ästhetisches Bewußtsein entgegen und läßt sich nicht imponiren. Das englische Schauspiel der Zeit erfreute ihn nicht eben mehr als das holländische, gleich in den ersten Tagen bemerkt er, daß das Theater in keiner sonderlichen Blüthe steh/. Man declamirt zum Theil unnatürlich langsam. Die Frauen- ?>"»mer waren kalt und hatten wenig Anstand. Eine Farce, worin viel geprügelt, Grenzboten III, 1831. ^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/257>, abgerufen am 01.09.2024.